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Michael Lingner

Kunst im Konjunktiv

Eine Ausstellung als Aktionsprogramm

Die Produktion und Rezeption von Kunst wird bis heute von der Auffassung beherrscht, daß das Kunsthafte in der Besonderheit bestimmter Eigenschaften eines Gegenstandes besteht. Diese Eigenschaften werden als das Ergebnis künstlerischer Formung angesehen, und dem Gegenstand, der sie aufweist, wird das Attribut »Werk« zuteil. Davon ausgehend, daß die kunsthaften Eigenschaften dem Gegenstand gleichsam objektiv eigen sind, wird das wahre Werk letztlich für zeitlos gehalten. Damit einhergeht die Erwartung, daß die Werke durch ihre bloße Existenz das Dasein der Kunst garantieren und durch ihre ästhetischen Merkmale unmittelbar zur Anschauung bringen. Sollte die Kunst sich trotzdem nicht offenbaren, wird die Bildung des Betrachters oder die Qualität des Werkes bezweifelt.

Die Qualität von Werken der modernen Kunst wird wesentlich danach beurteilt, ob sie aus solchen Entscheidungen des Künstlers resultieren, die das Kriterium erfüllen, von höchster UNWAHRSCHEINLICHKEIT zu sein. Der vom Künstler getroffenen freien, individuellen WAHL von Ideen, Materialien, Formen und Farben... werden die überraschend unwahrscheinlichen Eigenschaften zugeschrieben, die den Kunstgegenstand auszeichnen. Eine derartige Wahl verlangt dem Künstler ein außerordentliches Maß an SELBSTBESTIMMUNG ab, das darum als entscheidend für die authentische Einmaligkeit der Werke gilt. Deren Originalität wird als ein einzigartiger und unwiederholbarer Ausdruck der autonomen Künstlerpersönlichkeit und der Autonomie von Kunst überhaupt angesehen. Wer wollte daran zweifeln, daß die Erlangung ästhetischer Autonomie, die das zentrale Thema des folgenden Textes bildet, sowohl motivierende Maxime als auch kultureller Kern der gesamten modernen Kunstentwicklung ist?

Wenn Kunst als eine kraft künstlerischer Formung geschaffene, spezifische Daseinsform der Materie aufgefaßt wird, so liegt es auf der Hand, daß für die einzig angemessene Weise ihrer Rezeption die BETRACHTUNG bzw. Kontemplation gehalten wird. Solange diese Beschränkung gilt, wird allerdings die ästhetische Autonomie ausschließlich der Kunst und dem Künstler vorbehalten bleiben. Denn der Betrachter eines Bildes, kann dessen Autonomie zwar bewundern, verachten oder ignorieren, aber seine eigenen Möglichkeiten der Selbstbestimmung werden dadurch AKTUELL überhaupt nicht und GENERELL bestenfalls sehr indirekt beeinflußt. Nur nach dem Credo der mittelalterlichen Mystik »Du wirst, was du siehst« wäre eine direkte Übertragung der Autonomie durch die Eigenschaften des Bildwerkes möglich. Doch ohne die Annahme eines solchen Mirakels kann sich die künstlerische Autonomie für den bloßen Betrachter keinesfalls verwirklichen und ihm selbst unwahrscheinliche Entscheidungen ermöglichen - es sei denn, er begänne ebenfalls zu malen.

Der anhaltenden bürgerlichen Verklärung der Kunst zum reinen SYMBOL von Autonomie und der damit einhergehenden Verbannung des allgemeinen Anspruchs auf Selbstbestimmung aus der Lebenswirklichkeit haben die Meister der Moderne von Anbeginn bewußt entgegengearbeitet. Seit der Romantik sind kontinuierlich Formen »offener Werke« im Sinne Umberto Ecos entwickelt worden, die immer stärker an die EINBILDUNGSKRAFT der Betrachter appellieren. Durch diese gezielte Erweiterung der Kunstrezeption um die mehr oder minder unwahrscheinlichen Phantasien der Betrachter hat sich deren tatsächliche Teilhabe an der künstlerischen Autonomie zunehmend gesteigert. Doch obwohl sich die Rezeption nicht länger auf die von den Künstlern materialisierten Unwahrscheinlichkeiten beschränken muß, können die Betrachter nach wie vor lediglich im Reich ihrer VORSTELLUNGEN wählen und entscheiden, ohne daß dadurch die äußere Wirklichkeit beeinflußt würde. Die ästhetische Selbstbestimmung der Betrachter ist weiterhin bloß fiktiv aber nicht faktisch, wie sehr die Kunsthaftigkeit der Werke auch von den unvorhersehbaren Betrachteraktivitäten abhängig wird und sich nicht mehr hinreichend durch materiale Eigenschaften definieren läßt.

Zu einem eminenten Entwicklungsschritt im Sinne der Erlangung ästhetischer Autonomie kommt es in der Kunst der 60er Jahre. Daß die künstlerischen Möglichkeiten der unwahrscheinlichen Formung von Materie als erschöpft und trivial empfunden werden, führt zu einer extremen Entmaterialisierung der Kunst. Es wird versucht, sie von den ästhetischen EIGENSCHAFTEN der Objekte unabhängiger zu machen und in die ERFAHRUNG der Rezipienten übergehen zu lassen. Indem dazu die »Objekte« für eine tatsächliche HANDELNDE BETEILIGUNG der Rezipienten konzipiert werden, verlieren sie ihren Status als »Werke« und werden zu Werk-Zeugen. Die Brauchbarkeit der »Objekte« sowie jeglicher künstlerischer Arbeit bemißt sich dann danach, ob es durch sie wahrscheinlicher wird, daß die Handlungsentscheidungen der Rezipienten an Unwahrscheinlichkeit gewinnen können. Auch wenn »Unwahrscheinlichkeit« nur eine der notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingungen des Ästhetischen ist, werden in jedem Fall die Entscheidungen der Rezipienten konstitutiv für das Kunstgeschehen. Mit ihren prinzipiell unerschöpflichen Handlungsmöglichkeiten fungieren sie nun auch als Unwahrscheinlichkeits-Generatoren und relativieren die Künstler und ihre Werke in dieser Rolle.

Von einer besonderen Daseinsform der Materie hat sich die Kunst zu einem spezifischen, auf unwahrscheinliche Handlungsentscheidungen gerichteten Selektionsmodus des Geistes entwickelt. Die weiterhin verbreitete materialistische Verdinglichung der Kunst und die primitiven Praktiken ihrer Kommerzialisierung haben sich historisch längst überholt. Statt als bloßes SYMBOL von Autonomie deren realen Mangel in der Gesellschaft nur zu kaschieren, könnte die Kunst längst zu einem MEDIUM der Autonomisierung geworden sein, das dem Publikum die Erfahrung ästhetischer Selbstbestimmung ermöglicht. Dazu wäre es freilich erforderlich, nicht mehr die - ohnehin fragwürdig gewordene - Autonomie der Kunst oder des Künstlers zum Mittelpunkt ästhetischer Praxis zu machen, sondern die Autonomisierung DURCH Kunst. Wer indes Selbstbestimmung, wie sie Peter Sloterdijk in unserem medialen Zeitalter als »INTENSIVIERUNG DER TEILHABE« für immer wichtiger hält, exemplarisch durch Kunst zu erreichen sucht, kann auf eine über die Betrachtung hinausgehende handelnde Beteiligung des »Publikums« nicht verzichten.

Die Destabilisierung des bisherigen Wert- und Warencharakters der Kunst oder gar der bestehenden Machtverhältnisse in der Gesellschaft fürchtend, protegieren die momentan übermächtigen wirtschaftlichen Interessen massiv die herkömmlichen werkzentrierten Produktions- und Rezeptionsformen von Kunst. Abgesehen davon gibt es aber auch noch andere Probleme, welche die Durchsetzung der Auffassung nicht gerade erleichtern, Kunst habe Zukunft als ein Partizipation ermöglichendes Medium: Die mit der Dematerialisation der Kunst einhergehende Autorisierung des Publikums zum ästhetischen Handeln verwandelt Kunst in eine reine MÖGLICHKEITSFORM. Gemessen am tradierten Werkbegriff existiert sie als »Kunst ohne Eigenschaften« nur noch im Konjunktiv. Indem die künstlerischen Materialisationen mehr eine notwendige Voraussetzung als die anschauliche Verkörperung von Kunst sind, liegt ihr primärer Wert darin, so etwas wie ästhetische Potentiale zu sein.

Von Michael Dörner wird zwar die Werkhaftigkeit seiner Arbeiten nicht zugunsten ihrer medialen Funktion absolut ausgeschlossen und bei ihrer Rezeption die Grenze zwischen fiktivem und faktischem Handeln eher umspielt als streng gewahrt. Aber gerade an der intensiven Thematisierung dieser Spannungsverhältnisse zeigt sich seine Affinität zu dem Konzept einer »Intensivierung der Teilhabe« des Publikums. Wie bei aller konjunktivischen Kunst so hat sich auch bei seinen Arbeiten die übliche Präsentationsform der »Ausstellung« als äußerst unzureichend erwiesen, um die tatsächliche ERFAHRUNG ästhetischer Selbstbestimmung zu ermöglichen und nicht nur rein informativ, kognitiv oder suggestiv eine IDEE davon zu vermitteln. Statt als eine objektfixierte Maschinerie zu funktionieren, durch welche die andernorts vorproduzierte Kunst lediglich reproduziert und konsumiert wird, mußte die Ausstellung als ein Programm zur Involvierung und Aktivierung des Publikums INSZENIERT werden.

Wenn sich das Publikum beteiligt und handelt, geht es nicht um die Erfüllung eines bestimmten, vom Künstler allein intendierten Zwecks. Das ästhetische Handeln entspricht nicht dem Typus des zweckrationalen, ergebnisfixierten Handelns. Vielmehr ist es als eine auf die Beobachtung seines eigenen Vollzugs gerichtete sowie auf die Komplexität der situativen und personalen Gegebenheiten eingehende Aktivität primär prozeßorientiert und KOMMUNIKATIV. Insofern kam es darauf an, die Ausstellung räumlich und zeitlich so einzurichten, daß sich durch entsprechende Installationen von Objekten sowie Interventionen von Personen geeignete Anlässe und Bedingungen für Kommunikationsprozesse ergaben. Die sterile, Kunst lediglich konservierende Form der Standardausstellung war in ein Kommunikation generierendes Medium zu verwandeln.

Nach der Theorie von Niklas Luhmann vollzieht sich Kommunikation als ein »Prozessieren von Selektionen«. Das macht ein andauerndes faktisches Entscheiden und Handeln jedes Kommunizierenden ebenso unvermeidbar wie seine stete Bezugnahme auf mögliche Adressaten seiner Kommunikation. Insofern war es bei der Projektierung der Ausstellung weniger wichtig, die optimalen Voraussetzungen für die egozentrische Autokommunikation von Betrachtern vor Werken zu schaffen, sondern der sozialen INTERAKTION zwischen den Beteiligten die besten Bedingungen zu bieten. Dabei mußten alle Überlegungen und Anstrengungen darauf konzentriert werden, wie sich eine maximale MOTIVATION des Publikums zur Beteiligung erreichen ließ. Denn nur wenn auch tatsächlich kommunikativ gehandelt wird, müssen überhaupt Entscheidungen und Selektionen getroffen werden und es kann - abhängig von deren Grad an Selbstbestimmtheit und Unwahrscheinlichkeit - ausschließlich dann zur Entstehung ästhetischer Qualitäten kommen. Andernfalls bliebe alles völlig virtuell.

Nach dem Scheitern der in der Kunst der 6oer Jahre entwickelten Handlungskonzeptionen, die als utopische Ideen abgetan werden, mögen die neuerlichen Ambitionen, das Publikum tatsächlich zu beteiligen, erstaunen. Indes besteht der entscheidende Unterschied zu den früher unternommenen Versuchen darin, daß mit einer bewußten Anknüpfung an lebensweltliche Interessen (wie etwa Essen und Spielen oder Astrologie und Psychologie) gearbeitet wird, was von der Kunst bisher tabuisiert worden ist. Es wird ein konkreter, in die allgemeine Lebenswirklichkeit integrierter Handlungsrahmen angeboten, der nicht ausschließlich der Welt der Kunst zugehört. Insofern muß sich das Publikum nicht mehr von vornherein dem umfassenden, Unsicherheit erzeugenden und zumeist blockierenden Anspruch ausgesetzt sehen, »Kunst« machen oder verstehen zu müssen.

Die aus wohlvertrauten lebensweltlichen Zusammenhängen stammenden Anlässe MOTIVIEREN freilich nicht nur zum Handeln schlechthin, sondern geben diesem zugleich auch einen Einstieg und einen Drift, so daß die gewöhnliche Zurückhaltung aktiv zu werden überwindbar wird. Um nicht die eigenen und fremden Erwartungen zu enttäuschen, lassen derartige Situationen und ihre Bewältigung schließlich gar nichts anderes zu, als teilzunehmen. Selbst wer versuchte, sich gar nicht zu verhalten, kommuniziert und wird zum Handelnden, um so mehr es gelingt, den öffentlichen Ausstellungsort in einen privaten Lebensraum zu transformieren. Vor allem aber ist es die von der Avantgardekunst verfemte LUST die durch ansprechende Umstände ins Spiel kommt und als größter Attraktor bewirkt, daß die Möglichkeit ästhetischer Selbstbestimmung als Kern der Kunst für prinzipiell jedermann wirklich werden kann.

"Wechsel im Konjunktiv" hieß eine Ausstellung von Michael Dörner, Jörg Rode und Günther Rost in der Galerie Vera Munro, Hamburg 1988.

Michael LINGNER arbeitet als Künstler/Theoretiker seit 1973 in Hamburg und lehrt als Professor für Kunsttheorie seit 1986 an der HfbK Hamburg.


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