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Michael Lingner

Freie Kunst? Bestimmung zur Selbstbestimmung

Als noch eklektizistische Bilder von heroischen Arbeitern mit eisernen Fäusten vor dampfenden Hochöfen zum "Ruhm des Sozialismus" gemalt wurden, ist auf diese Unkultur im Westen mit Peinlichkeit und tiefer Verachtung reagiert worden. Dagegen konnte die systemkritisch sich gebärende "Westkunst", die keinen thematischen, stilistischen oder politischen Auflagen unterworfen war, wie ein Fanal der Freiheit wirken. Diese direkte Vergleichsmöglichkeit ist 1989 zwar untergegangen, aber im Rückblick ist es nicht weniger frappierend zu beobachten, wie sehr mittlerweile die kapitalistischen Strategien zur Instrumentalisierung der Kunst im Grunde dem einst als Feindbild dienenden realsozialistischen Kulturverständnis ähneln: Anstelle von verdienten Werktätigen bestimmen nun selbsternannte Leistungsträger das Bild, die mit kühlem Champagner durch minimalistische Skulpturen flanieren. Denn in der legendären "freien Welt" gilt es inzwischen als selbstverständlich und unverzichtbar, die Kunst samt ihrer Institutionen zum "Wohl des Standortes" für Firmenjubiläen, Produktpräsentationen, Prominentenempfänge oder andere Werbeaktionen als Kulisse in Anspruch zu nehmen. Das totalitäre Ausmaß solcher kommerziellen Verwertung der Kunst hat nicht nur etwas ähnlich Banausisches und Erbärmliches wie deren einstige ideologische Indienstnahme für den "sozialistischen Aufbau". Vielmehr entspringen beide Bemächtigungsweisen der Kunst auch einem gleichermaßen primitiven Materialismus und bedeuten eine skandalöse Mißachtung ihrer Freiheit. Unzählige Beispiele für eklatante Eingriffe in die Autonomie der Kunst finden sich fortwährend in den Feuilletons und Fachzeitschriften.

Was ursprünglich als "Autonomie" der Kunst bezeichnet worden ist, meinte ihre auf die Französische Revolution zurückgehende Befreiung von klerikaler und feudalistischer Fremdbestimmung. Diese ökonomische, rechtliche und ideologische Unabhängigkeit von den kirchlichen und höfischen Auftraggebern, die den Beginn der modernen Kunstentwicklung markiert, ist dann später als "Freiheit der Kunst" in den bürgerlichen Verfassungen fixiert und verallgemeinert worden: Fortan sollte die Kunst vor allen äußeren Eingriffen und gegen jegliche Instrumentalisierung geschützt sein. Durch diese zunächst bloß formelle Freiheit war die Autonomie der Kunst zwar abstrakt ermöglicht, aber längst noch nicht in substantieller Weise eingelöst worden. Denn Freiheit als Recht zur Abwehr oder als Zustand der bloßen Abwesenheit von Fremdbestimmung kann nie mehr als nur eine notwendige Voraussetzung für die Selbstbestimmung der Kunst sein. Erst wenn die konkreten künstlerischen Entscheidungen sich tatsächlich selbstbestimmt treffen lassen und getroffen werden, vermag sich jene theoretisch mögliche Freiheit auch praktisch als ästhetische Autonomie verwirklichen, was zur Entstehung von Kunst im neuzeitlichen Sinn führt.

Absolute ästhetische Autonomie zu erlangen, war ein wesentliches Motiv für die Kunst in der Moderne, und es konnte nicht zuletzt aufgrund der Hermetik ihrer Werke und der Proteste des Publikums immer wieder so erscheinen, als ob dieses Ideal tatsächlich erreichbar sei. Aber jenseits aller künstlerischen Intentionen und laienhaften Reaktionen unterliegt Autonomie real immer einer Relativierung. Denn Autonomie ist ein Begriff, der eine bestimmte Relation darstellt und bedeutet nicht die absolute Abgeschlossenheit (= Autarkie) eines Systems gegenüber seiner Umwelt, sondern beschreibt den Modus der Bezugnahme auf seine Umwelt und auf sich selbst. So ist trotz ihrer formellen Freiheit die tatsächliche Autonomie der Kunst davon abhängig, wie diese mit solchen sie unvermeidlich tangierenden äußeren Einflüssen wie etwa bestimmten gesellschaftlichen Ansprüchen, Interessen und Erwartungen, umzugehen vermag. Nur wenn in der Kunst zuallererst nach den Regeln und Werten der ihr eigenen Logik und Kultur entschieden wird, ob überhaupt und auf welche Weise sie externe Einflüsse in ihrer Praxis berücksichtigt, kann von Autonomie zu Recht die Rede sein. Kunst war und ist bis heute nur solange und insoweit relativ autonom, wie es ihr gesellschaftlich ermöglicht wird und künstlerisch gelingt, fremde, äußere Einflüsse als "Bestimmungen zur Selbstbestimmung" (N. Luhmann) aufzugreifen.

In den saturiertesten Zeiten, die Mitteleuropa je gesehen hat, wird unisono und unablässig beschworen, es sei unausweichlich, über unser Leben (z.B. Bildung, Gesundheit) und seine Kultur (z.B. Kunst, Sport) vor allem anderen nach Kriterien einer rein auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Wirtschaftlichkeit zu entscheiden. Je stärker indes diese Art ökonomischer Effizienz, die ursprünglich und primär auf die Regulation des kapitalistischen Wirtschafts-Systems beschränkt war, zum gleichermaßen beherrschenden Faktor in allen übrigen Systemen der Gesellschaft wird, desto mehr verlieren diese ihre Identität und büßen damit eine wesentliche Voraussetzung ein, um sich selbst bestimmen zu können. Auch das Kunstsystem ist inzwischen ökonomisch pervertiert, weil in jedem seiner Bereiche und auf sämtlichen Ebenen sich als absolute Prämisse jeden Handelns die Vermeidung von Kosten und/oder die Erzielung von Gewinnen durchgesetzt hat. Die gesellschaftlichen Ansprüche, Interessen und Erwartungen an das Kunstsystem reduzieren sich so auf seine ausschließlich quantitativ definierte Bestimmung, daß es der Entfaltung einer wirtschaftlichen Dynamik zu dienen hat. Dieser Zielvorgabe werden alle seine qualitativen Aspekte untergeordnet bzw. angepaßt. Wenn aber die Veranlassung von Zahlungen auch zum Endzweck künstlerischer Praxis erhoben wird, sind alle weiteren Versuche ästhetischer Selbstbestimmung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn nur künstlerisch larvierte aber an sich wirtschaftlich motivierte Entscheidungen lassen sich schlechterdings nicht nach den Regeln und Werten kunstspezifischer Logik und Kultur, also keinesfalls in Ausübung ästhetischer Selbstbestimmung treffen. An der weitgehenden Eliminierung der künstlerischen Freiheit und ästhetischen Autonomie werden die verheerenden Folgen einer zunehmend diktatorischen Verwirtschaftlichung der Welt auf exemplarische Weise deutlich.

Durch die kommerzielle Gleichschaltung des Kunstsystems hat sich bei Künstlern, Kuratoren und sogar den Kritikern genauso wie an den Akademien und Ausstellungssinstituten bis hin zu den Architekturen überall der monomane Gestus des Werbens um Aufmerksamkeit und Anerkennung als Verhaltensmuster durchgesetzt. Im andauernden beflissenen Bemühen, durch breite Akzeptanz sich die Gunst des Geldes und damit die eigene Existenzberechtigung zu sichern, mutiert der einstige künstlerische Avantgardismus zu einem modisch maskierten Traditionalismus, der inzwischen die Strukturen und Mentalitäten in der Kunst auf eine paradoxe, wenn nicht perfide zu nennende Weise tief geprägt hat: je weiter der Autonomieverlust faktisch fortschreitet, desto rigider und raffinierter wird im Kunstsystem so operiert, als ob losgelöst von den realen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die alte Autonomie der Kunst ungebrochen fortbesteht. So gehört es zu den unabdingbaren institutionellen Voraussetzungen, denen sich Kunst heute anpassen muß, daß sich Werke wie Schöpferinnen so präsentieren (lassen), daß sie weiter als autonom erscheinen. Wenn die entsprechenden Verleugnungs-, Verstellungs- oder Verdrängungsleistungen nicht erbracht werden, ist mit der Gunst des Kunstbetriebes kaum zu rechnen. Der Anschein der Werk- und Künstlerautonomie wird permanent und penetrant ganz wesentlich durch drei - zumeist unausgesprochen bleibende - Dogmen aufrechterhalten, welche die Praxis des Kunstsystems dominieren, auch wenn sie aufgrund der modernen Kunstentwicklung eigentlich längst obsolet und theoretisch allemal unhaltbar geworden sind:

Allen Auflösungserscheinungen, Erweiterungen und Entmaterialisierungen des Kunstbegriffs entgegen, wird weiter an der Illusion einer das Dingliche und Geistige umfassenden objekthaften Einheit des Werkes festgehalten. Diese überkommene, allenfalls noch gegenüber historischer Kunst adäquate Vorstellung beruht auf der vermeintlich empirischen Tatsache, daß künstlerische Formung es vermag, Gegenstände mit besonderen, sie als Werk auszeichnenden Eigenschaften hervorzubringen und ihnen so einen Kunst-Wert zu verleihen. Daß selbstverständlich angenommen wird, die materielle Qualität der Objekte sei gänzlich und ausschließlich für ihre Qualität als Kunst bestimmend, nährt den vorherrschenden schlichten, aber umso unerschütterlichen Glauben an die Kunstautonomie. Von dem Vorurteil, das Kunstwerk könne den Kunstwert verkörpern und habe darum auch einen Waren-Wert, lebt nicht zuletzt der gesamte Kunsthandel und trägt darum zur andauernden faktischen Bestätigung des Irrglaubens bei.

Zweitens gehört zur herrschenden Ideologie der Kunst immer noch das Postulat ihrer Zweckfreiheit. Diese für den anfänglichen Autonomisierungsprozess der Kunst historisch wichtige Idealvorstellung, nach der das wahre Werk nur sich selbst zu genügen habe und ohne bestimmte Zwecke produziert und entsprechend interesselos auch rezipiert werden solle, ist freilich inzwischen mehr als fragwürdig geworden. Denn selbst die ausschließlich der "freien" Kunst gewidmeten Museen tun heute letztlich nichts anderes, als die Werke etwa auf ästhetische oder wissenschaftliche Weise zweckhaft in Gebrauch zu nehmen, um sie wirtschaftlich zu verwerten. Gleichwohl wird weiter die Behauptung aufrecht erhalten, Kunst sei zweckfrei und autonom, indem dafür sehr vordergründige Beurteilungskriterien angelegt werden: Die Autonomie eines Werkes gilt bereits dann als gewährleistet, wenn es keinen irgendwie gearteten praktischen Gebrauchswert und keine direkten Absichten offenbart. Sind indes nützliche Funktionen oder etwa intellektuelle Ansprüche zu erkennen, wird das Werk sofort als "angewandt" oder "didaktisch" abgetan und der "freien" Kunst nicht mehr zugerechnet. Die Disqualifizierung jeder unmittelbaren Brauchbarkeit widerspricht indes nur scheinbar den vorherrschenden Verwertungsabsichten. Denn wenn die Werke offensichtlich keine eigenen Zwecke verfolgen, weisen sie eine hochgradige, als Autonomie verkannte Unterbestimmtheit auf, die ihre unproblematische, unspezifische und universale nachträgliche Instrumentalisierung für alle möglichen Zwecke umso leichter macht. Gleichermaßen entspricht es dem wirtschaftlichen Interesse, Zweckfreiheit zu einem wesentlichen und exklusiven Wert autonomer Kunst zu erklären, um diese ökonomisch brisante Vorstellung ganz und gar aus der realen in die idealische Welt der Kunst zu verbannen.

Drittens wird schließlich geradezu fundamentalistisch daran festgehalten, daß sich die Bedeutung und Geltung der Kunst ganz im Symbolischen zu erschöpfen habe. Um ihren Status als Kunst nicht zu riskieren, soll sie sich darauf beschränken, allenfalls von, aber keinesfalls in der außerästhetischen Realität zu handeln. Jede künstlerische Intervention, die über die unbestimmte Beeinflussung des subjektiven Bewußtseins hinauszielt und direkt in die gesellschaftliche Wirklichkeit einzugreifen sucht, gilt als illegitime Überschreitung der Kunst und Gefährdung ihrer Autonomie. Von dieser Reduzierung der Kunst auf ihre reine Symbolfunktion ist heute gerade und ganz besonders auch ihr Autonomieanspruch betroffen. Denn angesichts der damit einhergehenden prinzipiell politischen Implikationen wird von einer wegen ihres privatistischen Charakters goutierten und für ihren Opportunismus honorierten Kunst allemal erwartet, keinesfalls über die bloß symbolische Darstellung von Autonomie hinauszugehen. Gefragt sind ausschließlich Kunststücke, die sich mit der unverbindlichen Symbolisierung von Autonomie begnügen und zu nichts anderem als einer gleichermaßen folgenlos bleibenden bewundernden Betrachtung dieses Phänomens geschaffen sind. Wenn Kunst dagegen die Realisierung von Autonomie etwa durch Partizipation ermöglichen will, wird sie ausgegrenzt. Aufgrund der Initiierung eigensinniger Selbstorganisationsprozesse könnte sie sich ja dann der Indienstnahme für beliebige Wirtschaftsinteressen entziehen. Um zu Repräsentationszwecken und zur Imagepflege schadlos von den der Autonomie innewohnenden emanzipatorischen Werten wie Liberalität, Modernität und Progressivität profitieren zu können, wird sie ausschließlich symbolisch neutralisiert zugelassen und zur Schau gestellt. Die nach der postmodernen Befreiungsofferte des "anything goes" endgültig banal und lapidar gewordene Kunst der Symbolisierung von Autonomie erweist sich gleichwohl als überaus resistent, weil ihr die billige Befriedigung eines verbreiteten Bedürfnisses gelingt: Sie verspricht, sich mit dem Nimbus von Autonomie schmücken zu können, ohne den Anstrengungen und Risiken tatsächlicher Selbstbestimmung ausgesetzt zu sein.

Unter den geistlosen Bedingungen unserer monokulturellen Wirtschaftsgesellschaft wird Autonomie gleichsam ornamental benutzt und Kunst als Freiheits-Dekor produziert oder verwertet. Künstlerische Autonomie verkommt mehr und mehr zu einem äußerlichen Sujet, Thema oder Gestus und wird - wie gewünscht - nur mehr simuliert. Indem Autonomie sogar in der Kunst einen rein fiktiven Charakter bekommt, wird jede Möglichkeit ihrer faktischen Verwirklichung geleugnet und damit auch der humanistische Wert des "Projektes Kunst" in Frage gestellt. Denn wie ohne wirkliche Selbstbestimmung wahre Demokratie undenkbar ist, so hat Autonomie gleichermaßen eine entscheidende Funktion für die kulturelle Qualität und Fortsetzbarkeit von Kunst überhaupt. Keinesfalls ist sie ein überkommenes ideologisches Relikt oder eine bloße Reminiszenz an die aufklärerische Moderne von bloß noch nostalgischer oder moralischer Bedeutung. Umso dringlicher ist es, die für Kunst notwendige Freiheit zurückzugewinnen und ästhetische Autonomie wieder zu ermöglichen. Ein erster, möglicherweise schwerster, aber sofort vollziehbarer Schritt besteht darin, sich an der Fortsetzung der andauernden Vortäuschung des autonomen Status von Kunst nicht weiter zu beteiligen. Zudem kann zur Überwindung dieses spätkapitalistischen Illusionismus beitragen, künstlerische Produkte immer wieder im Hinblick auf die diagnostizierte deprimierende Pseudoautonomie der herrschenden Gegenwartskunst zu diskutieren, zu kritisieren und dabei die ihr zugrundeliegenden Dogmen zu dekonstruieren. Um darüberhinaus Perspektiven für eine andere künstlerische Praxis zu schaffen, verspricht insbesondere die Auseinandersetzung mit dem idealistischen Postulat der Zweckfreiheit von Kunst fruchtbar zu sein. Die Erfindung und Formulierung wirklicher ästh-ethischer Gebrauchswerte, die jenseits wirtschaftlicher Verwertungsinteressen in einer Kultur des kommunikativen Handelns zur Entfaltung gebracht werden, vermag zwar die Autonomie der Kunst wohl auch nicht zu retten. Viel wichtiger war und ist aber allemal die durch Kunst Menschen möglich werdende Autonomie. Es stellt sich dann die Frage:

Wie kann Kunst zum Medium der Selbstbestimmung gemacht werden? Zum Beispiel so?

1950 geboren in Dessau - Professor an der Staatl. Hochschule für bildende Künste Hamburg - nach dem Studium der Kunst, Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte arbeitet er seit 1978 als Künstler / Theoretiker in Hamburg


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