ask23 > Lingner, Walther: Kunst - Gesellschaft

Michael Lingner, Franz Erhard Walther

Kunst - Gesellschaft

M.L.: Wenn du eben davon gesprochen hast, daß du deinen Kunstentwurf heute lange nicht mehr so rigoros verteidigen mußt wie früher, dann berührst du damit die Problematik der gesellschaftlichen Geltung deiner Arbeit und - ganz grundsätzlich gesehen - die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, womit wir uns im folgenden beschäftigen wollen.

Hat deine Arbeit inzwischen tatsächlich an Geltung gewonnen, so daß du um ihre Durchsetzung nicht mehr kämpfen mußt, oder gilt sie genausoviel oder genausowenig wie früher und ist lediglich selbstverständlicher geworden? Der Geltungsgewinn kann ja durchaus auch die negative Kehrseite haben, daß die Arbeit sozusagen professionell integriert, ja etabliert wird, aber in demselben Maße zugleich ihre allgemeine Brisanz verliert und ignoriert wird.

F.E.W.: Einen prinzipiellen Unterschied zu der früheren Situation, wo meine Arbeit sehr umstritten war, sehe ich immer noch nicht. Gleichgültig hat meine Arbeit die Leute, die sich darum gekümmert haben, nie gelassen. Aber die Grundfragen, die sie eigentlich provoziert, die Erweiterungen, der Zugewinn, all die in ihr steckenden Möglichkeiten sind bis heute nicht wirklich aufgegriffen worden und haben nicht die Wirkungen entfaltet, die ich mir vorgestellt habe und für notwendig hielte. Das hindert mich aber überhaupt nicht, von dem Wert der Sache überzeugt zu sein und sie weiterhin zu vertreten.

M.L.: Wenn ich mich z. B. an die Kritiken und Leserbriefe in der Chonik des Museums Haus Lange erinnere, etwa als Paul Wember zum ersten Mal Y. Klein ausgestellt hat und Publikum wie Presse so reagiert haben, als stünde die kulturelle Existenz des Abendlandes auf dem Spiel, so will mir scheinen, daß die heutige Toleranz gegenüber künstlerischen Erscheinungen keinen gesellschaftlichen Geltungsgewinn von Kunst und Kultur signalisiert, sondern eher das Gegenteil. Es gibt gegenwärtig doch nicht deswegen keine kritischen und engagierten Kontroversen um künstlerische und kulturelle Fragen mehr, weil jetzt plötzlich alles akzeptiert, verstanden und verarbeitet würde, sondern bestenfalls deswegen, weil man sich immer mehr an den experimentellen Charakter der Kunst gewöhnt hat - gerade zu einer Zeit, wo sie weniger experimentell ist denn je.

F.E.W.: Die insgesamt größere Aufgeschlossenheit gegenüber der Kunst muß wohl tatsächlich etwas mit Gewöhnung zu tun haben - auch bei meiner Arbeit, denn ihre Brisanz hat sie ja nicht verloren. Es wird noch immer gefragt, inwiefern denn das, was ich mache, mit Kunst zu tun habe; aber eben ohne den aggressiven Unterton, den es früher gab. Die Schärfe fehlt sicherlich auch deswegen, weil die Leute, die Ende der sechziger Jahre ausschließlich politisch oder sogar parteipolitisch argumentiert haben und teilweise inquisitorisch nach der gesellschaftlichen Relevanz und revolutionären Funktion der Kunst gefragt haben, heute keine Rolle mehr spielen. Außerdem darf man nicht unterschätzen, daß durch die zahlreichen Publikationen zu meiner Arbeit und durch die publizistische Wirkung insgesamt die meisten Leute der Sache irgendwo schon mal begegnet und irgendwie bereits mit ihr vertraut sind, bevor sie in die Ausstellung kommen, so daß die totale Fremdheit und Konfrontation der früheren Jahre kaum noch aufkommt. Vielleicht sind die Leute aber auch nur vorsichtiger geworden und haben aufgrund des Medieneinflusses so etwas wie Respekt. Wenn es allerdings zu dem Punkt kommt, wo man wirklich diskutiert und versucht, gründlicher auf die Sache einzugehen, dann begegne ich demselben alten Unverständnis. Es zeigt sich, daß sich die allgemeinen Kunstvorstellungen eigentlich nicht geändert haben und nach wie vor nur wenige etwas von der Sache haben und ihre mögliche Bedeutung erkennen können.

M.L.: Das Ausmaß der allgemeinen Akzeptierung und auch finanziellen Honorierung deiner Arbeit täuscht also darüber hinweg, daß sich das wirkliche Interesse an ihr immer noch auf einen nur sehr kleinen Kreis beschränkt. Den primären Grund dafür sehe ich weder in der heute gern gepflegten Unverbindlichkeit, mit der Dinge akzeptiert und honoriert werden, noch in der als Toleranz ausgegebenen weitverbreiteten kulturellen Ignoranz, an der gemessen die ,linken' Reaktionen der sechziger Jahre ausgesprochen kunstengagiert waren, sondern Ursache ist der von uns bereits angesprochene Umstand, daß der adäquate Zugang zu deiner Arbeit eines bestimmten begrifflichen Wissens bedarf.

Im Zusammenhang der Thematik von Kunst und Gesellschaft drängt sich da natürlich der Vorwurf auf, daß deine Arbeit, so wie die moderne Kunst überhaupt, elitär sei, weil ihre Aneignung eine gewisse Bildung voraussetzt.

F.E.W.: Meine Erfahrungen sind in dieser Hinsicht ganz anders. Ich habe im vergangenen Jahr im September an einem Symposium in Heidelberg teilgenommen, wo ein ausgewählter Kreis von Natur- und Geisteswissenschaftlern, unter ihnen C. F. von Weizsäcker, etwa eine Woche intensiv über das Thema „Logik und Zeit - Musik und Malerei" diskutiert haben. Ich war eingeladen worden, meine Arbeit vorzustellen, und nachdem mir das - meine ich - ganz gut gelungen war, glaubte ich, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Ausgerechnet in diesem erlauchten Kreis ist meiner Arbeit von einigen Teilnehmern mit Unverständnis und massiven Widerständen in einer Weise begegnet worden, wie ich sie nur aus der Anfangszeit meiner Werksatz-Demonstrationen kennengelernt habe. Wenn ich den Damen und Herren in ihrem naturwissenschaftlichen oder philosophischen Gebiet auf diesem Niveau gekommen wäre, hätten sie mich wahrscheinlich zur humoristischen Einlage erklärt. Sie fühlten sich in ihren Kultur- und Kunstvorstellungen offenbar so stark angegriffen, daß ich das Gefühl hatte, sie würden mein Zeug gern aus dem Fenster schmeißen, wenn sie nur könnten.

Aber das war ja kein Einzelerlebnis. Ähnliches habe ich bei Vorträgen vor Professoren und Stipendiaten der Studienstiftung des Deutschen Volkes erlebt. Die haben einen ebenso festen, hermetischen Kunstbegriff, der durch und durch traditionell ist und den sie durch meine Arbeit nicht in Frage stellen lassen wollen. Offenbar erscheint ihnen die Arbeit als eine bloße Behauptung, über deren Haltlosigkeit sie immer wieder meinen mich belehren zu müssen, wohl weil sie davon ausgehen, es eigentlich besser zu wissen.

Was sie dazu leicht verleitet, ist die vermeintlich banale Erscheinungsform meiner Arbeiten und die Verwendung einfacher Mittel, so daß sie mit den üblichen Interpretationsmethoden, die an der Entschlüsselung verborgener Bedeutungen eingeübt sind, nicht zurechtkommen. Ich habe das Gefühl, wenn ich etwas komplizierter daherkäme, wäre die Bereitschaft zu verstehen größer. Andererseits konnte ich bei den Teilnehmern des Symposiums mit Erstaunen bemerken, daß sie mit so einem Phänomen wie der neuen, ,wilden' Malerei überhaupt keine Probleme haben; vielleicht, weil ihnen diese Formen vertrauter sind.

M.L.: Den Vorwurf des Elitären hast du damit zwar entkräftet, allerdings auf eine etwas zweideutige Weise. Denn man kann nun einerseits den Schluß ziehen, deine Kunst sei nicht nur elitär, sondern sogar trans- oder hyperelitär, weil sich nicht einmal mehr die absolute Bildungselite zu einer angemessenen Auseinandersetzung als fähig erweist. Andererseits kann ich in diesem Umstand aber auch den Zwang und die Chance sehen, elitäre Vorstellungen endgültig zu verabschieden. Denn da die Voraussetzungen für die rechte Rezeption deiner Arbeiten so speziell sind, daß das Vorhandensein von dem, was gemeinhin als Bildung gilt, ebensowenig weiterhilft wie deren Fehlen, ist jedermann gleichermaßen darauf angewiesen, sich die Voraussetzungen für den Zugang zum Werk zu erarbeiten. Im Idealfall müßte jeder vom Künstler geschaffene Gegenstand durch sich selbst die Erarbeitung seiner spezifischen Rezeptionsbedingungen ermöglichen, damit der Allgemeinheitsanspruch der Kunst gewahrt bleiben kann. Aber davon sind wir heute noch weit entfernt. - Wie kommst du mit der gegebenen Situation zurecht, daß das Bildungsbürgertum - im besten Sinne des Wortes - als ideeller Träger forschungsorientierter Kunst ersatzlos ausfällt? Wen oder was kannst du dir als Bezugspunkt für deine Kunst überhaupt noch vorstellen?

F.E.W.: Das ist schwer zu beantworten. Man sollte vielleicht besser fragen, wer sind meine Verbündeten heute? Es mag komisch klingen, aber als meinen besten Verbündeten betrachte ich die Geschichte, weil ich davon überzeugt bin, daß meine Arbeit bzw. was substantiell davon bleiben mag, recht hat. Es gibt aber natürlich auch heute, in der Gegenwart Verbündete, die sich ernsthaft interessieren und mit denen ich wirklich reden kann. So wie wir miteinander sprechen, ist das z. B. auch noch mit einigen wenigen anderen Menschen möglich. Dann treffe ich immer wieder junge Leute, die Kunst machen wollen und auf die meine Arbeit eine merkwürdige Faszination ausübt. Ich habe weiter mit Sammlern und Museumsleuten zu tun, von denen einige, die früher eher ablehnend waren, sich inzwischen sehr intensiv um die Sache kümmern. Und ich kenne einige Publizisten, die ab und zu etwas tun. Aber auch wenn ich - was heute seltener vorkommt - anläßlich von Ausstellungen oder bei Vorträgen über die Arbeiten spreche, ist das Interesse verblüffend groß.

M.L.: Interesse ist unzweifelhaft da. Trotzdem ist jenseits eines engen persönlichen und professionellen Kreises die Wirkung deiner Arbeit auf das Publikum doch relativ gering, und auch künstlerische Konsequenzen sind aus ihr fast überhaupt noch keine gezogen worden.

F.E.W.: Ja, die Sache scheint für das Publikum und für die Künstler nach wie vor sehr fordernd und schwierig zu sein, und es ist natürlich weiterhin ein großes Problem, daß aufs Ganze gesehen sehr wenige Menschen tatsächlich mit den Stücken gearbeitet haben. Wahrscheinlich auch deswegen, weil es nicht leicht ist, gerade an diese Arbeiten, mit denen real gehandelt werden soll, überhaupt ranzukommen. Nur sehr wenige Museen besitzen entsprechende Stücke, und sie werden von ihnen genauso wie von den Sammlern kaum für die Benutzung zur Verfügung gestellt. Ich meine aber, daß man diese Schwierigkeiten nicht als Argument gegen die Sache verwenden sollte.

M.L.: Ich denke, da eine wesentliche Intention deiner Arbeit in der Verallgemeinerung des Ästhetischen besteht, ist die ungenügende Zugänglichkeit schon ein kritischer Punkt. Denn Verallgemeinerung' kann doch nicht nur heißen, daß jedermann der reinen Möglichkeit nach imstande sein soll, ästhetische Erfahrungen zu machen, sondern muß doch bedeuten, daß sie real gemacht werden und in die allgemeine Lebenspraxis tatsächlich auch einfließen können. Diesen Anspruch vertrittst du ja auch selbst.

F.E.W.: Ich finde, es ist ja schon etwas, wenn durch die Arbeiten Mängel und Verarmungen, die in der Gegenwart bestehen, erkennbar werden. Nicht nur Mängel solch grundsätzlicher Art, daß der Mensch heute bestimmte Erfahrungsdimensionen nicht mehr nutzt, vielleicht gar nicht mehr nutzen kann, sondern auch Mängel ganz praktischer Natur. Aufgrund der sehr elementaren Erfahrungen etwa mit Raum, seinen Proportionen und Maßen, die meine Arbeiten ermöglichen, habe ich z.B. immer wieder erlebt, daß Menschen nun Straßen, Plätze und Häuser völlig anders angucken und darüber kritisch nachzudenken beginnen. Ich bin froh, daß es gerade auch Architekturstudenten sind, die von solchen Erfahrungen berichten.

Dies ist ein Beispiel für die praktische Wirkung und Anwendung meiner Arbeit. Aber im Prinzip ist es schon so, daß mir das sinnvolle Reagieren auf frühere künstlerische Entwürfe, die Erhaltung der geschichtlichen Kontinuität, die historische Richtigkeit meiner Arbeit das Wichtigste ist, weil nur davon eine anhaltende und tiefgreifende Wirkung ausgehen kann. In den zwanziger Jahren ist beispielsweise von Künstlern wie Grosz und auch Dix, die Themen der Straße und der Politik direkt in ihre Bilder hineingenommen haben, dem Mondrian vorgeworfen worden, was er mache, sei

Elfenbeinturmkunst und reine Selbstbefriedigung. Von heute aus gesehen besteht jedoch an der ungleich größeren Wichtigkeit und Wirksamkeit des Werkes von Mondrian kaum Zweifel. Dies sage ich, obwohl ich den Grosz der zwanziger Jahre wunderbar finde.

M.L.: Du vertrittst damit die klassische Position der Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts, nach der die zeitgenössische Bedeutung avantgardistischer Kunst mehr oder minder aus der rein künstlerischen Wertschätzung und Übereinkunft eines kleinen Kreises von gleichermaßen Interessierten wie Informierten besteht und ihre gesellschaftliche Wirksamkeit sich erst später entfaltet. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, daß diejenige Kunst, die am meisten ihrer eigengesetzlichen Entwicklung gefolgt ist und insofern künstlerisch die ,richtige' ist, auch gesellschaftlich gesehen die fortschrittlichste und gichtigste' ist.

F.E.W.: Ja, das meine ich und denke, daß alle Kunst so sein müßte und eigentlich auch so ist. Ich kenne jedenfalls kaum Beispiele, wo das, was wir historische Richtigkeit genannt haben, mit unmittelbar aktueller Wirkung einhergeht. Sicher, es gibt Daumier oder Barlach und Käthe Kollwitz sowie Heartfield, die Dadaisten und die Mexikaner Orozco, Siqueiros, Rivera. Aber es ist fraglich, ob das, was sie möglicherweise an unmittelbarer politischer Wirkung erzielt haben, sich wirklich dem Einsatz künstlerischer Mittel verdankt ...

M.L.: ... Und ob die Verwendung dieser Mittel antiquiert oder aber auf der Höhe des künstlerischen Entwicklungsstandes war. Daß etwa wie bei Heartfield die radikale politische Auseinandersetzung auch mit den radikalsten künstlerischen Mitteln geführt wurde, bleibt die Ausnahme und ein ausgesprochener Glücksfall. Und selbst bei ihm wie bei den Dadaisten überhaupt ist die Tragik, daß sie - nüchtern und realpolitisch betrachtet - den Untergang der Weimarer Republik nicht nur nicht verhindert, sonder eher gefördert haben. Die reale, sozusagen tagespolitische Wirkung von Kunst ist bis heute äußerst heikel und oft fatal. Das soll aber keineswegs prinzipiell gegen die gesellschaftliche Orientierung der Kunst sprechen. Vielmehr stellt sich gerade angesichts der zeitgenössischen Kunst die Frage, ob das, was historisch bisher sicher zutraf, nämlich die Identität von künstlerischer und gesellschaftlicher ,Richtigkeit', auch weiterhin Gültigkeit haben kann. Oder ob nicht vielmehr die immer mehr auf ihre autonome Eigenentwicklung bezogene Avantgardekunst sich zuwenig gesellschaftlich orientiert, so daß sie nicht mehr den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Gesellschaft voraus -, sondern an den gesellschaftlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten überhaupt vorbeigeht?

F.E.W.: Darin liegt eine Gefahr. Aber es ist ein Irrtum, nun anzunehmen, daß künstlerische Probleme heute überflüssig sind und keiner Bearbeitung mehr bedürfen. Wenn ich beispielsweise ,Proportionen' nicht als rein formales Mittel benutze, sondern in meiner Arbeit Proportionalität als eine Grunderfahrung des Menschen thematisiere, dann kann ich nicht glauben, daß das generell uninteressant sein soll. Ich meine vielmehr, daß sie als elementare Voraussetzung jeglichen Wahrnehmens und Handelns zur Natur des Menschen gehört. Der Mensch, wie wir ihn kennen, oder besser eingeschränkt: der Mensch der westlichen Kultur müßte sich grundsätzlich verändert haben, bevor so etwas wie das Problem der Proportion nicht mehr existiert.

M.L.: Obwohl es die meisten tatsächlich immer gleichgültiger läßt, kommt der Künstler und sagt, wenn ihr ,wahre' Menschen seid, müssen euch solche Probleme etwas angehen. Besonders seitdem sich Künstler nicht mehr auf die natürliche Autorität der Kunst und die selbstverständliche Anerkennung ihres humanistischen Auftrages verlassen können, bekommen sie - so wie du die Funktion der Künstler verstehst - ganz zwangsläufig die Rolle der Besserwisser und der Bewahrer von Werten.

F.E.W.: Unbedingt! Der Künstler ist ein Mahner, einer, der viele Dinge wirklich besser weiß, und ein Bewahrer, der aber zugleich auch zukunftsorientiert ist. Denn natürlich sind das nicht die Proportionen der Renaissance oder irgendeiner anderen Epoche, von denen ich in meiner Arbeit ausgehe. Die Begriffe, sei es der Proportionsoder etwa der Zeitbegriff, müssen selbstverständlich produktiv weiterentwickelt werden. Bewahren heißt keinesfalls, etwas einmal als richtig Befundenes einfach immer weiterzutragen, sondern bedeutet, fundamentale künstlerische Erfahrungen, die sich als wertvoll erwiesen haben, immer wieder neu zu ermöglichen und anders zu begreifen.

M.L.: Diese Haltung, auch unter sich verändernden Bedingungen an bestimmten Werten festzuhalten und sie in ihrer Substanz retten zu wollen, kann man als ,wertkonservativ' oder mit einem neutraleren Ausdruck aus der Systemtheorie als Streben nach „funktionaler Äquivalenz" charakterisieren. Da die Erfahrungen, die für dich einen Wert beinhalten und deren Fortexistenz dir am Herzen liegt, ausschließlich in der Kunst authentisch gemacht werden können, ist die Kunstgeschichte das eigentliche Erfahrungsfeld des Künstlers und somit die ursprünglichste Quelle und der wichtigste Bezugspunkt seiner Praxis. Welche Bedeutung kommt da noch dem heute vielzitierten ,Zeitgeist' zu?

F.E.W.: Mit dem Zeitgeist argumentiert meines Erachtens eine Kunst, die sehr kurzfristig denkt, sehr spezialisiert ist und eigentlich eher journalistisch funktioniert. Sie bezieht sich kaum auf den historischen Gesamtzusammenhang und unternimmt es nicht, aus der Vergangenheit die Zukunft zu entwerfen, sondern bleibt fixiert auf die Gegenwart und reagiert lediglich. Wenn nun heute gerade ein ,Hunger nach Bildern' zu bestehen scheint, so wird er eben gestillt, indem einfach auf die tradierte Form der Tafelmalerei zurückgegriffen wird, ohne zu reflektieren, daß diese Form eine Geschichte hat, die man zitiert, wenn man sich ihrer bedient. Genau diese Haltung verhindert aber jeden projektiven, zukunftsweisenden Kunstentwurf.

M.L.: Besteht dieser Hunger nach Bildern wirklich, oder ist er eine aus ganz unterschiedlichen Motiven geborene Erfindung bestimmter Künstler, Kritiker und Händler, die dem Publikum bloß aufgeschwätzt worden ist? Gibt es für den Hunger nach Bildern so etwas wie - ich riskiere den Begriff ruhig mal - eine historische Notwendigkeit?

F.E.W.: Wenn man ausschließlich die Entwicklung der letzten zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre betrachtet, dann läßt sich, glaube ich, so eine Notwendigkeit schon zu Recht behaupten, insofern die heutige Kunst als ein Widerspruch dagegen zu begreifen ist, daß in den sechziger und siebziger Jahren vieles verpönt war und als unmöglich angesehen wurde, wie etwa die konventionelle Malerei, das literarisierende Erzählen von Bildgeschichten, die laute Buntheit und der Rückzug aufs rein Persönliche. Doch gesehen auf die Gesamtentwicklung der Kunst hin neige ich eher dazu, an der geschichtlichen Notwendigkeit des neuen Bilderglaubens zu zweifeln. Denn bloßes Reagieren, Widerspruch alleine, der oft pubertäre Formen annimmt, reicht auf die Dauer nicht aus. Spätestens wenn diese Künstler auf die Vierzig zugehen, werden sie merken, daß die momentanen Begründungen für ihren Widerspruch nicht zu halten sind, und sie geraten vermutlich ins Abseits heilloser Konflikte.

Kunst, die überwiegend vom Widerspruch lebt, hat es in der Geschichte zwar immer wieder gegeben, aber sie war eigentlich nie mehr als ein Durchgangsstudium. Mir fallen da z. B. die „Nabis" ein, die einiges von dem aufgreifen, was bei Cézanne schon angelegt ist, etwa die Verselbständigung der Mittel und die Flächigkeit des Bildes, andererseits aber hinter Cézanne zurückfallen, indem sie wieder sehr symbolisch und bedeutungsschwer werden.

Diese Haltung bei Künstlern wie Vuillard, Bonnard, Denis ist nur aus ihrem Widerspruch gegen den Impressionismus erklärbar, den sie platt und positivistisch als eine Kunst verstanden haben, die bloß optisch sichtbare Phänomene abbildet, und gegen den sie sich mit ihrer verquälten Symbolik glaubten wenden zu müssen, ohne die metaphysische Dimension des Impressionismus erkannt zu haben. Obwohl der Impressionismus damals schon überlebt war, es um diese Problematik gar nicht mehr ging, haben sie sich immer noch im Widerspruch gegen die Idee der Impression befunden, anstatt nachimpressionistische Positionen weiterzudenken.

M.L.: Offenbar haben die „Nabis" von dem Ausspruch Cézannes über Monet, dieser sei ,ganz Auge - aber was für ein Auge', nur die erste Hälfte verstanden und so den Impressionismus zu etwas stilisiert, was wohl in ihm steckt, worin er sich aber keineswegs erschöpft. Daß der Widerspruch dasjenige, wogegen er sich wendet, reichlich mißversteht und genaugenommen nur einen Popanz aufbaut und so eigentlich nur eine Einbildung ist, weil er seinen Widerpart selbst erst als Fiktion erschaffen hat, dieses Phänomen scheint mir auch bei der gegenwärtigen Kunst eine große Rolle zu spielen. Wenn ich die bilden' als Rechtfertigung ihrer Malerei gegen die Kunst der sechziger Jahre, insbesondere gegen die Concept-art argumentieren höre, dann bleibt von der tatsächlichen Problematik dieser Kunst fast nichts über. Mir ist immer unklar, ob derartige Simplifizierungen wider besseres Wissen oder aus Unkenntnis geschehen.

F.E.W.: Wahrscheinlich ist beides der Fall, wobei aber die Unkenntnis sicher überwiegt. Ich habe abenteuerliche Diskussionen erlebt und gemerkt, daß die meisten überhaupt nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie sich auf die Sechziger-Jahre-Kunst beziehen. Die kommen nicht von innen her, sondern von außen und haben sich teilweise früher auch mit ganz anderen Dingen denn mit Kunst beschäftigt.

M.L.: Wir haben bisher mit dem Begriff des Gesellschaftlichen recht allgemein operiert und über die Geltungsansprüche und Wirkungsweisen der Kunst in der Gesellschaft gesprochen wie auch über die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer adäquaten Kunstrezeption und über den Einfluß des Zeitgeistes auf die Kunstproduktion. Um etwas konkreter zu werden, sollten wir uns nun einem einzigen Aspekt des Gesellschaftlichen zuwenden und das Verhältnis von Kunst und Leben in den Blick nehmen, wobei wir ja unvermeidlich immer noch abstrakt genug bleiben müssen.

Wenn nach deiner Meinung durch das direkte Reagieren auf den Zeitgeist und auch durch den vom Zeitgeist angeregten Widerspruch gegen frühere Kunstformen sich die Kunst um einer oberflächlichen Popularität willen selbst untreu wird und ihre Zukunft verspielt, bleibt für sie doch nur die Alternative, daß sie konsequent in ihrer Entwicklung fortschreitet und sich in größter Autonomie auf sich selbst zurückbesinnt. Aber wenn Kunst immer wieder nur auf Kunst antwortet, wächst dann nicht ihr Abstand vom Leben ins Überdimensionale?

F.E.W.: Selbst wo die Kunst es sogar zum Programm erhebt, ganz andere, ihr bis dahin fremde Themen aufzugreifen, wie z. B. im 19. Jahrhundert durch Courbet, so wird sie, was immer sie auch tut, wohin auch immer sie das Ganze treibt und ausweitet, doch letztlich als Kunst immer auf Kunst antworten, und gerade auch historisch wird das letzte Beurteilungskriterium die Kunst bleiben. Ich sehe die Gefahr nicht, daß die Kunst durch ihren permanenten Selbstbezug irgendwo in den leeren Raum abdreht. Sie ist einfach ein System für sich, und entweder mißt sich etwas an ihren Kriterien, oder aber es wird nicht wahrgenommen und bleibt draußen. Man kann beispielsweise Heartfield nicht einfach auf den politischen Künstler reduzieren. Das ist er zwar auch, aber die politische Haltung und Wirksamkeit kann nicht der alleinige Maßstab sein. Übertragen auf das mittelalterliche Tafelbild hieße das ja: je frömmer, desto künstlerisch besser - dies ist purer Nonsens.

Wenn künstlerische Arbeit teilweise als L'art pour l'art erscheint, weil ihre Auswirkungen gering sind oder danebengehen, dann liegt das vor allem daran, daß die Übersetzer und Verwerter, die die Kunst nach , draußen' transportieren, vom ,Innen' nicht genügend verstehen. Aber dies spricht ja nicht gegen die Kunst. Würde man sich sozusagen als Probe aufs Exempel einmal vorstellen, die Kunst einfach rauszuschneiden, aus der Gesellschaft völlig wegzuoperieren, so merkt man, das geht noch nicht einmal rein gedanklich.

Sollte jedoch die Kunst überhaupt keine Wirksamkeit mehr entfalten, weil die Übersetzer und Verwerter sich verweigern - was ich nicht glaube, weil sie sich der Suggestion der Kunst nicht entziehen können, es sei denn gezwungenermaßen aufgrund irgendeiner Verschwörung oder der Herrschaft totalitärer Ideologien -, dann müßte man ganz anders argumentieren; dann würde das Spiel nicht mehr funktionieren, weil der Einzelne nichts mehr ausrichten könnte und die Kunst ihre Aufgaben zudiktiert bekäme.

M.L.: In bezug auf die Naturwissenschaften ist u. a. im Zusammenhang mit dem Problem: Darf man alles machen, was machbar ist? von Mitarbeitern des „Max-Planck-Institutes zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt" die Frage aufgeworfen worden, ob man die Wissenschaft weiterhin quasi naturwüchsig nach rein forschungslogischen Gesichtspunkten ihrer autonomen Eigenentwicklung überlassen dürfe oder ob sie sich nicht an vorzugebenden gesellschaftlichen Zwecksetzungen orientieren müßte. Es drängt sich die Frage auf, ob diese als Finalisierung bezeichnete gesellschaftliche Umorientierung der Wissenschaft, die weder deren Freiheits- noch Wahrheitsanspruch einschränken soll, nicht auch für die Kunst sinnvoll wäre. Besonders da ja die Kunst in der Rede vom „Ende der Avantgarde" anzweifelt, ob ihre Zweckfreiheit und Autonomie noch besonders produktiv ist. Worin eine in gesellschaftlicher und in ästhetischer Hinsicht zugleich befriedigende Zwecksetzung für die Kunst denn bestehen könnte, bedarf freilich noch ausführlicher Überlegungen.

F.E.W.: Daß die Naturwissenschaften durch gewisse Vorgaben Grenzen gesetzt bekommen, finde ich notwendig, weil es sonst lebensgefährlich für uns wird. Die Frage wäre, ob die Kunst lebensgefährlich werden kann - ich glaube nicht. Ein einfaches Beispiel: Die Expansion in den Naturwissenschaften ist überaus fragwürdig und potentiell existenzbedrohend. Dagegen ist etwa die zeitliche, räumliche und die Mittel betreffende Expansion der Kunst in den sechziger Jahren für niemand tatsächlich bedrohlich. Ich kann einen Kreis vom DIN-A4-Blatt über die quadratmetergroße Leinwand auf Quadratkilometer in der Landschaft ausdehnen und könnte ihn schließlich um den ganzen Erdball herumziehen, das hebt sich dann selbst auf und wird schlicht absurd, aber eben nie gefährlich. Es sei denn, es wird als Symbol oder Modell für Expansionen ganz anderer Art mißbraucht.

M.L.: Es leuchtet unmittelbar ein, wenn du sagst, daß die Kunst keiner Orientierung durch eine außer ihr selbst liegende gesellschaftliche Zwecksetzung bedarf, weil sie - vereinfacht gesagt - keinen wirklichen Schaden anrichten kann. Selbst dort, wo sie Erschrecken, Bedrohung oder Gefährdung als Mittel benutzt, spielt sie nur damit und tut so als ob. Daß Kunst, solange sie autonom ist, noch niemand geschadet hat, auch nicht im übertragenen Sinn, ist vielleicht eine ihrer größten Qualitäten, denn von welchem menschlichen Erzeugnis kann dies schon mit Recht behauptet werden. Wenn auch unter diesem negativen Aspekt, bloß etwas zu vermeiden, die Finalisierung der Kunst nicht notwendig erscheint, so ist sie aber doch möglicherweise wünschenswert, um einen höheren gesellschaftlichen Nutzen und Genuß der Kunst, d.h. ein besseres Leben zu ermöglichen.

F.E.W.: Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß der Künstler selbst solch eine Finalisierung leisten kann, wie immer sie auch praktisch aussehen mag. Ich denke, er brauchte jemanden, der eine entsprechende Übersetzung vornimmt. Vor allem aber bezweifle ich die Erforderlichkeit dessen, was du ,Finalisierung' nennst. Picasso ist es beispielsweise auch so gelungen, seiner Absicht im allerbesten Sinne gerecht zu werden, keine Kunst für die ,happy few' zu machen, und hat eine Kunst geschaffen, die historisch bedeutend, populär und teilweise auch direkt politisch ist. Eine solche glückliche Verschmelzung ist natürlich äußerst selten und wahrscheinlich an einen bestimmten Typus von Künstler und Kunst gebunden. Für die informelle Kunst etwa und ihre Künstler ist so etwas kaum vorstellbar. Obgleich sie im Prinzip ebenso jeden betrifft und z. B. Wols bestimmt kein weniger ausgeprägtes Gespür für seine Zeit besaß als Picasso, hätte er auch bei aller Finalisierung dessen gesellschaftliche Wirksamkeit niemals erreicht.

M.L.: Als Argument für die Finalisierung bleibt gleichwohl der Einwand, daß selbst durch die Kunst Picassos nicht ein einziges substantielles und wirklich existentielles Problem gelöst worden ist. Oder ist dieser Anspruch an Kunst, dem vor allem Beuys zur Geltung verholfen hat, daß Kunst Lebens- und sogar Überlebensfragen (Abrüstung, Waldsterben) real zu bewältigen habe, generell verfehlt? Kann Kunst tatsächlich das geeignete Instrument dazu sein? Vermag sie mehr als ,nur' auf Fragen geistiger - also nicht physischer - Natur eine Antwort zu finden?

F.E.W.: Ich meine: Nein! Der Gegenstand, den sie tatsächlich zu bearbeiten vermag, ist vor allem das Bewußtsein. Dies kann zwar nicht nur die Kunst, aber sie tut es in einer ganz einzigartigen Weise. Während es früher das Privileg des Künstlers war, das menschliche Bewußtsein durch Bilder zu bereichern und den Menschen über sich selbst aufzuklären, sehe ich in ihm heute denjenigen, der als einziger noch dazu imstande ist, sowohl die Frage nach der Form zu stellen als auch Form zu geben. Der Begriff ,Form' muß im umfassendsten Sinn des Wortes ernst genommen werden. Wie sehr unser Leben der Form bedarf, nachdem sich alle Ideologien und Glaubensüberzeugungen als ,haltlos' erwiesen haben, muß ich nicht weiter betonen. Niemand aber versteht sich so sehr auf Formung wie der Künstler. Nur er als Einzelner kann Form mit seinem spezifischen Instrumentarium beibringen. Dazu muß er allerdings den tradierten künstlerischen Formbegriff überschreiten und darf sich nicht durch konventionelle Vorstellungen über das, was künstlerische Mittel und Materialien sein dürfen, beschränken lassen.

M.L.: Wenn es einer künstlerischen Praxis gelingt, dieses Formproblem, das zwar sicher nicht unmittelbar existenzbedrohend, aber gleichwohl für unser modernes Leben existentiell ist, angemessen zu bearbeiten und einer Lösung näherzubringen, so kann ihr der Vorwurf, lebensfern zu sein, doch wahrlich nicht mehr gemacht werden. Es sei denn, es herrscht ein Bewußtseinszustand vor, der im Angesicht der Schrecklichkeiten realer, physischer Natur geistige Fragen für prinzipiell nicht existentiell hält. Diese Auffassung, die alles suspekt und überflüssig findet, was nicht unmittelbar real, sondern lediglich bewußtseinsmäßig in die Wirklichkeit eingreift, führt, konsequent zu Ende gedacht, zur Abschaffung des Kerns unserer Kultur, ohne den nicht einmal mehr das übrigbliebe, was den Namen Zivilisation verdient. Es wird darin ein materialistisches Zweckdenken offenbar, obwohl doch heute andererseits genau dieses Denken als wesentliche Ursache unserer Existenzbedrohung erkannt wird. An diesem Widerspruch scheint mir das ,grüne' Bewußtsein besonders zu kranken.

F.E.W.: Ja, aber weit darüber hinaus befindet sich die Geringschätzung des Geistigen in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Klima überhaupt. Das hat die Wirkung, daß als schöngeistig, idealistisch, verträumt oder schlicht als ,Käse' diffamiert wird, was auf die Stärke des Bewußtseins baut. Dabei hatten wir das doch alles im Prinzip schon mal in den späten sechziger Jahren unter dem Vorzeichen des Politischen. Ich erinnere mich z. B. an die vollmundigen Sprüche von Vostell damals: Kunst ist gleich Leben. Diese Vorstellung sah er in den Pariser Maiunruhen von 1968 verwirklicht. Da verschwand konsequenterweise die Kunst, na prima. Merkwürdig wird es nur, wenn dann Vostell auf einmal wieder anfängt Bilder zu malen - und dann noch von der Sorte ,schmissiger Eigenbau'! Ihm war es offenbar denn doch nicht recht, daß er als Künstler untergeht.

M.L.: Was ja an sich nicht unbedingt schlimm wäre, wenn Kunst und Künstler durch das Leben selbst tatsächlich überflüssig gemacht würden. Doch bis das so weit ist, käme es darauf an zu zeigen, daß es auch im geistigen Bereich existentielle Fragen gibt, ja daß etliche Lebens fragen auch deswegen so schwer zu bewältigen sind, weil geistige Fragen eben nicht mehr als existentiell aufgefaßt werden. Was kann man gegen diese Auffassung und damit zugleich für die Legitimation der Kunst als Kunst tun?

F.E.W.: Zunächst einmal ist festzustellen, daß vieles, was heute als Malerei daherkommt, gar nichts dafür tut, sondern in ihrer allzu journalistischen Manier ganz das Gegenteil bewirkt. Was ich konkret tue, ist, es immer wieder zu sagen, immer wieder auf die Bedeutung des Geistigen hinzuweisen. Und zwar nicht als Attitüde, sondern aus wirklicher Überzeugung. Ich erlebe immer wieder, daß es Leute gibt, die hinhören; auch junge Leute, das ist keine Generationsfrage. Aber mehr, als es wieder und wieder zu sagen, ist nicht möglich. Selbst wenn ich mich auf den höchsten Turm stellen könnte, mir alle Mittel gegeben wären, vom Lautsprecher bis zum Himmelsschreiber und alle Radio- und Fernsehanstalten der Welt, bin ich nicht sicher, ob das wirklich helfen würde, wenn nicht bei den Menschen noch ein Glaube an das geistige Prinzip besteht.

Als Künstler heißt für mich ,sagen' aber natürlich zuallererst, durch ihren modellhaften Charakter die Arbeiten sprechen lassen. An deren Modellhaftigkeit habe ich immer strikt festgehalten und keinerlei reale Umsetzung, d.h. Verwendung für einen bestimmten Zweck zugelassen. Ich habe mich gehütet, meine künstlerischen Erfahrungen z. B. für reale Architektur nutzbar zu machen. Und selbst die Idee, auf meiner Arbeit eine Lehre aufzubauen, was sicherlich reizvoll sein könnte, geht mir gegen den Strich. Am stärksten und direktesten bin ich mit dem Anspruch der Ausnutzung meiner Arbeiten Ende der sechziger Jahre in Amerika konfrontiert worden, als man sie unbedingt als Objekte zum Sensitivity-Training verstehen wollte. Hätte ich damals ja gesagt, man hätte mich aufs Podest gehoben.

M.L.: Darin äußert sich vielleicht die gängige Einstellung zum Geistigen am deutlichsten, daß in den unzähligen, der Mode unterworfenen Therapieformen, wie es auch das Sensitivity-Training war, zwar ein starkes Bedürfnis nach einem wie immer gearteten Geistigen zum Ausdruck kommt, aber dieses Geistige immer nur als Mittel zu einem ganz bestimmten Zweck, wie z. B. zur Steigerung der Sensibilität, betrachtet wird und nur etwas gilt, wenn es diesen Nutzen zu erfüllen verspricht. Damit ist die Enttäuschung, die aber nur zu einer umso dringlicheren Suche nach einem neuen ,Guru' führt, vorprogrammiert, weil geistige Prozesse ganzheitlicher Natur sind, so daß der punktuelle Erwerb spezieller mentaler Fähigkeiten eben keine wirkliche geistige Orientierung und Erweiterung bringen kann.

Daß die Kunst sich nicht mehr auf bestimmte Zwecke richtet und darum permanent dem Vorwurf der Funktionslosigkeit ausgesetzt ist, ist eine Folge ihrer im 19. Jahrhundert durchgesetzten Autonomie. Die weitere Autonomisierung der Kunst und die dadurch zunehmende, als Totalitäts- bzw. Universalitätsanspruch ins Positive gewendete Unbestimmtheit ihrer Zwecke haben ganz folgerichtig zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Proklamierung der „Epoche des großen Geistigen" (Kandinsky) in der Kunst geführt, wodurch sie zugleich ihre unmittelbar sinnliche Schönheit eingebüßt hat. Bedenkt man den Verlust der gesellschaftlichen Wirkung, den Verlust des Privilegs auf Schönheit und alle anderen damit zusammenhängenden bestandsgefährdenden Probleme der Kunst, hat sie dann nicht einen zu hohen Preis für ihre Autonomie bezahlt?

F.E.W.: Zunächst einmal - darüber habe ich aus vielerlei Gründen lange nachgedacht - ist die Ablösung der mittelalterlichen Kunst durch das, was man Renaissance genannt hat, eine historische Notwendigkeit gewesen. Infolge der Erfindung der Zentralsperspektive, d. h. der Vereinheitlichung des Raumes, verliert das Bild notwendigerweise an Komplexität, weil nun z. B. Ungleichzeitigkeiten räumlich nicht mehr darzustellen sind. Andererseits wird ein neues Raumgefühl gewonnen und die bildnerischen Möglichkeiten werden wesentlich erweitert - es gelangen zum Teil ja richtige Zauberkunststückchen.

Natürlich gab es auch in der Folgezeit immer Gewinn und Verlust, und zu bestimmten Zeiten, würde ich sagen, hat der Verlust überwogen. Aber insgesamt hat die Entwicklung zur Autonomie eine enorme Befreiung für die Kunst gebracht: einen gewaltigen Gewinn an Vorstellungskraft für den Menschen, was er sehen und wie er denken kann; eine Lösung aus den herrschenden weltanschaulichen und ideologischen Bindungen sowie aus allen Stilbindungen; und nicht zuletzt die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, der ohne einen ihn einbindenden weltanschaulichen oder stilistischen Hintergrund sich als Einzelner Gehör zu verschaffen vermag. Ich halte es für ausgeschlossen, daß man hinter den erreichten Stand autonomer Kunst wieder zurückfallen kann, wie auch immer sie sich - jedenfalls solange sie Kunst bleibt - künftig entwickeln mag.

M.L.: Wenn man an der Autonomie der Kunst festhalten will, gleichwohl darauf, daß Kunst mehr als Kunst sein soll, nicht verzichten mag und dafür nach einem Beispiel sucht, so könnte sich der Eindruck aufdrängen, Beuys sei die Quadratur des Kreises gelungen, weil er sich mit seiner Arbeit einerseits in der Tradition der autonomen Kunstentwicklung befindet, aber andererseits auch durchaus gesellschaftspolitisch wirksam wird.

F.E.W.: Die Frage ist allerdings, ob er tatsächlich mit seiner Kunst diese Wirksamkeit erzielt. Ich denke, er arbeitet einmal als Künstler, mit mehr oder weniger denselben Wirkungsmöglichkeiten wie andere gute Künstler auch. Und er arbeitet in dem engeren, professionellen Sinn auch politisch, wofür ich inhaltlich viel Sympathie habe, was mir aber immer da ein wenig dilettantisch vorkommt, wo er aus der schönen Rede ins mehr Praktische geht. Beuys möchte das natürlich nicht so getrennt haben, und es wäre sehr schön, wenn es so ginge, wie er sich das vorstellt. Doch es sind beides offenbar ganz unterschiedliche Bereiche, die völlig verschiedene Fähigkeiten und Haltungen erfordern, was nicht bedeutet, daß bestimmte Erfahrungen aus dem Kunstbereich nicht auch politisch nützlich sein können. Als Künstler hat er sicher ein bildhafteres Denken, eine plastischere Sprache und ein besseres Vorstellungsvermögen von Zusammenhängen als die ,Nur-Politiker'. Aber all dieses kann aus der politischen Arbeit noch keine Kunst machen. Ebensowenig wird umgekehrt die Kunst dadurch zur politischen Arbeit, daß er seine Objekte als Anlaß und Ausgangspunkt politischer Prozesse verstanden wissen will. Daß Kunst solch einen Verweischarakter haben kann, ist ein alter Hut. Doch das, worauf verwiesen wird, verändert sich dadurch noch lange nicht real. Wenn der gute Joseph sich vorstellt, von seiner Kunst ginge eine direkte Wirkung auf den Gang der Entwicklung aus, so halte ich das für eine utopisch-abstruse Vorstellung.

M.L.: Mit seiner Arbeit bzw. Aktion auf der letzten ,documenta' (VII, 1982) hat Beuys sehr ausdrücklich versucht, einen zwingenden Zusammenhang zwischen ästhetischem Objekt und realem Eingriff ins Leben herzustellen. Der Haufen Basaltsteine wäre ja auch in deinem Sinn als Kunstobjekt interpretierbar, und die Pflanzung der Bäume hat zweifellos jenseits von Kunst reale Auswirkungen.

F.E.W.: Die Frage ist nur, ob man für diese Aktion den Begriff Kunst überhaupt braucht. Daß ein Baum gepflanzt und dazu gleichsam als Denkmal ein Stein aufgestellt wird, kenne ich als alten Brauch aus meiner Heimatgegend, wo das über Jahrhunderte gemacht worden ist. Es scheint mir überhaupt überflüssig, dies in den Zusammenhang von Kunst zu stellen. Selbst wenn er es auf die Legende, die Geschichte, die vielleicht entsteht und sich um das Ganze rankt, abgesehen hat, bedarf es dazu nicht eines Kunstbegriffs.

M.L.: Dort, wo du den Kunstbegriff entbehrlich findest, spricht Beuys gern von der ,Erweiterung' des Kunstbegriffs und sieht gerade darin ein wesentliches Moment seiner Arbeit.

F.E.W.: Den Begriff der Erweiterung' finde ich schon brauchbar, und ich habe ihn selbst von einem bestimmten Zeitpunkt ab ganz unabhängig von Beuys verwendet, um Materialien, Formen und Vorstellungen in die Kunst integrieren zu können, die nach dem traditionellen Kunstbegriff außerhalb hätten bleiben müssen. Diese Erweiterung war im Zusammenhang mit dem „1. Werksatz" notwendig, aber lediglich gedacht als Erweiterung innerhalb der Kunst, damit meine Werksatzarbeit sich als Teil der Kunst behaupten ließ.

M.L.: Ist nicht durch die früheren, im engeren Sinn plastischen Arbeiten von Beuys auch eine solche kunstimmanente Erweiterung erfolgt?

F.E.W.: Nach meinem Gefühl sind die frühen Arbeiten von Beuys ganz und gar in der Tradition der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts befangen. Er hat im Grunde gar nicht allzuviel erfunden, was Materialien und Formen betrifft, sondern hat sehr vieles zitiert und sich anverwandelt. Der künstlerische Wert ist trotzdem unbestritten, doch liegt er nach meiner Meinung nicht in der Erweiterung. Die eigentliche Erweiterung des Kunstbegriffs bei Beuys liegt da, wo er politische Arbeit, weil er, Joseph Beuys, sie tut, als künstlerische Arbeit ausgibt und versteht.

M.L.: Wenn man Erweiterung' einmal vereinfacht als rein quantitative Ausdehnung begreift, dann bedeutet dies, daß Beuys nicht den Kunstbereich in den gesellschaftlichen Bereich hinein ausdehnt, sondern umgekehrt den gesellschaftlichen Bereich in den Kunstbereich hinein ausweitet, d.h., diesen tatsächlich verkleinert und einengt, statt ihn zu erweitern. Und die gesellschaftliche Wirksamkeit, die er seiner künstlerischen Praxis zuschreibt, ist faktisch Ergebnis seiner politischen Tätigkeit.

Warum beharrt Beuys so sehr darauf, daß seine reale politische Tätigkeit auch künstlerische Praxis sei? Ist er etwa ein richtiger Politiker geworden, der rein taktisch die Kunst als Instrument zur besseren Durchsetzung seiner politischen Ziele einsetzt?

F.E.W.: Ich denke, daß die politische Arbeit von Beuys nicht gleichermaßen künstlerisch ist und man zwischen beiden unterscheiden kann und muß. Aber es ist letztlich eine Frage, die ich sozusagen objektiv auch nicht beantworten kann; genausowenig wie die Frage nach den Motiven, die Beuys für seine Art von Arbeit hat. Man kann da nur spekulieren. Vielleicht hat ihn die Wirkung, die mit Kunst möglich ist, enttäuscht, weil sie ihm zu gering war. Ich habe ihn jedenfalls als jemanden kennengelernt, der allzu possessiv ist, überall mitmischen, überall mitreden, überall auf Teufel komm raus dabei sein muß, auch da, wo er nichts zu suchen hat. Das hat teilweise einen äußerst zwanghaften Zug.

Beuys hat zu einer Zeit angefangen, sich politisch zu äußern, als eine allgemeine Politisierung stattfand, und ist im Grunde der Situation sogar ein wenig hinterhergelaufen. Er hat gerochen, wohin der Hase läuft - um im Bild zu bleiben -, und einen Dreh gefunden, die in den sechziger Jahren an die Kunst gestellten gesellschaftlichen Ansprüche mit seiner künstlerischen Praxis zu versöhnen. Es war eine zeitgebundene Sache, und ich kenne eine ganze Reihe von Leuten, die damals in dieser Richtung gearbeitet haben. Der Jörg Immendorff z. B. hat die ganze Politisierung sehrintensiv durchlebt und auf eine Weise zugespitzt, wie es damals Mode wurde, eben Politik statt Kunst zu machen - inzwischen sieht er das ja wohl anders. Sich auf so eindeutige Weise festzulegen, dazu war Beuys zu erfahren und auch viel zu schlau.

M.L.: Zumindest in einer Hinsicht hat sich Beuys - jedenfalls verbal - eindeutig festgelegt. Seine Feststellung: „Jeder Mensch ist ein Künstler" bedeutet konsequent weitergedacht die Abschaffung des professionellen Künstlers und suggeriert, daß die in seinem Sinn erweiterte Kunstpraxis noch die einzig verantwortbare sinnvolle und damit legitime künstlerische Praxis sei. In einem neueren Interview werden die Intentionen seines erweiterten Kunstbegriffs ganz deutlich: „Der erweiterte Kunstbegriff muß zur Veränderung von Realität fähig sein, also mehr sein als Aktionskunst, Happening, Fluxus usw., Begriffe, die man einordnen kann, als Stil vereinnahmen kann. Die soziale Plastik existiert außerhalb des Stils. Ihr Ziel ist die Umwandlung der Gesellschaft und mehr Lebensqualität für den Menschen. Wo es sich um soziale Kunst handelt, ist jeder Mensch Mitgestalter".

F.E.W.: Wenn Beuys den Anschein erweckt, nur der von ihm propagierte Typus ,sozialer Kunst' sei noch möglich und alle , autonome' Kunst wäre bestenfalls eine Vorform dazu, so empfinde ich das ebenso als Anmaßung wie seine Rede, daß er allein den ganz neuen Kulturbegriff vertrete. Ich sehe nicht, wie denn die von Beuys gemeinten sozialen Prozesse die Funktionen bisheriger Kunst ersetzen können. Ich kann „soziale Plastik" nur als eine Metapher für solche gesellschaftlichen Prozesse verstehen, die versuchen, die Gesellschaft voranzubringen, Aufklärung zu betreiben und den Menschen zu entwickeln. Aber wenn man etwa an Schillers ,Briefe zur ästhetischen Erziehung' denkt, hat der Joseph solche Aktivitäten weder erfunden noch für sich gepachtet, und zweitens haben sie keinesfalls automatisch Kunstcharakter. Selbstverständlich können sie Kunst sein, aber da muß dann noch etwas Wesentliches hinzukommen, worüber wir bereits gesprochen haben: die Form. Die Formlosigkeit unseres Umgangs miteinander, die Formlosigkeit des Bauens, der Wohnungen, der Möbel, jeglicher Gestaltung, kurz: ein wesentlicher Teil unseres Lebens ist völlig kaputt und beschissen. Wer sonst als die Künstler soll die Möglichkeit von Form wachhalten, indem ,Form' immer wieder lebendig erfahrbar gemacht wird. Er allein kann - sofern er es zu seiner Profession gemacht hat - über die notwendigen Fähigkeiten dazu verfügen. Schaffen wir diesen professionellen Künstler ab, so gibt es nichts als die für die Massen und von den Massen produzierte Umwelt. In so einer Welt will ich nicht leben, da ersticke ich.

M.L.: Es ist ja auffällig, daß diejenigen Arbeiten, die von Beuys in erster Linie als Anlaß bzw. Kristallisationspunkt für soziale Prozesse gemeint sind, unter dem Aspekt der Formung gesehen, künstlerisch am wenigsten überzeugen. Der Begriff „Honigpumpe" war eigentlich viel stärker als die Arbeit selbst und hat sie fast ersetzt.

F.E.W.: Ja, die „Honigpumpe" war, jedenfalls wie sie in Kassel zu sehen war, schwächer als andere Arbeiten. Aber ich bin ziemlich sicher, daß es Beuys im Louisiana-Museum in Dänemark, das die Arbeit gekauft hat, mit dem bekannten ,Händchen' gelungen ist, die Arbeit künstlerisch so zu installieren, daß sie nicht mehr als ein bloßes Dokument auf die vergangenen Gespräche und Lernprozesse verweist, deren Mittelpunkt sie auf der Documenta VI' sein sollte, sondern sich nun als Kunst behauptet. Und in diesem Zusammenhang, in dem die Arbeit dann ja endgültig verbleibt und tradiert wird, braucht man dann plötzlich einen erweiterten Kunstbegriff gar nicht mehr.

Vielleicht liegt hierin der Grund für ein mit dem Begriff der Erweiterung verbundenes auffallendes Phänomen: Beuys verwendet diesen Begriff ja nun schon seit vielen Jahren in seinem Sinn, und ich habe immer mal wieder davon gehört, aber trotzdem ist davon eigentlich nichts recht haften geblieben oder war in irgendeiner Weise wirksam. Entweder ist dieser Begriff nur für mich nicht wichtig, das kann sein, oder aber er ist überhaupt nicht wichtig. Dafür spricht, daß es in den letzten zwanzig Jahren keinen bedeutenden Künstler gibt, den dieser Gedanke derart fasziniert hat, daß er ihn aufgegriffen und damit gearbeitet hätte. Wenn dieser Begriff, so wie ihn Beuys versteht, wichtig wäre, warum verweigern sich ihm dann die jüngeren Künstler? Wir wissen es doch aus der Geschichte und erleben es immer wieder, daß die Künstler auf jeden interessanten Gedanken sofort zugehen und probieren, ihn zu vereinnahmen. Selbst die engeren Schüler von Beuys, die wichtig geworden sind, wie etwa Ruthenbeck, Immendorff oder auch Palermo und Knoebel, haben sich abgesetzt. Obwohl Beuys, wie ich selbst erlebt habe, es ziemlich offensiv versucht, einen zu sich rüberzuziehen. Wenn er dann nach längerer Diskussion merkt, daß das mit mir nicht geht, reagiert er plump und sagt am Ende etwa, daß ich ja schon immer ein Holzkopf gewesen sei.

M.L.: Beuys selbst sieht es ja aber möglicherweise als Bestätigung seines Konzeptes an, wenn die professionellen Künstler seinen Gedanken der Erweiterung nicht aufgreifen und stattdessen von künstlerisch ambitionierten Leuten z.B. Erwachsenenbildung, Freizeitgestaltung, Animation oder Kreativitätskurse betrieben werden.

F.E.W.: Diejenigen, die sich als Adepten an Beuys dranhängen, sind allzuoft kaputte oder gescheiterte Figuren, die einen Ausweg aus ihrer Misere suchen und ihr eigenes künstlerisches Scheitern mit einer erweiterten' Kunstpraxis zu überwinden suchen. Gerade neulich hat mir ein ehemaliger Schüler eine peinliche Laienpredigt für den heiligen Joseph geschickt. Aber vielleicht ist bei ihm dieses Engagement sogar noch eine glückliche Fügung.

Ich selbst bin daran ja wahrscheinlich nicht ganz unschuldig, daß alle möglichen Aktivitäten an den Kunstbereich rangeklebt werden. Allerdings haben mich viele arg mißverstanden. Bei aller Erweiterung oder besser: Aufhebung des tradierten Kunstbegriffs, habe ich mit meiner Praxis immer auf Kunst gezielt, weil sie der Pol ist, von dem her eine wirkliche Ausstrahlung möglich ist. Wenn man dagegen die Aufhebung des Kunstbegriffs für irgendeinen bestimmten Zweck in Beschlag nehmen will, dann muß das schiefgehen. Entweder die Kunst bleibt modellhaft, oder sie hört auf, Kunst zu sein. Die künstlerische Praxis darf also nicht real werden und konkret eingreifen. Was konkret werden kann, sind die Erfahrungen des Dilettanten im historischen, nicht abwertend gemeinten Sinne mit der Kunst. Ich plädiere damit nicht für eine Kunst um der Kunst willen und möchte gerade nicht, daß die ästhetischen Erfahrungen, die das Publikum machen kann, wieder nur in Kunst münden. Sie sollen vielmehr übertragbar sein auf alle Lebensbereiche und das Gesamtdenken.

M.L.: Wenn du so entschieden darauf beharrst, daß nicht irgendwelche tatsächlichen oder vermeintlichen sozialen Prozesse als Kunst ausgegeben werden, dann kann es ja nicht darum gehen, nun bloß nominal am Begriff ,Kunst' festzuhalten, sondern dann geht es doch um die Möglichkeit ganz spezifischer, eben an Kunst gebundener Erfahrungen. Insofern ist der von dir hervorgehobene Formbegriff wohl auch so zu verstehen, daß du weniger auf die Formung von Materie zielst als vielmehr auf die Ausformung von Erfahrungen, also auf ästhetische Erfahrungsformen, die eben weder mit pädagogischen und psychologischen noch mit politischen Formen zu verwechseln und zu vermitteln sind.

Was deine eigene ,Schuld' an der Ausfransung des Kunstbegriffs betrifft, so scheint mir, daß du besonders darin mißverstanden worden bist, daß du den Gebilde- bzw. Ergebnischarakter des Kunstwerkes gegenüber seiner prozessualen Seite vernachlässigt hast.

F.E.W.: Tendenziell gab es schon ganz am Anfang meiner Arbeit, bereits bevor ich Ende 1961 mit den Materialprozessen angefangen habe, die Frage nach dem Prozeß, der letztendlich zu der Form eines Kunstwerkes führt. Ich habe mich sehr für Arbeiten interessiert, wo dieser Entstehungsprozeß ablesbar war, oder habe ihn zu rekonstruieren versucht. Besonders faszinierend war für mich die Spekulation, was wohl als Lebensprozeß hinter den fertigen Arbeiten verborgen sein mochte. Insofern war es mir fast natürlich, das fertige Werk von seiner Entstehung her zu betrachten und den Weg dahin als Ziel anzusehen.

Aber dies sollte ja keine Mißachtung des Kunstwerkes als Gebilde bedeuten oder gar zu seiner Abschaffung führen. Ganz im Gegenteil wollte ich das Gebilde um seinen Entstehungsprozeß bereichern und es damit gleichsam vollständiger und umfassender machen. Etwas ist umso besser verstehbar, je mehr ich um seine Geschichte, sein Gewordensein weiß. Die Einbeziehung des Entstehungsprozesses des Kunstwerkes sollte es dem Betrachter tiefer erschließen.

Ein Formungsprozeß, ohne daß am Ende eine Formung, ein fertiges Gebilde stünde, wäre ja auch unsinnig. Aber das, was das Gebilde, das Werk ausmacht, ist andererseits ganz und gar durch den Entstehungsprozeß bestimmt. Deshalb habe ich mich um die Voraussetzung des Werkes, um seinen Formungsprozeß gekümmert. Daß bei meiner Arbeit das Material dieses Formungsprozesses unstofflich ist, nämlich aus Vorstellungen besteht, die sich auf meinen eigenen Körper beziehen, auf mein Denken, den mich umgebenden Raum, die erlebte Zeit, und daß darüber hinaus auch das Werk selbst ungegenständlich bleiben kann, dies hat der irrigen Auffassung, jeglicher Prozeß sei bereits Kunst, Vorschub geleistet.

M.L.: Wir haben uns mit der Problematik des Verhältnisses von Kunst und Leben auseinandergesetzt, die für die Kunst der sechziger Jahre eine entscheidende Rolle spielt. Im Vordergrund stand dabei die Frage nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit von autonomer Kunst, d.h., ob Kunst reale gesellschaftliche Veränderungen bewirken müsse, so wie es Beuys mit der ,Erweiterung' des Kunstbegriffs postuliert. Du hast entgegen der Forderung von Beuys dafür plädiert, daß sie auf existentielle Fragen geistiger Natur modellhafte Antworten suchen und sich Formung - im weitesten Sinne des Wortes - zur Aufgabe machen soll.

Wir sollten uns nun noch einem anderen, sehr konkreten Aspekt des Verhältnisses von Kunst und Leben widmen, nämlich wie sich bei dir selbst die künstlerische Praxis und das ,normale' Leben zueinander verhalten.

Wann bist du dir erstmals bewußt geworden, daß dein Leben wesentlich von deinem künstlerischen Tun beeinflußt wird, und wie hat sich das dann weiter ausgewirkt?

F.E.W.: Schon als Kind war ich sehr bedrängt von Bildern, die auf mich eingestürzt sind, und ich habe versucht, sie durch Zeichnen, durch Abbilden zu bannen. Es gibt davon noch eine ganze Reihe von Sachen, die eigentlich erstaunlich sind. Ich habe seinerzeit aber natürlich überhaupt nicht an Kunst gedacht, doch sehr wohl bemerkt, daß das Zeichnen eine Fähigkeit war, die ich besser konnte als die anderen. Die Vorstellung, daß ich so etwas wie ein Künstler sein könnte, hatte ich zum ersten Mal etwa mit 14 Jahren, als ich begann, mich in mein eigenes Zimmer zurückzuziehen und dort ganz bewußt zu zeichnen und zu malen. Das war zwar alles noch recht diffus, aber das Gefühl, das ich schon damals hatte, hat sich als Grundgefühl bis heute bei der Arbeit erhalten. Und geblieben ist auch die immer neue Faszination, daß zwischen dem, was ich anschaue, und dem, was ich auf dem Blatt wiedergebe, eine ungeheure Diskrepanz besteht - daß ich als Künstler Realität nicht abbilde, sondern schaffe.

Nach der Schule ergaben sich dann bald massive Schwierigkeiten. Meine Eltern besaßen eine Bäckerei, und es war geplant, zusammen mit drei Verwandten, die alle auch eine Bäckerei besaßen, gemeinsam eine Keks- und Zwiebackfabrik zu gründen, in der ich den Juniorchef spielen sollte. Darum wurde ich in eine Lehre gesteckt, in der ich mich mehr schlecht als recht bewährt habe, weil ich mit den Gedanken woanders war und jede freie Minute genutzt habe, um in meinem Zimmer zu zeichnen und zu malen. Bei mir hat sich zunehmend alles gegen die von meinen Eltern an mich gestellten Ansprüche gesträubt, und ich bin schließlich dann als Sechzehnjähriger mitten aus dieser Lehre weggelaufen, worunter meine Eltern natürlich sehr gelitten haben.

In dieser Zeit erfuhr ich zufällig, daß es Kunstschulen gibt. Ich wußte vorher gar nicht, daß man so etwas, was ich allein für mich gemacht hatte, auch studieren kann. Ich kam zufällig an die Adresse der Werkkunstschule Offenbach und bewarb mich. Dort fand man alles ganz schön, was ich bislang gemacht hatte, nahm mich ernst und brachte mir Sympathie entgegen. Allerdings wurde ich um ein Jahr vertröstet, weil ein Mindestalter von 17 Jahren für die Aufnahme vorgeschrieben war. Aufgrund dieser ersten Bestätigung habe ich mich noch stärker in meine Bildwelt zurückgezogen und intensiv gezeichnet und gemalt, wobei dieses Tun immer mehr zu meinem Leben geworden ist - so natürlich und notwendig wie das Atmen. Weil ich mich an den üblichen Unternehmungen der anderen Jugendlichen kaum beteiligte, galt ich in unserem Wohnviertel bald als Spinner, über den man lacht, und das hat meine guten, braven Eltern mindestens so sehr getroffen wie mein Ausbruch aus der Lehre.

Irgendwie habe ich jedenfalls das eine Jahr rumgekriegt und wurde dann in die Werkkunstschule aufgenommen. Entsprechend ihrer Ausrichtung auf die angewandte Kunst hatte diese Schule eine ziemlich reglementierte Grundlehre, die u. a. Naturstudium, Aktzeichnen, Anatomie, konstruktives Zeichnen, Farblehre und Schrift beinhaltete. All dies hielt ich damals wie selbstverständlich für Kunst, und es gab niemanden in meiner Umgebung, der mich über diesen Irrtum aufgeklärt hat. Nach und nach lernte ich dann in meinem Heimatstädtchen und an der Werkkunstschule Leute kennen, mit denen ich Kunstfragen diskutieren konnte, und im Alter von etwa achtzehn Jahren wußte ich von Kunst zwar immer noch sehr wenig, aber die Vorstellung, Künstler zu sein mit allen Träumen und Hoffnungen, die man in diesem Alter haben kann, war bereits sehr stabil, und die freien, ungebundenen Arbeiten, die neben den Studienaufgaben entstanden, sind teilweise heute noch interessant.

M.L.: Entstanden die mit deiner Entscheidung verbundenen Konflikte ausschließlich durch die Ansprüche und Wünsche deiner Eltern oder waren sie auch in dir selbst begründet?

F.E.W.: Einen Riesenkonflikt gab es natürlich mit den Eltern, die alle ihre Hoffnungen in geschäftlicher Hinsicht enttäuscht sahen. Damit konnte ich aber eigentlich ganz gut umgehen, weil ich sehr genau wußte, ich will einfach nicht das Geschäft übernehmen und eine Firma aufbauen. Auch der damit verbundene Verzicht auf Sicherheit, Geld, Stellung ist mir überhaupt nicht schwergefallen; genausowenig wie etwa der Verzicht auf Liebesbeziehungen, weil alles überlagert und besetzt war von Formen und bildhaften Vorstellungen, die mich ungleich mehr fasziniert haben und mir Wärme gaben. Ich habe mich damals innerlich nie wirklich entscheiden müssen zwischen Geld, einer Frau, einem gesicherten, angenehmen Leben und der Kunst.

Tatsächlich zu schaffen gemacht hat mir in dieser Anfangszeit, daß mich meine Empfindungen, Vorstellungen und Absichten immer extremer in Gegensatz zu meiner Umgebung brachten. Die Menschen um mich herum, bald auch die Mitstudenten aus der Werkkunstschule schienen mir alle beschränkt zu sein in dem, was sie machten und dachten. Durch diese Haltung war ich eine Zeitlang sehr gefährdet, was ich durch bäuerische Grobheit und rüdes Verhalten zu überspielen versucht habe. Der Konflikt mit meiner Umgebung wurde noch durch eine gewisse Unsicherheit verschärft, weil ich nach und nach entdeckte, daß es in der Kunst, in der Dichtung, in der Philosophie eine Unmenge verschiedenster Dinge gab, von denen ich überhaupt nichts wußte. Ich kam mir vor wie in dichtem Nebel, durch den ab und zu ein schwaches Licht dringt. Einerseits innerlich ein sicheres Gefühl, daß ich künstlerisch etwas zu sagen habe und der Umgebung mit einem großen Anspruch gegenübertreten kann, und andererseits zu erkennen, daß ich viel zu wenig weiß, viel zu ungebildet bin, um für diesen Anspruch ein sicheres Fundament zu haben, unter diesem Widerspruch habe ich gelitten.

Weil das alles von heute her gesehen allzuleicht heroenhaft klingt, ist es mir wichtig zu sagen, daß ich den Weg, den ich gegangen bin, keineswegs als Modell hinstellen möchte. Ich bin im Alter von einundzwanzig Jahren zwar künstlerisch ungleich weiter gewesen als viele meiner Altersgenossen. Jedoch in bezug darauf, menschliche Beziehungen aufzunehmen und sich darin angemessen zu verhalten, wirkten sie alle weitaus erwachsener als ich. Nicht beides haben zu können, dies war mir bewußt, und hierunter habe ich ebenfalls gelitten.

M.L.: Auch wenn die Entscheidung gegen das ,normale Leben' und für das Künstlersein gefallen ist, dann ist damit doch das ,normale Leben' nicht völlig außer Kraft gesetzt. Auch Künstler können nicht ausschließlich schöpferisch arbeiten, sondern müssen leben - mit allem, was dazugehört: vom Autowaschen bis zum Zähneputzen, und nicht zuletzt sind auch sie vom Geld abhängig. Eine notwendige, oft unterschätzte Voraussetzung für das Gelingen eines künstlerischen Werdeganges liegt gerade in der Bewältigung der normalen Lebensführung, insbesondere im rationellen Umgang mit der Zeit. Wie war das bei dir?

F.E.W.: Als ich von Offenbach weggegangen war und in Frankfurt studiert habe, bin ich nach einer intensiven Studienwoche jeden Freitagabend nach Fulda gefahren, um dort im Betrieb meiner Eltern oder bei einem meiner Onkel für Geld zu jobben. Das war zwar teilweise ziemlich hart, aber es war alles einigermaßen gesichert, so daß ich mich die ganze Zeit weitgehend auf meine Arbeit konzentrieren konnte. Später dann in Düsseldorf habe ich das unverschämte Glück gehabt, daß sich die Johanna um die allermeisten Belange des praktischen Lebens gekümmert und mir darüber hinaus mit dem Nähen sogar noch direkt bei der Arbeit geholfen hat. Nach dem Studium, als dann der Moritz geboren war, habe ich Hausmann gespielt und den Kleinen und den Haushalt, so gut ich konnte, versorgt, während Johanna, die ausgebildete Bekleidungstechnikerin war und ihre eigene berufliche Karriere hintangestellt hatte, das Geld verdiente.

Obwohl der Moritz und dann der Lehmann eine ganze Menge meiner Zeit und Kraft absorbierten, teilweise war es eine physische Überforderung, mußte ich wenigstens nicht aus dem Haus, sondern konnte mich zwischendurch immer wieder zurückziehen und meine Sache weiter betreiben. So war es mir auch nach dem Studium über Jahre möglich, mich ganz meiner Arbeit zu widmen.

M.L.: Bis auf eine gewisse Zeit in New York, wo zwischendurch du mit Tortenverzieren das Geld verdient hast, konntest du dir also die Arbeitsintensität der Studienzeit bewahren. Grundsätzlich geändert hat sich das doch eigentlich erst, als du 1970 - zunächst als Gastprofessor - an die Kunsthochschule nach Hamburg kamst und dort die ersten zwei, drei Jahre fast ununterbrochen mit Studenten gearbeitet hast. Zugleich begann es ja etwa zu dieser Zeit immer häufiger zu werden, daß du mit Ausstellungen und ihrem ganzen Drum und Dran beschäftigt warst. Hat sich dadurch deine Arbeitsweise nicht völlig verändert?

F.E.W.: Die Arbeit an und mit dem „1. Werksatz" hatte meine Kräfte total in Anspruch genommen, und als er 1969 abgeschlossen war, war bei mir zum erstenmal nach Jahren arbeitsmäßig Luft. Ich kann nicht sagen, daß ich durchhing, aber wenn ich anders konstruiert wäre, hätte es vielleicht schon nahegelegen, den Werksatz als meine endgültige Leistung, mein künstlerisches Ende zu betrachten und mich deshalb darauf zu beschränken, mit dem Werksatz zu arbeiten, ihn weiter zu entfalten und möglicherweise eine Lehre darauf aufzubauen. Insofern ich also zwischen '70 und '73 vergleichsweise wenig produziert habe, konnte und wollte ich mich ganz der Hochschule widmen. Ich sah mich als Abbruch- und Aufbauunternehmer zugleich. Denn dort war ja alles neu zu machen. Hätte ich voll in meiner eigenen Arbeit dringehangen, wäre ich mit Sicherheit nicht in Hamburg geblieben. Langsam hat sich dann Stück für Stück der Impuls zur eigenen Arbeit wiederaufgebaut, und ab etwa '73 habe ich sehr intensiv zunächst an den Massen von Diagrammzeichnungen gearbeitet, die in den Jahren zuvor entstanden waren.

Was die Ausstellungen angeht, so kümmere ich mich um ihren Aufbau und um den Katalog schon immer weitgehend selbst, weil ich niemanden habe, der das so kann, wie ich es mir wünsche. Aufbau und Publikation sind bei meinen Arbeiten ja sehr wichtig, weil es die Stücke, wenn sie nicht mit Bild und Wort vorgestellt bzw. sorgfältigst aufgebaut würden, nur als zusammengelegte, gestapelte Bündel gäbe. Deswegen muß ich für die Darstellung der Sache schon einiges tun und investiere einige Zeit dafür. Aber es gehört ja schließlich dazu, und ich habe nicht das Gefühl, daß es der eigentlich künstlerischen Arbeit Abbruch tut. Von einem bestimmten Zeitpunkt an ist es vergeblich zu versuchen, jeden Tag etwas künstlerisch Interessantes, Substantielles zu machen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Erlebnis, das ich vor zwei Jahren in Berlin hatte, während ich meine Ausstellung in der Nationalgalerie aufbaute. Als wir in der Mittagspause zum Essen in die Paris-Bar gehen, sitzt dort Bernd Koberling im Anzug mit Krawatte und nimmt gerade gelassen seinen Kaffee. Zuerst habe ich mir an den Kopf gefaßt und mich gefragt: „Mensch Franz, wann hast du das letzte Mal an einem ganz normalen Tag um diese Zeit so ruhig irgendwo im Cafe gesessen und etwas getrunken?" - Aber dann ist mir klargeworden, daß der Mann ja nicht immer schon um elf, zwölf Uhr inspiriert sein und malen kann, so daß es natürlich ist, daß er halt um die Mittagszeit im Cafe sitzt. Ich sitze stattdessen am Arbeitstisch und zeichne einen Katalog-Entwurf oder beantworte Post, die sich angesammelt hat. Ich vermute, das hat eine ganz ähnliche Funktion bei mir wie beim Bernd das Im-Café-Sitzen.

M.L.: Es entsteht der Eindruck, daß dein bisheriges Leben ausschließlich auf deine künstlerische Arbeit ausgerichtet ist und von ihr bestimmt wird und alles andere lediglich den Rang gewisser unvermeidlicher Notwendigkeiten einnimmt. Kannst du dir etwas vorstellen, was diese Gewichtung ändern und dich zur Einschränkung oder gar zum Abbruch deiner künstlerischen Existenz bewegen könnte?

F.E.W.: Irgendeine äußere Ursache, die mich von der Kunst abbringen würde, müßte schon die Ausmaße einer Katastrophe haben, d. h., es mir physisch unmöglich machen weiterzuarbeiten. Eine Ursache, die in mir selbst läge, Ereignisse in mir, die von solcher Massivität wären, kann ich mir jetzt nicht vorstellen, weil Kunst machen für mich wie Atmen ist - ohne Kunst müßte ich ersticken. Ich habe gar nicht genug Zeit, um das zu tun, was ich zu tun habe, und würde liebend gern Zeit kaufen, wenn man das könnte.

Mir ist des öfteren gesagt worden, wenn man über die Vierzig drüber ist und auf die Fünfzig zugeht, dann entspannen und klären sich die Verhältnisse und anderes, z. B. das ,gute Leben', wird gleichgewichtig oder sogar wichtiger als die Kunst. Entweder weil man das Gefühl hat, das Eigentliche sei getan und alles Kommende könne nur noch so eine Art ,Nachschlag' sein, oder weil man nicht mehr so recht weiß, was man tun soll, und bestenfalls noch von der Substanz der Vergangenheit künstlerisch lebt. Ich kenne etliche Kollegen in meinem Alter, die mittlerweile von den Entwürfen leben, die sie vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren gemacht haben. Wenn eine Position, die ich künstlerisch entwickelt habe, nicht mehr haltbar, überlebt, ausgelaugt wäre und ich dennoch weitermachen würde, nur um etwas zu machen, ich glaube, daran würde ich kaputtgehen. Aber ich bin überzeugt, daß ich diesen Punkt erkennen könnte, an dem ich nicht mehr imstande wäre, künstlerisch zu reagieren, oder diese Reaktion für mich keine Qualität mehr hätte. Dann würde ich sagen: Ab hier nicht mehr, weil jedes Weitermachen die vorhergehende Arbeit beschädigt. Diese Entscheidung wäre für mich sicherlich mit einer schwerwiegenden Krisensituation verbunden, aber sie wäre keine Katastrophe, weil sie dem Schutz der früheren Arbeiten dienen würde und darin ihren Sinn hätte.

Wünschen würde ich mir freilich, daß, wann immer ein bestimmter künstlerischer Entwurf nicht mehr weiterzuführen ist, ich dann auf einen anderen hindränge. Ich bin anscheinend so konstruiert; denn mir ist das bisher im Leben mehrfach passiert: Es gibt einen Einschnitt in meiner Arbeit um 1963, als ich mit den Materialprozessen aufhöre und mit der Arbeit am Werksatz beginne. Als die 1969 endet, folgt eine Umbruchszeit, in der ich zunächst zwei, drei Jahre wenig mache und mich - wie gesagt - auf die Hochschule konzentrierte. Danach werden meine Arbeiten immer strenger, bzw. das noch im Werksatz so expansive Handlungsmoment wird immer mehr reduziert, bis schließlich 1978 eine erneute Wende kommt hin zu den „Wandformationen", die aus einer persönlichen Notwendigkeit heraus entstanden sind.

M.L.: Als Künstler bist du ja - in doppeltem Sinn - der erste Rezipient deiner Arbeiten. Hat sich eigentlich dann, wenn sich deine Arbeit grundlegend geändert hat, auch dein ,normales Leben' irgendwie verändert? Die Kunsterfahrungen sollen doch übertragbar sein.

F.E.W.: Prinzipiell sollen die Erfahrungen, die mit meinen Arbeiten möglich sind, in das Leben verändernd einfließen. Das ist kein plattes Zweck-Nutzen-Denken, sondern eine ideale, aber berechtigte Forderung. Wenn ich mir jedoch mein eigenes Leben angucke, dann muß ich sagen, daß mir die Erfüllung dieser Forderung bis jetzt nicht so recht gelungen ist. Das Alltagsleben besteht für mich aus vielen Situationen, bei denen meine Kunsterfahrungen nicht brauchbar sind.

Vielleicht ist diese Übertragung auf das ,normale Leben' für den Künstler aber auch überhaupt nicht notwendig, weil sein Leben ja mehr als genug durch das künstlerische Produzieren verändert wird - das sollte man nicht vergessen.

M.L.: Diese Veränderung ist nicht so ganz unproblematisch. Denn während man sich mit Recht von der Kunsterfahrung eine positive, z. B. eine bereichernde und läuternde Wirkung auf das Leben erwarten kann, mag man das von der Wirkung des Kunstproduzierens nicht unbedingt behaupten. Die nähere Umgebung eines Künstlers erlebt es jedenfalls recht oft, daß sie ihn beispielsweise daran erinnern muß, daß er nicht alleine auf der Welt lebt. Wie kommst du damit zurecht?

F.E.W.: Mir ist gesagt worden und wird gesagt, daß ich rücksichtslos sei. Ich für mich habe diese Gefühle nicht, sondern tue lediglich konsequent das, was ich für richtig halte. Aber offenbar entsteht alleine schon dadurch auf die Umgebung, die ganz anders denkt, lebt, sich organisiert, ein starker Druck. Ich habe viele Jahre gebraucht, bis ich das Problem überhaupt gesehen bzw. ernst genommen habe, daß meine Notwendigkeiten nicht unbedingt auch die der anderen sein müssen. Andererseits hätte ich ohne eine gewisse Rigorosität das, was ich gemacht habe, in diesem Zeitraum, in dieser Intensität, in dieser Quantität und in diesen Entwicklungsschritten nicht schaffen können. Dabei habe ich jedoch von meiner Umgebung nichts verlangt, was ich nicht selbst tue, sondern ich war mir selbst gegenüber mindestens so rigoros, sonst wäre das Ganze nicht vertretbar - das soll aber keine Entschuldigung sein.

M.L.: Daß auch du dir selbst viel abverlangst, das können die Menschen in deiner Umgebung wohl zurecht für das Mindeste halten, weil es ja schließlich um deine Sache geht.

F.E.W.: Schon - bloß so habe ich das nie gesehen. Ich habe wirklich immer geglaubt, daß meine Arbeit alle betrifft, daß ich sie stellvertretend für viele tue und deswegen nicht egoistisch handle. Daß mich nicht der kleine Künstler-Egoismus: ,aus mir muß was werden, ich will berühmt werden' getrieben hat, da bin ich ziemlich sicher. Das Problem war, daß in der Zeit, als ich noch ganz selbstverständlich vorausgesetzt und verlangt habe, daß mich jeder in meiner Arbeit uneigennützig unterstützt, mir überhaupt kein Widerstand entgegengesetzt worden ist, sonst wäre der Prozeß, über andere bewußter nachzudenken, vielleicht früher in Gang gekommen. Nicht aus bösem Willen oder sonstigen Motiven, sondern im Wahn der Sache habe ich die Würdigung und Erwähnung der Leistung anderer schlicht vergessen.

M.L.: Nachdem du inzwischen die gewissermaßen naive Überzeugung von der Berechtigung, deine Eigenwilligkeiten rigoros durchzusetzen, verloren hast, hat sich da dein konkretes Verhalten wesentlich verändert?

F.E.W.: Eigentlich nicht. Ich handle - wenn auch mit einem anderen Bewußtsein - weiterhin so, daß die Arbeit, von deren Notwendigkeit und Wichtigkeit ich nach wie vor überzeugt bin, nicht beschädigt wird. Hätte ich in diesem Punkt eine Verhaltensänderung vorgenommen, würde ich scheitern oder durchdrehen. Ansonsten aber, wo es die Arbeit nicht direkt betrifft, habe ich mich persönlich in mancher Hinsicht verändert, und das wiederum hat sich auch auf die Arbeit ausgewirkt. Früher habe ich ausschließlich von der Arbeit an sich her ihre Bedeutung beurteilt. Heute sehe ich ihre Bedeutung eher in der Wirkung, die sie auf bestimmte Zusammenhänge, Situationen und einzelne Menschen hin hat. Obwohl ich in der Vergangenheit viel unmittelbarer mit Menschen gearbeitet habe, hat es doch keine bestimmten, konkreten Menschen mit tatsächlichen Reaktionen gegeben, die ich im Auge hatte, sondern immer nur den Menschen schlechthin. Es gab auch so gut wie niemanden, mit dem ich die Arbeiten länger hätte erproben können und der die Forderungen ausgehalten hätte, die ich gestellt habe. Inzwischen kenne ich einige Menschen, die das nicht nur aushalten, sondern mich auf meine Arbeit hin nachdrücklich und kritisch befragen. Daraus ist das Nachdenken über die Wirkung meiner Arbeiten und das Bewußtsein entstanden, daß ich sie letztlich nicht gegen bestehende Bedingungen durchsetzen kann und sollte. Trotzdem könnte ich es gefühlsmäßig nicht akzeptieren, wenn durch diese andere, möglicherweise moderatere Haltung von mir die Arbeit in einer Weise beeinflußt würde, wie ich es künstlerisch nicht vertreten könnte - da wäre Schluß.


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