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Michael Lingner

Vorwort

Radikale Vernunftkritik, wie sie während des letzten Jahrzehnts beinahe zur Mode geworden ist, hat sich bemerkenswerterweise nicht nur gegen die technische Rationalität gerichtet, von der die Vernichtung unserer Existenz ständig als Restrisiko einkalkuliert wird. Ganz im Gegenteil ist die als geistige Grundlage der Moderne geltende Rationalität schlechthin kritisiert worden, also auch die rein reflexive Rationalität, obwohl es ohne sie nicht einmal die bis heute erreichte Freiheit gäbe. Diese Desorientierung der Vernunftkritik mag auf einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Technologie beruhen, da allein sie die von ihr verursachten Katastrophen zu überleben verspricht.

Die antiaufklärerische, den Namen "Kritik" kaum verdienende postmoderne Rhetorik hat mit ihren Schwärmereien etwa von einer "Theorie der Nichttheorie" oder vom "Anderen der Vernunft" besonders die Kunst beeinflußt. Ohne die in allen sonstigen Lebensbereichen immer übermächtigere Zweckrationalität damit etwa kompensieren zu können, hat sich in der Kunst - auf die Phase der Selbstreflektiertheit während der sechziger Jahre folgend - das Bedürfnis nach einer neuen irrational-mythischen Unmittelbarkeit durchgesetzt. Erhaben und genialisch sich gebärdend, hat sie Ausdruck in einem national-expressionistischen, pseudo-primitivistischen oder edel-futuristischen Stil der Malerei gefunden, die momentan sogar auf den Spitzenpositionen im Kunstbetrieb zu finden ist.

Das vorliegende, der Kunstreflexion sich widmende Theoriebuch läuft diesem seine Vernunftfeindlichkeit als Postmodernität zelebrierenden Trend, der mit dem ihm eigenen Gigantismus sprachlose Bewunderung und grundlose Wertschätzung hervorzurufen weiß, ganz und gar zuwider. Denn alle in diesem Buch enthaltenen Texte leisten trotz mancher Unterschiedlichkeit ihres methodischen Ansatzes einen Beitrag zur Erkenntnis der Rationalität des Ästhetischen. Solange man jedoch jede als bloßes Faszinosum funktionierende Kunst favorisiert, wird die Notwendigkeit gedanklicher Anstrengung als Kriterium für Unkünstlerisches schlechthin gelten. Darum muß die Absicht, durch grundlegende Erörterung der Kernbegriffe sich im Kontext aktueller Fragestellungen mit der Kunstkonzeption von F.E. Walther systematisch auseinanderzusetzen, der selber davon ausgeht, daß seine Arbeit "zuallererst von den künstlerischen Ideen her zu verstehen ist", als völlig unzeitgemäß erscheinen.

Aber abgesehen davon, daß Walthers als "schwierig" angesehene Arbeit sich ohne umfassende Reflexion des Kunstbegriffs überhaupt nicht erschließt, kommt auf dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Kunst dem Versuch ihrer theoretischen Vermittlung, wie er hier unternommen wird, höchste Notwendigkeit zu. Nach Niklas Luhmann hat sich das System Kunst nämlich dahin entwickelt, daß es in erster Linie aus Kommunikationen und Argumentationen, nicht mehr aus Werken besteht. Diese haben lediglich noch die Funktion, als Bezugsobjekte für die Kommunikation zu dienen und sie zu initiieren und zu organisieren. Sofern die Werke autonom sind, werden sie letztlich sogar einzig dafür gemacht, Kommunikation zu provozieren, oder entstehen sogar erst - wie bei Walther - in einem kommunikativen Akt. Derart ins Zentrum gerückt; bekommt die Art und Weise der Kommunikation in der modernen Kunst eine ganz wesentliche Bedeutung. Durch die Qualität bestimmter materialer Eigenschaften der Werke wird das, was nun das Künstlerische ausmacht, nicht mehr verbürgt, sondern es ist weitgehend abhängig von der Qualität der Kommunikation, die von Künstlern, Experten und Laien über die Werke geführt wird. Diese können "ohne Diskussion", so die These von Joseph Kosuth, keine Kunst, sondern bestenfalls "rein und einfach Erfahrung" sein.

Wenn das Künstlerische sich als solches erst durch Kommunikationen konstituiert, darf sich selbst die private Kommunikation eigentlich nicht nur im Sinnieren und Plaudern über Preise, Gesinnungen oder Neurosen des Künstlers erschöpfen, soll das Werk nicht auf ein bloß ökonomisches, politisches oder psychologisches Phänomen reduziert werden. Wo aber sogar die journalistische Wiedergabe dieses allgemeinen Geredes und des von jedermann ohnehin selber Gesehenen oder Gewußten als Form öffentlicher Kommunikation über Kunst vorherrscht, geht jede künstlerische Substanz bald völlig verloren. Mit ihr verschwinden faktisch die einzigartigen Denk- und Erfahrungsformen der Kunst, obwohl diese als soziales System perfekt weiter funktionieren mag.

Da heute von einer Positivierung der Kunst, also von ihrer gesellschaftlichen, nicht zuletzt auch kommunikativen "Machbarkeit" auszugehen ist, haben nicht mehr allein die Künstler künstlerische Verantwortung zu tragen. Sie liegt bei allen, die sich an solchen Kommunikationsprozessen beteiligen, die dem System Kunst zuzurechnen sind. Damit zumindest die kunstwissenschaftliche Kommunikation dieser Verantwortung gerecht wird, muß sie selbst gleichsam künstlerisch werden, indem von ihr - wie Martin Warnke es formuliert hat - "künstlernahe oder künstleranaloge Aufgaben" übernommen werden. Damit ist freilich weder gemeint, daß diffizile Interpretationsversuche den künstlerischen Gehalt eines Werkes mit Worten wiedergeben sollen, noch daß Annäherungen an dessen Form durch Ästhetisierung und Poetisierung des Sprechens zu suchen seien. Erforderlich ist statt dessen nicht mehr und nicht weniger, als daß dort, wo es um Kunst gehen soll, auch tatsächlich Kunstfragen thematisiert werden. Sie sind im Bezug auf die jeweils relevante Literatur und auf die konkreten Werkbeispiele in einer Weise zu problematisieren, die einen zwar subjektiven, aber rationalen, über Begründungen laufenden Diskurs ermöglicht. An der Kunst wäre das Modell einer nicht subjektzentrierten, sondern verständigungsorientierten und vernunftbestimmten Kommunikation über Wertfragen zu entwickeln. Daß die Kunst der Moderne dafür durch die ihr innewohnende Ästhetisierung des Denkens und Intellektualisierung des Ästhetischen prädestiniert ist und aufgrund dieser Struktur längst den "vernunftkritischen Gegendiskurs" (Habermas) selbst führt, zeigt mein Einleitungsaufsatz über die "Kunst als Projekt der Aufklärung".

Dieses Buch, das als Pendant zu dem "Zwischen Kern und Mantel" geführten künstlertheoretischen Dialog den kunstwissenschaftlichen Diskurs über den Kunstentwurf von F.E. Walther eröffnen will, verdankt sein Zustandekommen vor allem der Initiative, dem nicht endenden Engagement und der Geduld von Kurt Münger, Winterthur. Darüber hinaus ist vor allem den Autoren für ihre Beiträge und die Bereitschaft zur teilweise langwierigen und schwierigen, aber immer fruchtbaren Zusammenarbeit zu danken. Dem Verleger Helmut Ritter und den beteiligten Ausstellungsinstituten gilt Dank für ihren Mut zum Risiko und die Unterstützung der Publikation, die durch Franz Erhard Walthers Gestaltung Begriffliches und Anschauliches in sich vereint.


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