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Michael Lingner

Ist das Künstlerische heute noch durch Lehre fortsetzbar?

Wenn ich mich richtig erinnere, muß es 1991 gewesen sein, als ich schon einmal hier war und auf Einladung von Manfred Zoller über die Kunst der Romantik sprach und versucht habe, die von ihr ebenso wie von der idealistischen Ästhetik ausgehende aufklärerische Tradition zu rekonstruieren. Ich weiß noch sehr genau, daß damals hier große Unsicherheit und auch ziemlicher Pessimismus über die Zukunft dieser Hochschule herrschte. Umso mehr freue ich mich, daß Sie jetzt Ihren 50jährigen Geburtstag feiern können und mich dazu eingeladen haben.

Ein Jubiläum verführt natürlich dazu, innezuhalten und mehr oder minder zufrieden zurückzuschauen. Aber gleichermaßen verpflichtet es auch, vorauszuschauen und sich zu fragen, ob und wie es denn in Zukunft weitergeht. Ich habe diese Frage allgemein und in Bezug auf das formuliert, was allen, die an einer Kunsthochschule tätig sind - seien es Studierende oder Lehrende - gleichermaßen am Herzen liegen sollte, nämlich das Künstlerische und die Lehre. Also soll mein Thema lauten: Ist das Künstlerische heute durch Lehre noch fortsetzbar?

Die Brisanz dieser Formulierung liegt in der Infragestellung der Fortsetzbarkeit; d.h. es wird nicht mehr davon ausgegangen, daß die Fortexistenz solch fundamentaler Kulturformen wie der Kunst garantiert ist oder eigentlich doch fraglos sein sollte. Und daß ausgerechnet - könnte man sagen - die Lehre für die Kunst eine wesentliche Funktion haben soll, was als unausgesprochene Behauptung jeder Kunsthochschule zugrundeliegt, setze ich auch nicht mehr selbstverständlich voraus. Nun ist es sicher nicht meine Lust am Untergang, sondern ganz im Gegenteil Liebe zur Kunst und ein Hang zur Lehre, die mich veranlassen, davon auszugehen, daß die Möglichkeit, Kunst durch Lehre fortzusetzen, heute bedroht ist.

Zunächst möchte ich über einige Gründe sprechen, warum ich die Kunst heute für gefährdet halte, um dann auf die Problemlage einzugehen, in der sich die Lehre der Kunst heute befindet. Bei meiner Argumentation konzentriere ich mich auf die Entwicklungstendenzen, die der modernen Kunst und Kunstlehre immanent sind, weil wir nur diese durch unsere Arbeit bestenfalls auch selbst verändern können; auf die möglichen großen Natur-, Kriegs- oder Finanzkatastrophen hat der Einzelne letztlich keinen Einfluß und die tatsächlichen kleinen Katastrophen, wie etwa eine als Wirtschaftsund Finanzpolitik getarnte Kulturpolitik, machen es umso dringlicher, daß zumindest wir unserer Verantwortung für Kunst und Lehre durch eine realistische Eigenanalyse sowie entsprechendes Handeln gerecht zu werden versuchen.

Falls meine Überlegungen aufgrund der Vortragsform etwas verkürzt und schlagwortartig wirken mögen, bitte ich Sie, mir dies nachzusehen. Und wenn Ihnen indes meine aus der Betrachtung der Westkunst und Westakademien gewonnen Einschätzungen für Ihre Situation als überzogen dargestellt oder gar nicht recht zutreffend erscheinen, dann sollten Sie berücksichtigen, daß Ihnen vergleichbare Probleme sehr wahrscheinlich noch bevorstehen.

I.

Ich wende mich also zunächst der Kunst und ihrer gegenwärtigen Problematik zu: Es ist keine Frage, daß die Geschichte der modernen Kunst nach der Französischen Revolution untrennbar mit dem Begriff der Autonomie und dem künstlerischen Streben nach immer größerer Selbstbestimmung verbunden ist. Die Kehrseite davon ist, daß die autonome Kunst, die außerkünstlerischen, als existenznotwendig geltenden Zwecken und Normen immer weniger unterworfen ist, zunehmend strukturell unter Bestimmungslosigkeit leidet. Dieses Defizit verschärft sich, je entschiedener sich die Kunst auch noch aus jedem Natur- und Gegenstandsbezug löst und am Anfang des 20. Jahrhunderts abstrakt wird. Um der dabei drohenden Willkür in Produktion und Rezeption zu entgehen, ist die Kunst auf die Entwicklung eigener, ihr »immanenter Notwendigkeiten« angewiesen. Bekanntlich gelingt es der modernen Kunst erstmals mit der ungegenständlichen, absoluten Malerei, in sich selbst und ihren Mitteln »innere Notwendigkeit« zu entdecken. Auf diese Weise vermag sie ihre Autonomie zu wahren und zugleich mit der Fülle des ästhetisch Möglichen produktiv umzugehen und Beliebigkeit zu vermeiden.

Die meisten Künstler der Moderne waren ebenso wie Kandinsky von der Überzeugung getragen, daß in allen von ihnen als Kriterien für ihre Formentscheidung aufgebotenen Notwendigkeiten »die geistige Kraft des Objektiven ...zum Ausdruck« kommt. Darum traten die durchweg aus weltanschaulichen, wissenschaftlichen oder ideologischen Programmen und dann schließlich aus Kunstkonzepten abgeleiteten künstlerischen Notwendigkeiten stets mit einem Absolutheitsanspruch auf, der nichts anderes neben sich zuließ. Dem Geschichtsmodell einer linearen und progressiven Entwicklung folgend, gab es immer nur die je eine absolut avantgardistische Position, von der die früheren künstlerischen Avantgarden und alle anderen Kunstvorstellungen auf die Plätze verwiesen wurden. Die Auffassung, daß der jeweils letzte avantgardistische Wurf alle früheren Positionen in sich aufhebe, - in des Wortes dreifacher Bedeutung von Bewahren, Überwinden und Erhöhen - sicherte die Kontinuität und Stimmigkeit des Avantgardeprinzips.

Während die Kunst der Moderne wesentlich vom Mechanismus der »inneren Notwendigkeit« angetrieben wurde, läßt sich die Postmoderne - oder wie immer jener die Moderne verabschiedende Paradigmenwechsel heißen soll - dagegen als Phase der Bewußtwerdung begreifen, in der jede avantgardistische Notwendigkeits- und Absolutheitsvorstellung gleichsam als eine Kreativitätsmaschinerie (oder Duchampsche »Junggesellenmaschine«) durchschaubar und dubios wird. Diese Relativierung - so viele allgemeingesellschaftliche Ursachen sie haben mag - liegt auch in der inneren Logik der Avantgardekunst selbst begründet.

Durch den ihr innewohnenden Innovationszwang ist es zu einer steten Beschleunigung der Produktion gekommen, so daß für die künstlerischen Entscheidungen sich immer schwerer Notwendigkeiten haben aufbieten lassen. Umso schneller eine Notwendigkeit die andere ablöste, desto mehr wurden sie durch ihre quantitative Potenzierung und qualitative Pluralisierung entwertet und als bloß subjektive Konstrukte erkennbar. Anstelle der Dominanz einer einzigen ist es schließlich zur Kontingenz vieler miteinander konkurrierender Notwendigkeits-Behauptungen gekommen. Sie sind wegen ihres Verlustes an Geltung und Glaubwürdigkeit als künstlerisches Produktionsprinzip zunehmend unbrauchbar geworden.

Bis auf wenige Ausnahmen vermag es die gegenwärtige Kunstpraxis noch nicht, ihrem postmodernen Bewußtseins- und Entwicklungsstand gerecht zu werden und in der Praxis ohne die Inanspruchnahme von Notwendigkeiten auszukommen: Ob es sich etwa um die Zwänge des Betriebssystems Kunst, die Gefahren der neuen Medien und Technologien, die Rigorismen der political correctness oder um die Bedingtheiten sozialer Kontexte, die Bedrohung von Körper und Natur oder die Macht spiritueller Eingebungen handelt, immer und überall wird nun nach äußeren Notwendigkeiten gesucht, nachdem die der Kunst immanenten obsolet geworden sind.

Statt sich von der Notwendigkeit als primären Orientierungspunkt ihrer Praxis endlich überhaupt zu verabschieden, konstruieren die Künstler weiter pseudo-objektive Notwendigkeiten, die zwar manchmal auch von moralischer und gesellschaftlicher Verantwortung motiviert sein mögen. Aber immer dienen sie vor allem dazu, die ästhetischen Entscheidungen abzusichern und als zwingend erscheinen zu lassen.

Die Grundschwierigkeit für die künftige Fortsetzbarkeit der Kunst besteht also darin, den Verlust der kunstimmanenten Notwendigkeiten zuzulassen, ohne sich der Beliebigkeit kunstextremer Pseudo-Notwendigkeiten (visueller Journalismus) zu überlassen.

Zur Auseinandersetzung mit dieser Problematik gibt es nach meiner Auffassung keine akzeptable Alternative: Würde der spätestens seit Nietzsche theoretisch erschütterte und von der modernen Kunst praktisch ad absurdum geführte Glaube weiter aufrechterhalten, daß jegliches Seiende erkennbar einen notwendigen Grund für sein Da- und Sosein habe, käme das der vom Konservatismus erträumten Umkehrung des bisherigen Prozesses der Selbstaufklärung der Kunst und der Selbstbefreiung des Individuums gleich. Aber wenn ohne den Rückgriff auf vermeintliche Notwendigkeiten prinzipiell überhaupt keine Unterscheidung und Auswahl mehr getroffen werden könnte, die nicht rein zufällig wäre, bedeutete dies das völlige Verschwinden ästhetischer Kompetenz und Kultur.

Ob es in der Kunst gelingt, Kriterien zu kultivieren, nach denen bedeutsame ästhetische Entscheidungen jenseits des Notwendigkeitsprinzips getroffen werden können, ist sehr fraglich. Umsomehr als das Gelingen nicht allein vom Vermögen der Kunst abhängt, sondern auch von ihrem kulturellen Umfeld, was die mögliche Fortsetzbarkeit der Kunst nicht gerade wahrscheinlicher macht: Denn für unsere Gegenwartskultur sind zwei Tendenzen prägend, die sich wechselseitig verstärken: Die extreme Erlebnisorientierung der Menschen und eine immer umfassendere Ästhetisierung der Dingwelt. Ein Lebensgefühl hat sich verbreitet - und sei es nur als Wunschvorstellung -, welches nicht mehr davon bestimmt ist, den Kampf ums Dasein zu bestehen. Trotz »allem Krisenbewußtsein ... (gilt) das Leben als garantiert« und für die meisten kommt es nach den Untersuchungen des Bamberger Kultursoziologen Gerhard Schulze vor allem »darauf an, es so zu verbringen, daß man das Gefühl hat, es lohne sich.« Das »Projekt des Schönen Lebens« zu verwirklichen, darin liegt der Brennpunkt allen Begehrens, das von den Begrenzungen des Daseins nichts wissen will. Anstelle des Notwendigen fungiert überall der Genuß als entscheidender Attraktor für das Erleben und Handeln.

Unsere »Erlebnisgesellschaft«, wie sie Schulze in seinem gleichnamigen Buch klassifiziert hat, bildet die Drift aus, möglichst alles als eine dem Belieben des Einzelnen überlassene Geschmackssache anzusehen. Sogar die ökologischen Diskussionen und Aktionen sind nicht mehr auf das bloße Überleben fixiert, sondern berücksichtigen inzwischen gleichermaßen den Aspekt der Erlebnisqualität. Insofern ist die zunächst provokant erscheinende These eines Mitarbeiters des renommierten »Wuppertaler Umweltinstituts«, daß »Geschmacksbildung... wichtiger als Naturschutz« sei, nur konsequent.

Von allen Lebensbereichen wird erwartet, daß ein Überangebot an Wahlmöglichkeiten besteht, aus dem sich jeder nach seinem persönlichen Geschmack und Lustempfinden bedienen kann. Dieser hedonistische Hang führt zu einer Konformität extremer Individualisierung, was zwingend aus unserer Wirtschaftsform folgt und zunehmend alle gesellschaftlichen Bereiche destabilisiert. Besonders sind davon alle nicht sub- und populärkulturellen, rein kommerziellen Produktions- und Lebenszusammenhänge betroffen - und erst recht die heutige Kunst. Sie sieht sich mit dem fundamentalen Problem konfrontiert, welche Rolle ihr in einer derart vom Geschmack dominierten Welt, die sich gänzlich dem schönen Schein verschrieben hat, überhaupt noch zukommt: Kann es dann überhaupt noch einen spezifisch ästhetischen Selektionsmodus geben, der sich weiterhin als Kunst von anderen Arten des Umgangs mit Wahlmöglichkeiten unterscheiden läßt? - Diese für die Kunst heute entscheidende Problematik war von völlig untergeordneter Bedeutung, solange es nur dort und in wenigen anderen Lebensbereichen - wie etwa der Mode - als möglich und legitim galt, nach Geschmack zu entscheiden. Aus dieser gesellschaftlichen genauso wie aus der zuvor skizzierten kunstimmanenten Perspektive stellt sich also die Frage, ob es möglich sein wird, ästhetische Entscheidungen zu treffen, die sich als Kunst qualitativ von anderen Geschmacksurteilen unterscheiden lassen.

II.

Im zweiten Teil möchte ich nun einen Blick auf die gegenwärtige Lage der Lehre von Kunst werfen. Die folgende Darstellung basiert auf Überlegungen, die sich auch dem Bamberger Künstler und Kunstpädagogen Hubert Sowa verdanken.

Die Entwicklung der Kunstlehre in der Moderne zeigt im wesentlichen drei Typen, die - obgleich sie oft parallel oder auch als Mischformen auftreten - als Stationen eines Regressionsprozesses zu deuten sind. Genauer: als Verschließungsbewegung, die sich einer Grenzsituation annähert, in welcher >Lehre< heute auszulaufen scheint.

Die drei Stufen des Regresses der Kunstlehre in der Moderne lassen sich in aller Kürze und Schematisierung als »doktrinäre«, »skeptische« und schließlich »gnostische« Phase kennzeichnen und folgendermaßen näher charakterisieren:

a) Die »doktrinäre« Auffassung der Lehre

Das zentrale Beispiel für ein doktrinäres Prinzip der Kunstlehre ist die Bauhaus-Lehre. Sie beruht wesentlich auf den Gestaltungslehren von Kandinsky, Klee, Itten und Schlemmer, die auf ihre Art versuchten, gleichsam die Naturgesetze des Visuellen zu formulieren und für jegliche Gestaltung verfügbar zu machen. Dieses formale gestalterische Wissen, das in künstlerischen Experimenten und durch »bildnerisches Denken« gewonnen wurde, ist dann zu »Grundlehren« geronnen, die sich in operationalisierbaren Lernschritten haben vermitteln lassen - technischem Know-how vergleichbar.

Die Idee einer in operationalisierbare Lernschritte gegliederten Grundlehre bezieht sich also auf >abstrakte< Gesetze, die allen je möglichen Werkbeispielen vorausgehen und zugrunde liegen sollen: Das Verfahren der >Kunst selbst< wird unter dem Titel eines bildnerischen Denkens / Wissens aus dem konkreten Prozeß der geschichtlichen Entwicklung herausgelöst und als Regelwerk der Kunst im Ganzen formalisiert. Auch wenn sich etwa Klees Grundlehre weniger auf Lehrsätze als auf dynamische Verfahrensmodelle konzentriert, trägt sie von heute aus gesehen letztlich dogmatische und technizistische Züge: In der Lehre des »bildnerischen Denkens« geht es um die Explikation von Regeln, die zwar die Fertigung eines qualitativ gestalteten Produkts ermöglichen, aber - jedenfalls heute - nicht mehr die Hervorbringung eines Kunstwerkes.

b) Die »skeptische« Orientierung der Lehre

Keine »Bild- und Gestaltungslehre« - wie »offen« und »grundlegend« auch immer sie formuliert sein mag - kann die Kunst als solche erfüllend methodisieren und übertragen. Schon die in gleicher Zeit wie das Bauhaus wirksamen dadaistischen und surrealistischen Impulse mit ihrer Nicht-Kunst- Intention legen dieses Dilemma bloß. Der eher strategisch-reaktive Charakter des in diesen Kunstansätzen inkorporierten Kunst-Wissens verlangt -wenn er »lehrbar« sein soll - einen radikalen Abschied der Kunst-Lehre nicht nur vom Leitmodell des Bildes, sondern von allen technisch operierenden Doktrinen.

An ihre Stelle tritt eine entschiedene Auseinandersetzung mit praktischsituativen Orientierungsmodellen. Da die Kunstausübung eher als ein reaktives Verfahren begriffen wird, das sich auf einem jeweiligen Stand des historischen Diskurses der >Kunst< zu orientieren sucht, wären in diesem Zusammenhang nur pragmatische Orientierungstechniken, Techniken der hermeneutischen Besinnung in einer gegebenen >Situation< und praktisch-strategische >Tugenden< des künstlerischen Handelns und Entscheidens lehrbar.

Marcel Duchamp hat als erster begriffen und deutlich ausgesprochen, daß das Wissen des Künstlers sich primär aus einer hermeneutischen Besinnung auf den Kontext der historischen Genese und der aktuellen Situation ableitet. Das in seinem Frühwerk beispielhaft vorgelegte Lernprogramm gleicht einem skeptischen Schnelldurchgang durch alle bis dato möglichen Kunstpositionen. Dieser Durchgang ist die paradigmatische Ausarbeitung eines komplexen geschichtlichen Bewußtseins und gleicht damit dem, was in der philosophischen Hermeneutik die »vollständige und durchsichtige Aneignung der Handlungssituation« (Dilthey, Heidegger) genannt wird. Dies schließt - wenigstens andeutungsweise - auch einen Überblick über die universitären Wissenschaften ein.

Programmatische Interdisziplinarität und radikale Historizität wären demnach die Eckpfeiler einer skeptisch-hermeneutischen Auslegung von »Kunstlehre«, die vor allem auf eines hinaus will: Auf ein optimal reflektiertes und aufmerksam strategisch-taktisches Handeln des Künstlers inmitten einer möglichst weitgehend durchsichtig gemachten Situation.

Der Begriff der Situation hält tendenziell die Perspektive auf das Ganze der geschichtlich konkretisierten Kunst offen. Freilich ist der Totalitätsanspruch, der sich hier verbirgt, eine tendenzielle Überforderung jeder möglichen Kunstlehre. Die unendliche Reflexion aller Handlungsbedingungen droht die konkreten Handlungsmöglichkeiten zu überwuchern. Wo die skeptisch-hermeneutische Lehre verabsolutiert wird oder zu gut gelingt, bleibt das >Machen< auf der Strecke.

c) Die »gnostische« Haltung der Kunst-»Lehre«

Wenn sich aus pragmatischen oder theoretischen Gründen skeptische Resignation breitmacht, weil die hermeneutische Aufarbeitung / Aneignung der Rahmenbedingungen des künstlerischen Vollbringens nicht in Vollständigkeit zu leisten ist, bahnt sich der von uns so genannte gnostische Umschwung an: Die letzte Begründungsinstanz der Lehre ist auf dieser Stufe ein sich als »rein« begreifendes Ethos der »künstlerischen Gesinnung oder Haltung«. »Rein« heißt: nicht mehr von dieser Welt, daher nicht aus ihr und in ihr begründbar oder erklärbar oder operational / propositional ausweisbar. Die »reine« künstlerische Haltung wird so allenfalls als Anspruch aufgerichtet. Da Werkqualitäten nicht mehr hinreichende Kriterien für die zugrunde liegende »Haltung« sein können, ist das einzige Kriterium, an dem die Authentizität einer »reinen« künstlerischen Haltung oder Gesinnung sich bewahrheiten läßt, das Kriterium des Lebens. Die Formen, die sich Leben geben können, können verschieden sein - je nach Glaubensgemeinschaft: Disziplin und Konsequenz auf der einen Seite, Lockerheit oder Leichtigkeit auf der anderen Seite. Solche Leittugenden skeptisch-künstlerischer Ethik vermitteln sich im wesentlichen durch das lebendige Vorbild des »Meisters« oder der »Szene« oder durch kanonisierte andere Vorbilder, in deren Leben sich die geforderte Haltung nach allgemein akzeptiertem Urteil zeigt.

Diese »Ansprüche« und sog. »Ansätze« konkurrieren nicht einmal mehr miteinander, sie verschließen sich gegeneinander - auch und gerade da, wo sie (scheinbar) telekommunikativ miteinander »vernetzt« werden.

Die radikal gnostische Auslegung der »Fortsetzung der Kunst« deutet auf eine über jede »Belehrung« erhobene »Begabung« und »Erwähltheit«. Um so mehr ähnelt das künstlerische Wissen einem nur noch durch Berufung und Initiation vermittelbaren Sektenwissen. In diesem Endstudium erscheint Lehre verzichtbar.

Die Weitergabe des künstlerischen Wissens soll erklärtermaßen gerade durch Nicht-Lehre geschehen. Diese Vorstellung, daß Kunst als eine Art Naturereignis ent- und fortbesteht, also gleichsam sich selbst übertragen könne, bedeutet eine Art gnostischer Transformation bisheriger Lehrabsichten.

Zum Beispiel schrieb John Cage über seine Lehre an einer Universität: »Gleich zu Beginn kündigte ich an, daß jeder in der Klasse eine Eins bekommen würde...« Im Anschluß daran führt er aus, wie er mit Hilfe des »I Ging« Lektürpläne erstellen läßt. In solchen und ähnlichen Lehrverfahren zeigt sich: Das >Wissen<, das vermittelt werden müßte (wenn denn überhaupt noch von >Lehre< gesprochen werden soll), kann sich selbst nicht mehr in seinen >eigentlichen< Gründen explizieren. Der Ort der Kunst-Lehre ließe sich in diesem Sinn nur noch als ein »Ort des Fehlens« bestimmen oder als eine leere Schleuse der Initiation ins System Kunst, wie es Böhringer nennt.

Im Gewinn der äußersten Freiheit, nämlich der Verweigerung, gerät die Kunstlehre in die äußerste Gefährdung völligen Sinnverlustes.

Diese Entwicklung, so negativ sie auch sein mag, entbehrt nicht einer gewissen Logik und Notwendigkeit. Was ich hier auf idealtypische Weise theoretisch beschrieben habe, konkretisiert sich gegenwärtig an den Hochschulen in zwei ganz und gar nicht idealen Tendenzen, die sich unglücklicherweise wechselseitig verstärken:

Es dominieren einerseits die konservierenden Kräfte, die den Mythos des »Meisters« aufrechterhalten und in einem Klima von Ichbezogenheit, Handwerkertum und Wissenschaftsfeindlichkeit ihre >Lehre< als eine überwiegend auf das Persönliche fixierte Beziehungsform auffassen. Zugleich besteht andererseits der anarchisierende Hang zur naiven Verherrlichung eines neuen Dilettantismus, der durch jede die Professionalität fördernde Lehre die Unmittelbarkeit des Schöpferischen gefährdet sieht.

Um nicht angesichts der theoretischen Diagnose und dem sich tatsächlich zeigenden Krankheitsbild völlig der Depression zu verfallen, möchte ich in einem dritten Teil direkt auf die Hamburger Hochschule eingehen und von der Entwicklung dort berichten.

Ich tue dies unter einem ganz bestimmten Aspekt, aus dem sich möglicherweise auch eine positive Perspektive für die Fortsetzbarkeit der Kunstlehre gewinnen läßt. Dieser Aspekt ist der der Interdisziplinarität und die Frage, welche Funktion und Bedeutung sie für Kunsthochschulen haben kann.

III.

Ungeachtet seiner momentanen Konjunktur als hochschulpolitisches Zauberwort hat die Interdisziplinarität eine große Tradition und Bedeutung an künstlerischen Ausbildungsstätten. Zwar standen die Akademien des 19. Jahrhunderts mit ihrer strikten Trennung der verschiedenen Kunstgattungen noch jedem Gedanken an eine fächer- oder gar kunstüberschreitende Unterrichtung fern. Aber bereits das 1919 zur Überwindung der alten Akademien und Kunstgewerbeschulen gegründete »Bauhaus«, mit dem der neue Typus »Staatlicher Kunsthochschulen« eingeführt wurde, hat die »Synthese aller werkkünstlerischen Disziplinen« programmatisch betrieben.

Als institutionelle Voraussetzung, um dieses interdisziplinäre Programm in die Praxis umzusetzen, die auf eine neue Baukunst zielte, wurde eine »Vor«- oder »Grundlehre« am Bauhaus eingerichtet. Nach dem »Lehrschema« war sie für alle Studierenden verbindlich, bevor die Spezialisierung auf andere Lehrgebiete und vor allem auf die Entwurfspraxis in den verschiedenen Werkstätten und Malklassen erfolgen konnte. Die als künstlerische Elementarausbildung konzipierte »Grundlehre« bildete - so paradox es klingen mag - einen eigens auf das Interdisziplinäre spezialisierten Bereich. Zurecht erklärte ihn Walter Gropius zur »Schlagader der Bauhausarbeit«, weil damit etwas Vermittelndes zwischen den unterschiedlichen Arbeitsbereichen existierte, das es den Studierenden erleichterte, vielfältige Aspekte in ihre eigene Praxis zu integrieren und die Hochschule als einen Gesamtorganismus zu begreifen.

Nach 1945 hat nicht nur die Hochschule für Gestaltung in Ulm, sondern auf ihre Weise auch die Hochschule für bildende Künste in Hamburg an die Bauhaus-Tradition angeknüpft. An der Hamburger Hochschule, die zeitweise enge Kontakte nach Ulm pflegte, wurden überdurchschnittlich viele Grundklassen eingerichtet und für einige von ihnen auch ehemalige Bauhaus- und Baumeister-Schüler berufen, die im Geist des »bildnerischen Denkens« arbeiteten. Durch verschiedene Umstände, die sich im wesentlichen aus den Einstellungen der Studierenden nach 1968 und aus den Anschauungen der seinerzeit herrschenden Kunstströmungen ergeben haben, kam es dann allerdings zu einem Bruch. Bis auf eine Ausnahme sind die Grundklassen in den 70er Jahren stillschweigend aufgelöst worden und/oder in den Fachbereich Freie Kunst als normale »freie« Klassen abgewandert. Für die Erstsemester wurde statt dessen eine fachbereichsspezifische >Anfängerbetreuung< eingerichtet, die über lange Jahre mehr oder minder ein Provisorium blieb.

Zwischen dem mittlerweile vollständigen Verschwinden der Grundklassen und der starken Erweiterung des Lehrangebots um zahlreiche theoretische Fächer, zu der es in den 70er und 80er Jahren an der Hamburger Hochschule kam, läßt sich vielleicht keine eindeutige Kausalität, aber eine auffällige Parallelität behaupten. Vielleicht auch beeinflußt durch die hier entstandene Dominanz einer eher konzeptionell orientierten Kunstauffassung, hielten verschiedene Wissenschaften wie die Philosophie, Psychologie, Soziologie und sogar Ethnologie Einzug in die Hamburger Hochschule, an der lange allein die Kunstgeschichte als universitäre Disziplin vertreten war. Darüber hinaus wurden direkt auf die Fachbereiche bezogene theoretische Angebote wie etwa Architektur-, Design-, Kunst- und Medientheorie etabliert. Sie alle sind schließlich neben dem Lehrangebot der fünf Fachbereiche im Vorlesungsverzeichnis gesondert als »interdisziplinäre Fächer« ausgewiesen.

Wie die künstlerischen Lehrangebote, die zumeist »alle Bereiche der Formung und Gestaltung« umfassen sollen, so ist auch jedes dieser wissenschaftlichen Lehrangebote in sich bereits höchst komplex und zudem aufgrund seines jeweiligen Kunstbezuges allemal interdisziplinär orientiert. Doch gerade weil jedes Fach in seiner Interdisziplinarität letztlich einen Kosmos für sich bildet, vermag keines eine im eigentlichen Sinn interdisziplinäre Funktion zu entfalten. Nirgendwo bietet sich ein Forum für einen allen gemeinsamen Erfahrungsprozeß, der sämtliche Disziplinen und Fachbereiche beträfe und zwischen diesen etwa im Hinblick auf bestimmte persönliche Arbeitsprojekte produktive Bezüge wahrscheinlicher machte. Statt sich integrativ auszuwirken, hat die wünschenswerte Ausweitung des wissenschaftlichen Lehrangebots, so künstlerisch inspiriert es auch sein mag, zu einer weiteren Polarisierung an der Hochschule geführt. Ohnehin besteht zwischen den »Freien« und den »Angewandten« ein gleichsam natürlicher Gegensatz, der sich aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt aber auch infolgedessen unproduktiv so verschärft hat, daß es in beiden Bereichen zur Entfremdung vom »Bildnerischen« als ihrer einstigen gemeinsamen Grundlage gekommen ist. Damit nicht genug, ist es in Hamburg durch die Verwissenschaftlichung, die an keiner anderen Kunsthochschule ein vergleichbares Ausmaß hat, zusätzlich zu einem antipodischen Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis gekommen, durch das die desintegrativen Tendenzen in dieser Institution noch verstärkt bzw. die integrativen Anforderungen an die hier Studierenden drastisch erhöht worden sind.

Es hat verschiedene hochschulöffentlich erkennbare Reaktionen gegeben, die sich als Versuche interpretieren lassen, diese nach 1989 durch etliche andere Umstände sich nicht gerade verringernden Probleme zu bewältigen, ohne dabei auf die einfachste und schlechteste Lösung zu verfallen, durch Reduzierung der »theoretischen« und »angewandten« Fächer tendenziell eine Restaurierung des alten Kunst-Akademie-Modells anzustreben:

- So hat es etwa den Vorschlag gegeben, für die Theoriefächer mitsamt dem Fachbereich Kunstpädagogik ein eigenes Institut »Kunstbezogene Theorie« zu schaffen. Daß damit eine noch höhere »Theorielastigkeit« und größere Verselbständigung der wissenschaftlichen Disziplinen einhergehen würde, waren indes die Bedenken, an denen dieses Vorhaben bald gescheitert ist. Daraufhin wurden alle Theorieangebote wieder den einzelnen Fachbereichen zugeordnet und waren ab Wintersemester 1993/94 im Vorlesungsverzeichnis nicht mehr unter der Rubrik »Interdisziplinäre Fächer« verzeichnet.

- Sehr ambitioniert, aber auch recht desillusionierend war die 1990 mit »Vereinigungsgeldern« ermöglichte und von Fritz Seitz mit initiierte Veranstaltung eines bundesweit angekündigten und besuchten Symposions unter dem Thema »Grundlehre - Grundlagen - Grundfragen. Zur Lehre an den Kunsthochschulen«. Damit war keineswegs beabsichtigt, das im Mittelpunkt des Symposions stehende Thema der künstlerischen Lehre auf die am Bauhaus entwickelte Form der »Grundlehre einzuengen, diese rein historisierend zu betrachten oder gar ihre Inhalte und Methoden wieder zu beleben. Vielmehr sollten die Möglichkeiten der Wiedergewinnung einer integrativen Interdisziplinarität anhand der jahrzehntelang tabuisierten Frage diskutiert werden, ob und wie heute künstlerisch-gestalterische Grundlagenstudien praktiziert und reflektiert werden.

- Wieviel Ratlosigkeit diese Bestandsaufnahme bundesrepublikanischer Kunsthochschulwirklichkeit auch hinterließ, so war sie doch hilfreich für die Fortsetzung der hochschulinternen Diskussionen des Grundlagenthemas, zu der es vor allem in der interdisziplinär besetzten »Grundlagenkommission« kam, die auf Veranlassung der Präsidentin Ende 1989 der Hochschulsenat eingesetzt hatte. In dem eben dort nach intensiver Arbeit Anfang 1992 vorgelegten Abschlußbericht formulierte die Kommission ihre einvernehmliche Auffassung, daß die Grundlagenstudien keine fachspezifische Propädeutik, sondern »ein interdisziplinäres Arbeitsfeld sein müssen« und »an unserer Hochschule einer wesentlichen Neubestimmung, Erweiterung und Vertiefung bedürfen«. Ferner wurde empfohlen, »einen Grundlagenbereich ... mit einem breiten Lehrangebot einzurichten«, indem »prinzipiell alle Lehrenden jeweils einen entsprechenden Teil ihrer Kapazität ausdrücklich für die Grundlagenstudien zur Verfügung stellen«.

- Als erster konkreter Schritt wurde eine Stelle ausgeschrieben, auf der »die Theoriebildung aus der künstlerischen Praxis heraus« erfolgen und ausdrücklich die interdisziplinäre Entwicklung der Grundlagenstudien durch Initiierung und Koordinierung entsprechender Lehrveranstaltungen gefordert war, um »als Kristallisationspunkt für den Grundlagenbereich zu fungieren«. Nachdem die Stelle 1993 besetzt worden ist, hat erstmalig im Wintersemester 1995/96 ein »Interdisziplinäres Grundlagen-Seminar« stattgefunden, in dem je eine Lehrperson aus jedem Fachbereich sich der »Diskussion künstlerischer Grundpositionen« mit Studierenden aus allen Fachbereichen gestellt hat. Seitdem findet das Seminar auch in Kooperation mit Lehrenden aus anderen Institutionen (z.B. Musikhochschule, Universität) turnusmäßig im Sommersemester statt und bietet ein Forum für Themen wie: »Wert-, Qualitäts- und Kriterienfragen in den ästhetischen Praxisbereichen« (Sommersemester 1996) oder »Zum Theorie-Praxis-Verhältnis« (Sommersemester 1997).

- Nicht zuletzt aus den Kontakten, Gesprächen und Erfahrungen bei dieser Seminarreihe hat sich im Wintersemester 1995/96 auf informelle Weise eine offene Arbeitsgruppe gebildet, an der sich Lehrende und Studierende aus allen Fachbereichen beteiligen. Unter den sich dramatisch verändernden Rahmenbedingungen, die der Kunsthochschule erst recht die Ermöglichung eines produktiven Projekt-Studiums abverlangen, hat sich die Diskussion auf die Situation der Studienanfänger konzentriert und zu dem Ergebnis geführt, daß es »für sinnvoll und notwendig gehalten (wird), unverzüglich zu überlegen, wie das Grund- und Orientierungsstudium als ein gemeinsamer >Pool< aller Studienanfänger/innen aus allen Fachbereichen gebildet und durchgeführt werden könnte.«

Dieser Vorschlag, für dessen Weiterentwicklung Konzil und Senat der Hochschule am Ende des Sommersemesters 1996 votiert haben, zielt ausdrücklich nicht auf eine Neudefinition der Studieninhalte, sondern auf die Schaffung einer interdisziplinären Grundstruktur, die gegenüber der zunehmenden Ausdifferenzierung aller Fächer ein integratives Moment bildet, ohne das sich auch Studium und Leben vollends entzweien.

Interdisziplinarität soll also kein Selbstzweck sein, sondern das heute Entscheidende ist ihre integrative Funktion. Ich denke, daß weder didaktisch-methodische, noch curriculare Finessen der Kunstlehre auf die Sprünge helfen können, sondern daß es um eine Stärkung der integrativen Strukturen an den Kunsthochschulen gehen muß. Insofern erscheint mir - nebenbei gesagt - die hier in Berlin an der Hochschule der Künste gerade getroffene Entscheidung zur Auflösung bzw. Integration der Fachbereiche zumindest theoretisch richtig und zukunftsweisend. Wo die Hauptprobleme liegen, nämlich in der Integration der »Freien« und »Angewandten« sowie in der Integration der Theorie - besser Sprache - in die künstlerische und gestalterische Praxis, ist aus meinem Blick auf die Hamburger Verhältnisse bereits deutlich geworden. Über die historischen Voraussetzungen, gegenwärtigen Notwendigkeiten und künftigen Möglichkeiten, diese beiden Integrationsaufgaben zu leisten, ließen sich zwei eigene Vorträge halten. Ich möchte deshalb zum Schluß nur noch eine Integrationsaufgabe andeuten, die mir für alle übrigen grundlegend erscheint.

Für jeden Reformierungsversuch der Hochschulen und jede gegenwärtige Reflexion des Problems der »Kunstlehre« ist es vorentscheidend, ob diese Lehre weiterhin als bloßes Anhängsel zur »wirklichen« Beschäftigung mit Kunst angesehen wird. Die weithin gepflegte Verachtung der Lehre wird durch jene beiden bereits beschriebenen Tendenzen der Meister-Stilisierung und der Dilettanten-Sehnsucht nachdrücklich an unseren Kunsthochschulen genährt.

Dabei legt die systemtheoretische Auffassung der Kunst es vielmehr nahe, die >Lehre< als eine entscheidende Voraussetzung für die Fortsetzbarkeit von Kunst überhaupt anzusehen und zu integrieren, statt sie als bloß unwesentliches Vor- bzw. Nachstadium des Kunstwerkes zu verdrängen und abzuwerten. Kunst ist in systemtheoretischer Sicht als ein »autopoietischer«, sich selbst reproduzierender Funktionszusammenhang aufzufassen, der nicht in erster Linie auf Werken und ihrer Herstellung (Poiesis), sondern auf sozialen Interaktionen (Kommunikationen - Praxis) beruht. Unter diesem Blickwinkel läßt sich die Kunst nur sekundär aus dem Paradigma des substanzhaften Werkes und seiner Herstellung verstehen. Wird die Wirklichkeit der Kunst also nicht primär im in-sich-ruhenden Kunstwerk gesehen, dann gehört die Kunstlehre als kommunikative, vermittelnde Instanz zwischen der schon geschaffenen und der künftig zu schaffenden Kunst zu dem Kernbereich, wo Kunst als funktionaler Zusammenhang sich selbst systematisch reproduziert. Die Frage nach der Kunstlehre bedeutet insofern wesenhaft eine Frage nach der Kunst selbst. Die Lehre ist zugleich ein zentrales Moment der Herstellung wie auch der Rezeption von Kunst und kann insofern im Zentrum des Kunstgeschehens liegen. Dort sollten wir sie zu etablieren suchen.

Die Wahrscheinlichkeit, daß den Hochschulen tatsächliche Schritte zur Konkretisierung dieses Denkansatzes gelingen, würde durch eine Überzeugung wachsen, wie sie Georg Christoph Lichtenberg formuliert hat:

»Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber soviel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.«

6. Diskussion

Moderation Hans-Joachim Ruckhäberle

Hans-Joachim Ruckhäberle:

Vielen Dank, Herr Böhringer, vielen Dank, Herr Lingner. Ich möchte eine Empfehlung aussprechen, daß die Diskussion sich mit den Fragen der Vermittlung, der Lehre, beschäftigt. Es ist gesagt worden: »Das Bauhaus war doktrinär«. Hier gibt es Viele, von denen ich in den letzten zwei Tagen gehört habe, daß sie sich nicht nur auf die Hochschule für Gestaltung Ulm, sondern auch auf das Bauhaus berufen. Herr Böhringer, ich spitze jetzt etwas zu: Sind Sie eher für die gnostische Kunstvermittlung zuständig?

Hannes Böhringer:

Eigentlich überhaupt nicht. Ich glaube ja, daß man Kunsthochschulen gar nicht in Ordnung bringen kann. Ich glaube, daß man das nur inselartig an bestimmten Punkten schaffen kann ... Einige Dinge können gut funktionieren, und die halten eine solche Schule irgendwie am Laufen. Im Grunde ist eine Schule ein immer furchtbar qualmender Ofen. Und es gibt nur ganz wenige Momente, in denen der Ofen gut zieht. Deshalb beschäftige ich mich nicht so sehr allgemein mit Kunst und Kunstlehre. Ich unterrichte ja Philosophie und versuche, für angehende Künstler etwas Anregendes von meiner Branche auszusagen. Und da liegt es natürlich auch nahe, immer wieder auf die Affinitäten, die Berührungspunkte zwischen Kunst und Philosophie zu sprechen zu kommen. Das habe ich auch in diesem Vortrag getan. Es ging mir nicht darum, ein Plädoyer für das traditionelle Zeichnen und Malen zu halten, sondern dafür: Was man auch macht, was man sich auch überlegt, wie man vielleicht auf die Dauer ein Studium wieder besser organisieren kann... - daß man, bitte, nicht den Nemus vergißt.

Der heikelste Punkt ist das Grundstudium, wo der Offenbarungseid geleistet werden muß. Man sollte die Kunst nicht immer so formalistisch verstehen, wie es auch Herr Lingner geschildert hat: einmal als eine Form von Überbietungsgeschichte, von formalen Qualitäten, und auf der anderen Seite, in der Postmoderne, einen Relativismus und eine Vielfalt von allen möglichen Gegenständen und Sujets. Es gibt so etwas wie einen Gegenstand, den ich ein wenig murmelnd hier zur Sprache bringen wollte.

Michael Lingner:

Wenn ich versuche, Dinge zu analysieren, natürlich mit der Absicht, sie gegebenenfalls auch zu verändern, steht bei mir nicht die Illusion im Hintergrund, etwas in dieser Welt ließe sich in Ordnung bringen, sondern allenfalls die Einsicht, daß man sich verdammt anstrengen muß, damit es wenigstens so schlecht bleibt, wie es jeweils ist - nein: damit es nicht noch schlechter wird, als es schon ist. Ich glaube nicht daran, daß sich so etwas wie ein Idyll organisch an einer Hochschule entwickeln kann. Sondern unter den realen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, muß auch ein Idyll -so paradox es zunächst klingt - erst gemacht werden. Man kann in aller Bescheidenheit nur sagen, daß man unter bestimmten Voraussetzungen die Entstehung eines solchen Idylls wahrscheinlicher macht. Es läßt sich bestenfalls eine Drift herbeiführen, daß es zu so etwas kommt - wobei ich aber bei aller Sympathie für dieses Idyll keine Hochschule haben und sehen möchte, in der man ausschließlich nach diesem Idyll strebte und es so zu dessen Verabsolutierung käme.

Das große Problem an den Kunsthochschulen ist, daß hier der Begriff der Pluralität nicht in einem positiven Sinne existiert, sondern daß wir nur einen Typus von Lehre haben, und der schwankt zwischen dem Skeptischen und dem Gnostischen, wenn nicht die Bequemlichkeit der Lehrenden sowieso solche Klassifizierungen überflüssig macht. Also kommt es darauf an zu überlegen, welche Typen von Lehre und von Kunst man denn etablieren möchte, da man heute nicht mit gutem Gewissen auf eine einzige Ausprägung setzen kann. Damit es weitergeht - was höchst gefährdet ist -, erscheint es dagegen geradezu biologisch sinnvoll, verschiedene Typen zu implantieren oder hochschulpolitische Voraussetzungen zu schaffen, unter denen sich verschiedene Lehrformen entwickeln können. Ich würde immer dafür eintreten, daß dieses Modell eines Idylls oder eines Haines seine Möglichkeit erhält, aber nicht als verabsolutierte einzige Funktionszuschreibung einer Kunsthochschule.

Ruckhäberle:

Da geraten wir natürlich an ein Problem. Ich kann jetzt nicht für Herrn Böhringer sprechen. Sie reden von interdisziplinären und auch kompatiblen Modellen, vor allen Dingen in der praktischen Ausführung mit Bezug auf Hamburg. Böhringer spricht eher von einem Zustand, der interdisziplinär schwer zu fassen und zu beschreiben ist. Sie reden mehr von dem, was sich in einem Studienführer niederschlägt, er redet von einem Zustand, der sich vielleicht anderswo niederschlagen könnte.

Ich hege allerdings eine gewisse Skepsis gegenüber der Pluralität, weil ich meine: Pluralität entsteht auch über Personen und über ihre Arbeitsweisen, doch hat Kunst auch etwas mit Eigensinn zu tun.

Lingner:

In Hamburg haben wir gerade noch die Gelegenheit, zwei künstlerische Professuren im Anfängerbereich zu besetzen, die nicht schon >eingespart< worden sind. Von allen Bewerbern aus der Generation zwischen 30 und 40 Jahren haben wir im Prinzip stereotyp als einziges von einem Lehrmodell erfahren, was wir heute mittag auch von Herrn Uecker gehört haben: daß es nämlich nur darauf ankäme, das zu entwickeln, was jeder einzelne Studierende an eigenen Fähigkeiten mitbringt. Das kann natürlich jeder unterschreiben und als Ziel akzeptieren - aber eben nicht als einziges und nicht als letztes.

Wer an einer Schule lehren und diese Institution hochschulpolitisch mitgestalten will, für den muß doch die Frage entscheidend sein: Wie kann ich das denn tun? Habe ich eine Idee davon, wie das erreichbar ist? Und wozu? Eine Hypothese? Denn ich kann nur experimentell handeln, wenn ich eine Hypothese habe. Von jedem Lehrenden erwarte ich, daß er gezielt Dinge ausprobiert, daß er nach unterschiedlichen Hypothesen zu praktizieren versucht, um das Ganze weiterzuentwickeln.

Statt dessen dienen diese Formeln, die Sie jetzt auch wiedergegeben haben und die sicher gut gemeint sind, letztlich jedoch nur zur Legitimation des Status quo.

Die Situation an den Akademien ist nicht so gemütlich. Das sind ja keine Privatanstalten, sondern staatliche Hochschulen, die staatliche Gelder bekommen. Da kann es nicht nur auf die gute Ausbildung des obersten Prozentsatzes ankommmen, der die Akademie am wenigsten braucht, sondern es kommt vor allem darauf an, daß eine gute Ausbildung gerade auch der statistischen Mehrheit gelingt.

Fakt ist aber - das wissen Sie auch -, daß es in keinem Fach so viele Studienabbrecher gibt wie im Bereich der Kunst, was an sich gar nicht schlimm ist. Ich zweifle nur daran, daß diese Studienabbrüche auf wirklichen Entscheidungen basieren. Ist es nicht vielmehr ein Auslaufen, Wegbleiben, Versagen, also ein Scheitern, das sowohl der jeweiligen Institution nicht guttut als auch für die Studierenden Verlust kostbarer Zeit bedeutet? Die Verantwortung, die nach meiner Auffassung die Institutionen übernehmen müssen, ohne autoritär zu sein, fachlich vernünftige und individuell passende Entscheidungen zu ermöglichen, diese Verantwortung wird nach meiner Kenntnis an den meisten Akademien unzureichend wahrgenommen.

Ruckhäberle:

Was die Anzahl der Studienabbrecher betrifft, da stehen wir hier in Weißensee sehr gut da, sehr wenige Leute brechen das Studium ab.

Alex Jordan:

Ich meine, daß man diese Diskussion nicht von der Diskussion über die Bildungspolitik abtrennen kann. Es muß auch für die Breite ausgebildet werden. Ich gehe, etwas brutal, noch einen Schritt weiter. Bei all den Diskussionen um das Fortbestehen der Hochschulen, um die Neugliederung der Hochschulen und so weiter kommt von Seiten der Politiker immer wieder das Wort Rentabilität. - Können Sie vielleicht dazu etwas sagen?

Lingner:

Rentabilität interessiert mich in diesem Zusammenhang erst einmal gar nicht, da ich letztlich nicht weiß, was hier rentabel ist. Aber ich weiß, daß es nicht gut ist, wenn einzelne Studenten oft erst nach langem Leerlauf das Studium aufgeben.

Es geht mir bei der vermeintlichen Verbesserung mehr um eine Intensivierung als um eine Effektivierung des Studiums. Ich sehe, daß das, was alle wollen, nämlich daß die einzelnen sich im Hinblick auf die angestrebten Ziele entwickeln können, sehr unzureichend und immer unzureichender gelingt. Und das hat nach meiner Beobachtung mit der allgemeinen Kunstsituation zu tun, die ich Ihnen zu beschreiben versucht habe, und es hat mit der immanenten Logik der Entwicklung der Lehre zu tun.

Deswegen können wir doch nicht so tun, als wenn dieser Zustand der ideale oder der naturgegebene wäre, sondern wir haben die Verantwortung, auch positive Vorschläge zu machen. Wenn wir nicht bestimmte Veränderungen in allernächster Zeit selbstbestimmt schaffen, dann werden wir bürokratisch verändert, und zwar in einer Weise, daß kein Auge trocken bleibt.

Jordan:

Ich möchte etwas über unsere Kunsthochschule und zur Berliner Problematik sagen. Wir haben einen furchtbaren Mangel an qualifiziertem Mittelbau, und es besteht auch gar keine Aussicht, einen Mittelbau zu bekommen. Die Politiker haben einen Hang dazu, den Mittelbau durch Studenten zu ersetzen, die gerade Diplom gemacht haben und die dann - ganz böse ausgedrückt - ohne Praxiserfahrung, ohne Welterfahrung ... eine Zeitlang zu Billigstlöhnen ausgebeutet werden können.

Günter Kupetz:

Ich vermisse die Antwort, heute den ganzen Tag, auf die Frage: Was ist an einer Kunsthochschule lehrbar und was ist erlernbar?

Ruckhäberle:

Meiner Meinung nach treffen Sie diesen Punkt, wo die Unterschiede viel größer sind, als sie sich so darstellen. Die beiden Herren sind ja kampferprobt, wie wir in mehreren Diskussionen schon hörten. Ihr Vokabular und ihre Vorgehensweise scheinen zunächst etwas anders zu sein, es gibt aber viele Gemeinsamkeiten.

Meine Vermutung: Vielleicht liegt das, was an einer Kunsthochschule lehrbar und was erlernbar ist, ganz woanders. Ihre Frage kann einen dahin führen, daß man zunächst nicht nur eine kritische Diagnose und Bestandsaufnahme dessen machen müßte, wie Kunst sich im Moment darstellt. Vielleicht müßte man eine Vision entwickeln - mit Vision meine ich jetzt gar nichts Idealistisches.

Man muß sich Klarheit darüber verschaffen, was man will, welche Vorstellungen man hat. Es kommen hier sehr unterschiedliche Dimensionen herein: vom Sozialen, Operationalen, von sonstigem... »die Klarheit des Wassers, der Lichtung, das immerwährende Gemurmel, das zur Konfrontation führt [...]«. Hier bewegen wir uns in sehr unterschiedlichen Bereichen. Ich vermute, daß die Beantwortung Ihrer Frage gar nicht in der Form möglich ist, wie Sie sie stellen. Man müßte vielleicht vorher die Frage stellen: Was will man denn, welche Kunst will man? Welche Kunst ist erlernbar, und welche ist vermittelbar? In dem Zustand, den Herr Böhringer beschreibt, muß man diese Frage nicht stellen, denn >die Blätter wachsen nach<. Da wäre - aus meiner Sicht - nur die Frage danach zu stellen, um welche Sorte Bäume es sich denn handelt.

Lingner:

Auf die Frage nach dem Lehr- und Lernbaren kann ich nur formal antworten, weil schließlich die Inhalte in die Verantwortung jedes einzelnen Hochschullehrers fallen und man mit denen, die lehren, leben muß. Also kann ich nur sagen: Zweifellos ist das direkt lehr- und lernbar, was verallgemeinerbar ist. Und das ist ja nicht wenig. Bei allem anderen wird es noch schwieriger. Sie hatten vorgeschlagen, sich vorab auf einen bestimmten Kunstbegriff zu verständigen. Das allerdings halte ich für ziemlich fatal.

Denn das würde nach meiner Auffassung, mindestens zum Teil, der gegenwärtigen Praxis entsprechen. Im Moment wird in der Regel die Kunst in den einzelnen Klassen gewollt, die mit der Kunst des jeweiligen Meisters halbwegs kompatibel ist. Die Klassen sind in ihrer Praxis relativ inzüchtig, und da gibt es sehr starke Encodierungen. Man kann nicht - weder für einzelne Klassen, geschweige denn gar für eine Schule - ein Programm festlegen, welche Kunst man will. Sondern man sollte sich darauf beschränken, jeweils zwischen den Lehrenden und Lernenden einen temporären, immer wieder neu zu findenden Konsens darüber herzustellen, an welchen Problemen man arbeiten möchte. Man sollte sich über die Probleme verständigen, die man künstlerisch bearbeiten möchte, weil es bei aller Kreativität und Irrationalität, die in der Kunst zu Hause ist - aber in allen anderen schöpferischen Prozessen auch -, gleichwohl die Möglichkeit gibt, sich auch in der Kunst problemorientiert an bestimmte Dinge heranzutasten und auf dieser Basis dann das Schöpferische, die Intuition und die Kreativität zum Zuge kommen zu lassen. Aber die creatio ex nihilo, das heißt, aus dem reinen Nichts etwas machen, das gibt es nicht. Das integrative Moment wäre nach meiner Auffassung der Versuch, gemeinsame Probleme und Perspektiven zu formulieren, daß sich um diese Perspektiven - das verstehe ich dann unter Projektstudium - temporär Lehrende und Lernende gruppieren, gemeinsam arbeiten und dann schauen, was dabei herauskommt.

Ruckhäberle:

Ich will hier ein Mißverständnis verhindern - ich habe da ja etwas Fürchterliches in die Welt gesetzt: daß man vorher weiß, welche Kunst man will. Ich meine, man muß wissen, was man mit Kunst will oder was man tatsächlich will, um sich solche Fragen überhaupt stellen zu können. Was Sie gerade beschrieben haben, ist eigentlich genau das, was Günther Uecker hier berichtete, was er mit seinen Studenten gemacht hat. Er fährt mit denen nach Finnland oder nach Dresden oder geht mit denen ins Irrenhaus, er fährt mit ihnen nach Mauritius. Das ist projektorientiertes Studium. Und das haben Sie vorher aber, glaube ich, eher kritisch gesehen.

Lingner:

Da habe ich eine andere Auffassung von Projektstudium. Ich würde gerne wissen, was die Arbeitshypothese und was die Problemstellung ist, die jeweils bearbeitet wird.

Böhringer:

Ich möchte noch einen Gedanken zum Interdisziplinären äußern. Das Problem des Interdisziplinären in den Kunsthochschulen liegt darin, daß die Wissenschaften und die Künste nicht symmetrisch aufeinander bezogen sind. Sie selber haben von den kunstbezogenen Wissenschaften gesprochen, also von Kunstgeschichte, Kunstsoziologie, Kunstdidaktik und so weiter. Eine solche Wissenschaft mit Bindestrich bezieht sich immer auf die Kunst. Aber die Kunst bezieht sich nicht im gleichen Maße - sagen wir mal - auf Philosophie oder Soziologie. Künstler und Kunststudenten interessieren sich immer für andere kreative Arbeiten. Parallelen sind ihnen interessanter, als daß sie hören wollen, was gerade mit ihnen passiert, was Kunst ist und in welche Schwierigkeiten Kunst gerät und so weiter.

Deswegen mache ich eigentlich auch seit längerem - manchmal auch vergeblich - den Vorschlag, es mal mit anderen Künsten an Kunsthochschulen zu probieren. Warum denkt man zum Beispiel überhaupt nicht daran, für eine vorübergehende Zeit einen Schriftsteller oder einen Musiker an der Kunsthochschule zu engagieren, einen Popmusiker meinetwegen auch, um ebenso die Interdisziplinarität der Künste zu fördern. Und ich glaube, daß das leichter ist - zumindest im Moment - als mit Wissenschaftlern.

Ruckhäberle:

Ich würde Ihnen ja gern zustimmen, Herr Böhringer. Aber in der Kunstbezogenheit - da steckt mein großer Zweifel an Ihrem Modell, er steckt nämlich bereits in dem Interdisziplinären und in den kunstbezogenen Wissenschaften. Ein Bereich, mit dem ich mich relativ gut auskenne und der mit der Schule jetzt nichts zu tun hat, ist das Theater. Merkwürdigerweise hatte die Theaterwissenschaft, außer da, wo es verordnet war, nämlich in der DDR, mit dem Theater überhaupt nichts zu tun. Und kein Mensch im Theater interessiert sich für die Theaterwissenschaft, und sie hat auch noch nie jemandem genützt. Diese Interdisziplinarität findet statt dessen zum Beispiel in einem Bereich wie Theater dadurch statt, daß es jeweils sehr unterschiedliche Positionen gibt. Und je unterschiedlicher diese Positionen zunächst sind, desto mehr Reibung entsteht in der Zusammenarbeit und gerade nicht aus dem gegenseitigen Bezug, sondern auf dem Beharren - aber natürlich einem zur Zusammenarbeit fähigen Beharren - auf bestimmten, sehr eigenen Punkten. Aus dieser Reibung entsteht eine ganz bestimmte Form von Kreativität. Also da wäre mein Zweifel bei diesem Interdisziplinären.

Teilnehmer:

Es ist schon lustig, sich vorzustellen, die Geschichtswissenschaft hätte den Gang der Geschichte oder die Soziologie die Gesellschaft verändert. Wird denn in der Kunst- und Literaturwissenschaft gelehrt, wie man malt oder Gedichte schreibt? Wäre doch nützlich?! Selbst die Wissenschaft der Wissenschaften, die Philosophie, hat aber >nichts genützt<.

Böhringer:

Ich will noch mal zurückkommen auf die Einwendung von Herrn Lingner in bezug auf die Bewerber um eine Stelle für die Grundlehre. Die Äußerungen dieser Bewerber geben mir natürlich zu denken. Im Prinzip ist das aber auch bei anderen Bewerbern auf irgendwelche Professuren an den Kunsthochschulen der Fall, und ich muß annehmen, daß sich das Studium an einer Kunsthochschule in Zukunft reduzieren wird auf die Stellung einer Staffelei oder eines Zeichentisches, auf die Stellung der Räumlichkeiten, von Licht, Heizung und Wasser, und damit hat sich's. Die Studenten müssen sehen, wie sie weiterkommen. Sie müssen selbst aktiv an ihrem Studium mitarbeiten.

Lingner:

Und Studiengebühren zahlen!

Böhringer (lachend):

Und Studiengebühren zahlen!

Lingner:

Dieses Modell ist ja, wenn es denn ein Modell ist, gerade auch in Düsseldorf gern und oft proklamiert worden, daß die Akademie doch nur beheizte Räume im Winter habe und sonst nichts. Das ist genau das Ergebnis des Rückzuges aus der Lehre und erklärt die Akademien letztlich zu luxuriösen Obdachlosenasylen, für die man keine Professoren braucht.

Im Zusammenhang mit dem Theater war mir aber eben noch interessant, wenn Sie gesagt haben, die Theaterwissenschaft habe am Theater noch nie jemandem genützt. Das mag empirisch so sein, nur ist das für mich eine dogmatische Aussage, weil es den Zustand des Theaters und den Zustand der Theaterwissenschaft statisch setzt. Das ist aber ausgesprochen unproduktiv, denn die Theaterwissenschaft kann sich ändern und das Theater. Sinnvoller wäre es, daß man nach gemeinsamen Problemstellungen sucht und die Polarität zwischen Kunst und Wissenschaft endlich überwindet. Inzwischen ist relativ klar aus der Geschichte der Kunst zu ersehen, daß die Kunst das Begriffliche in ihre eigene Praxis hineingenommen hat.

Schon beim Kubismus wird von der Peinture conceptuelle gesprochen. Denn der Begriff, so hat es Arnold Gehlen einmal formuliert, sitzt schon seit dem Kubismus im Nerv - so hat er es gesagt -, im Nerv der malerischen Konzeption. Die Kunst ist konzeptionell geworden, ob es einem gefällt oder nicht. Selbst der Expressionismus ist Konzeptkunst, wie authentische Expressionisten gesagt haben.

Daher auch mein Vorschlag, daß eine Hauptaufgabe der Akademien darin besteht, sich endlich mit dem Verhältnis zur Sprache zu befassen: die Sprache in Kunst zu integrieren. Und da sehe ich eine Parallele in der Wissenschaft, daß wir doch in den neostrukturalistischen Theorien aus Frankreich zum Beispiel eine Aufhebung des wissenschaftlichen diskursiven Denkens und Schreibens haben und daß auch im Bereich der Wissenschaft inzwischen die Form des Schreibens zum Problem wird - zumindest im Bereich der Geisteswissenschaften. Und Formprobleme sind nach meiner Auffassung immer auch künstlerische Probleme.

Das heißt - sowohl für das Schreiben wie für das Rezipieren: Auch Text ist eine Form. Denn der stereotype diskursive wissenschaftliche Text stimmt in vielerlei Hinsicht nicht, oder es gibt ihn gar nicht mehr. Inzwischen finden sich auch in der Wissenschaft Leute, die zum Beispiel im Hinblick auf das Verfassen von Texten aus ihrer Perspektive Kontakt zu Künstlern suchen, weil Künstler Spezialisten für Formfragen sind, und zwar inzwischen eben auch für Formfragen im Bereich des Sprachlichen. Ich würde jetzt gerade nicht dogmatisch sagen: Es hat nie jemandem in der Praxis genützt, wenn er Kunsttheorie oder Philosophie betrieben hat. Ich glaube, daß es darauf ankommt, unter bestimmten Problemstellungen eine Zusammenführung der Disziplinen zu leisten.

Ruckhäberle:

Sie haben natürlich auch einen gewissen Dogmatismus. Also warum soll ich mich für Theaterwissenschaft interessieren, wenn mich die Philosophie mehr interessiert oder mehr hergibt, wenn mir Ikonographie für das Theater mehr liefert, warum soll ich dann da suchen? Aber das ist eine andere Frage, auch eine Frage der instrumentellen Verwendung. Der Begriff ist im Zusammenhang mit Ulm gefallen, daß es auch eine instrumentelle Verwendung von Theorie gibt, was nicht heißt, die Theorie zum Markt einer nie verstandenen Praxis zu machen, sondern es wurde von Bonsiepe genau ausgeführt, daß ein Praxisverständnis dahintersteckt, das Theorieelemente beinhaltet. Dazu ließe sich viel sagen: wann die Wissenschaft anfängt, künstlerisch zu werden, weil sie Schreibprobleme hat.

Volker Pfüller:

Ich möchte drei Bemerkungen machen, wovon sich zwei an Herrn Böhringer richten und eine eigentlich an die beiden Vortragenden. Die erste ist mehr kleinlicher Art und soll nur beweisen, daß man auch in der Lage ist, einer Predigt gut zuzuhören. Und zwar haben Sie gesagt, Herr Böhringer, daß die Zeichenkunst abgelöst worden ist durch Entwicklung der Drucktechnik. Das stimmt natürlich nicht, sondern sie ist durch die Fotografie abgelöst worden, denn die Drucktechnik ist nicht in der Lage, Zeichnung abzulösen, sondern nur irgendwie die Zeichnung wiederzugeben. Die zweite Bemerkung: Sie haben mehrfach den Begriff Ordnung gebraucht, als »Ordnungsinsel« in Ihrem Vortrag, und in der Diskussion gesagt: Sie können sich nicht recht vorstellen, daß man Ordnung in eine Kunstschule bringen kann. Die Verwendung des Begriffs Ordnung klingt bei Ihnen ein bißchen nach >besenrein< und nimmt sich für mich aus dem Munde eines Philosophen etwas merkwürdig aus. Die andere Bemerkung richtet sich darauf, daß Herr Lingner eigentlich immer von der Kunst gesprochen und Herr Böhringer jetzt eben ganz nebenher gesagt hat, man sollte mal an andere Künste denken. Also wer von beiden glaubt an die Kunst, und wer glaubt an verschiedene Künste? Das ist doch inhaltlich ganz wichtig und betrifft auch die Ausbildung.

Böhringer:

Eine schwierige Frage. Ich versuchte sie in einem Bild zu klären: daß nämlich Ordnung Grenzen hat und daß zum Beispiel im konkreten Fall in einer Lichtung Ordnung geschaffen wird oder daß die Ordnung schon da ist. Denn Ordnung, die geschaffen werden muß - was für eine Ordnung ist das? Ordnung im strengen Sinne der Philosophie ist etwas, was immer schon da ist.

Wie steht es mit der Kunst und den Künsten? >Kunst< habe ich in einem ganz harmlosen Sprachgebrauch verwandt, so wie man von den schönen Künsten gesprochen hat, zu denen die bildende Kunst gehört. Und so gibt es auch den Akademiegedanken, jetzt nicht im platonischen, sondern in dem Sinne, daß es einen Zusammenhang der Künste gibt und daß dieser Zusammenhang auch institutionell Ausdruck finden soll, zum Beispiel in einer Akademie. Die Akademien der Künste funktionieren, finde ich, nicht besonders gut. Aber woher die bildende Kunst meines Erachtens immer noch entscheidende Impulse bekommt: von der Literatur und von der Musik, denn diese beiden Künste - auch wenn Sie es nicht so gerne hören und ich vielleicht jetzt einen Sturm der Entrüstung entfache - Literatur und Musik, sind nicht umsonst als die grundlegenderen Künste verstanden worden. Ich sehe jetzt wieder bei den Kunststudenten, wie oft sie ihre Anregungen aus der Musik und aus der Literatur nehmen; und ich sehe auch, wie anstrengend das ist, wenn sie das Anregende in Form von wissenschaftlichen Theorien gefiltert erhalten.

Aber sie könnten es viel direkter, ursprünglicher, nämlich aus der Sprache, der Dichtung bekommen; natürlich ist jeder in der Lage, Bücher zu lesen und sich so anregen zu lassen. Umgang mit einem Schriftsteller zu haben, das finde ich interessant.

Um noch etwas allgemeines zu der Frage zu sagen: Was lernt man denn an Kunsthochschulen? Ich glaube, daß es wesentlich darauf ankommt, Gewohnheiten auszubilden, die kontemplativen Charakter haben. Und diese Gewohnheiten haben in der Kunst, anders als in der Philosophie, immer auch etwas Poetisches, nämlich den Charakter eines Tuns und Machens, so wie Zeichnen oder Malen. Dieses unablässige Tun - ... daß man nicht jeden Morgen fragen muß: Ja, was muß ich jetzt eigentlich tun? Jetzt muß ich erst mal nachdenken, was ich tun soll und so weiter... - das unablässige Tun entlastet ungeheuer. Wenn daher ein kontemplativer Zug mitgegeben ist, dann hat man schon fast alle Probleme gelöst. Wenn so etwas jetzt ausgezehrt wird, dringt in den Leerraum zuviel Theorie ein, die nicht richtig verarbeitet wird, weil sie nicht auf eine gewohnheitsmäßige Struktur stößt, die damit richtig umgehen kann. Das führt dazu, daß so leicht Konzeptkunst in einem schlechten Sinne als Lösung aller Probleme gefunden wird. Wenn man nämlich lange überlegt, kommt man sowieso auf einen Einfall. Möglicherweise ist dieser Einfall auch ganz gut, aber danach fällt man wieder in ein Nichts, weil man keine Gewohnheiten hat, weil dieser Einfall auch nicht in Abwandlung variationsfähig ist.

Ruckhäberle:

Herr Pfüller sagt sinngemäß dazu: Vielleicht ist, was wir vermitteln können, daß der Student in der Lage ist, einen Einfall so weiterzuverfolgen, daß er danach besser ist als zu dem Zeitpunkt, als er nur ein Einfall war.

Manfred Zoller:

Womöglich kann man die Frage anders beantworten, wenn man einfach mal die Entwicklung von Autodidakten betrachtet, die Kunstgeschichte gemacht haben - aus meiner Sicht auch eine Antwort für eine Kunsthochschule. Was ist lehrbar? Diese Autodidakten haben sich ganz allein um eine fast universitäre Entwicklung gekümmert. Sie haben sich mit Gebieten befaßt, wo auch Fragen formulierbar sind. Diese Sicht leitet von falschen Rezepten weg und stellt immer Öffnungen dar.

In unserem Jahrhundert waren die Naturwissenschaften beständig anregend, weil sie annahmen, Fragen beantworten zu können, die aber gar nicht beantwortbar waren. Und die sind im thematischen Bereich letztlich bildhaft von Künstlern beantwortet worden.

Noch etwas zur Parallelität der Künste, neben der bildenden Kunst: Literatur oder Musik. Man kommt, wie Herr Lingner richtig sagt, sehr schnell wieder zu den eigentlichen Formproblemen. Man sieht sie nur anders formuliert und das ist anregend.

Ruckhäberle:

Mein Problem ist nicht die Wissenschaft in einer Kunsthochschule, ist auch nicht die Theorie, sondern zu stark (auf etwas) bezogene Wissenschaft. Wenn sich etwas zu stark auf etwas anderes bezieht, wird's ziemlich sinnlos.

Reinhard Jacob:

Herr Böhringer - ein Zuspruch: Man sollte sich auf die Verläßlichkeit der Verrichtungen einlassen. Und Verläßlichkeit der Verrichtungen bedeutet, daß man eine Form der Alltäglichkeit einrichtet, das heißt: so etwas wie ein Tagewerk. Und so muß etwas beginnen: Jemand, der einen Berg besteigen will, muß sich ausrüsten. Und was ist die Verläßlichkeit der Verrichtungen? Das heißt unter anderem: sich in Tätigkeiten zu üben, die unsere Gattung Mensch seit 3500 Jahren begleiten.

Die Dinge als entwertet, historisch versetzt oder nebensächlich abzutun, scheint nicht das Gegebene zu sein. Wahrnehmung heißt eben auch: zu nehmen, was gegeben, was uns überkommen ist, nicht im Sinne des Wegwerfens - zu prüfen und aufzuheben, vielleicht im Sinne des Hans-Sachs-Prinzips: zwischen Schuh und Spekulation - desjenigen, der die Schürze früh umbindet. Oder im Sinne von Jakob Böhmes Spekulation, der bei der Verrichtung keinem Ding eine Priorität zumißt, aber ihre Wertigkeiten deutlich bedenkt. Also: ein Plädoyer für die Verläßlichkeit der Verrichtungen!

Böhringer:

Ja, ich stimme dem zu. Letzten Endes kann man das so einfach ausdrücken: Es geht darum, den Alltag zu organisieren. Das ist nicht so leicht, weil der Alltag immer schon organisiert ist, wir organisieren ihn. Aber wir organisieren ihn nicht einfach und reichhaltig genug.

Lingner:

Was Sie beschreiben, ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Wie erfindet man heute solche Verrichtungen, nämlich vor dem Hintergrund der Gegenwartskultur? Die Verrichtungen sind nicht gegeben. Man kann sich der Tradition bedienen, man soll und muß es. Nur durch mechanisches Wiederholen der Tradition - möglicherweise noch als Lehrprogramm - wird es sehr schwierig. Jede Zeit muß ihre Verrichtungen erfinden - zudem können sie nicht mehr als generelle Basis für künstlerische Praxis angegeben werden. Es gibt inzwischen ganz unterschiedliche Typen, die im künstlerischen Bereich arbeiten können, wo manuelle Einübung gar nicht mehr das Ausschließliche und Einzige ist.

Herr Böhringer, Sie sagen, die Lehrer der meisten freien Klassen versuchten das Meditative aufs äußerste zu fördern; und Sie glauben andererseits, daß das Meditative heute nicht mehr blühe und gedeihe. Das hat möglicherweise damit zu tun, daß der überkommene Begriff des Meditativen nicht mehr zu den Erscheinungsformen des Meditativen stimmt, wie sie sich vielleicht gerade jetzt entwickeln. Das heißt, ich habe immer Probleme, wenn der Kunst irgendeine Eigenschaft, irgendeine Funktion auf ewig zugeschrieben und immer schon gewußt wird, statt daß man einen Begriff wie Kontemplation als Suchwort für eine bestimmte Richtung nimmt. Ich glaube nicht, daß der Wind sich dreht und uns wieder zurücktreibt. Das wäre für mich eine nicht sehr verlockende Aussicht.

Jacob:

Es ist nicht gemeint, daß man sich nur auf gegebene Dinge orientiert. Das Problem scheint mir: Die Fülle des Gegebenen wird nicht deutlich wahrgenommen.

Ruckhäberle:

Ich kriege plötzlich mit Ihnen beiden, Herr Lingner und Herr Böhringer, ein großes Problem. Es gibt eine erzkonservative Sicht, zum Beispiel die des Philosophen Spaemann, der auch genau diese Beispiele anführt, die täglichen Verrichtungen und die Ordnung, die man in seiner Wohnung halten muß, weil man sonst am nächsten Tag im Chaos aufwacht. Dahinter steckt als Vorstellung ein restitutio-Gedanke, eher ein geschichtsphilosophischer Gedanke. Und so wie Sie hier sprechen, kommen Sie verdammt nahe an diese Position.

Ich habe vorhin auch die Fahrlässigkeit begangen, von den Künsten zu reden oder über ihre jeweilige Positionierung innerhalb einer Gesellschaft oder wie sich die Gesellschaft zu Künsten verhalten kann und umgekehrt... Aber mit diesen Verrichtungen - auf der einen Seite die kleinen Dinge und die Kleinteilung bei Stifter, den ich liebe, und auf der anderen Seite Spaemann -, da sind wir an einer Grenze, da sind wir eigentlich mitten in Botho Straussens »Ithaka«.

Jordan:

Herr Lingner hat einen Moment von einem Forum gesprochen, von einer Möglichkeit des Sich-Zusammenfindens, des Zusammen-Stammelns, Suchens und Streitens, woraus sich etwas Positives, Kreatives, Neuartiges ergeben könnte, Standpunkte zum Beispiel, Überlebensstandpunkte vor allem.

Die zweite Sache: Bilder verselbständigen sich immer. Das Wort Hain und das Wort Campus hat sich in meinem Kopf zu einem Bild verformt. Ich sehe also einen riesigen Campus - der reicht von den Alpen bis zur Ostsee -, und auf diesem Campus, der relativ gut geordnet ist, gibt es eine Anzahl von Hainen. Ich kann nun diese Haine abgehen, auch wieder von München über Berlin nach Hamburg und den Zustand dieser Haine feststellen. Es gibt da Haine, wo viel Gemurmel ist. Es gibt Haine, wo die Bäume die Blätter verlieren... Und vor allen Dingen stelle ich fest, nach meiner Wanderung, daß alle diese Haine ihr Wasser von dem Campus bekommen.

Pfüller:

Kleiner Nachtrag: In dem Moment, wo man meint, daß es Künste gibt, ordnet man den Künsten auch einen gewissen Inhalt zu. Und ich glaube, daß das ganze Dilemma daher kommt, daß man dem Begriff Kunst nicht mehr richtig zuschreiben kann, was für einen Inhalt er überhaupt hat. Ich möchte vorschlagen, daß man wieder versucht, Künste als Inhalte zu finden, so wie es eine Fechtkunst, eine Reitkunst, eine Malkunst oder eine Dichtkunst gibt. Und damit man versteht, wie vulgär ich das meine, möchte ich einen kleinen Witz von Simmel erzählen. Der trifft einen Mann und sagt: »Was machst du denn?« Da sagt der: »Ich bin Künstler.« Sagt Simmel: »Und was machst du da so?« Sagt der andere: »Ich mache Regenschirme.« Da sagt Simmel: »Das ist doch keine Kunst!« Sagt der andere: »So? Schon mal einen gemacht?«

Martin Colden:

Ich meine, daß an den Kunstschulen das Problem sicherlich nicht bei den Studenten besteht. Kommen die Studenten an die Kunstschule, gibt es oft strapazierende Aufnahmeprüfungen, die Leute sind davor ganz aufgeregt. Dann kommen sie an die Schule und sind oftmals sehr enttäuscht. Das große Problem an den Kunstschulen sind die Lehrenden. Mir gefällt die Beschreibung der Situation von Herrn Böhringer sehr gut. Die Lehrenden müßten versuchen, erst einmal diese Situation für sich selber wieder annehmen zu können. Die Doppelbelastung als freier Künstler und als Lehrender -will man denn als freier Künstler überhaupt Lehrender sein?

Was Sie, Herr Lingner, sagen, das halte ich für ziemlich gefährlich. Sie versuchen, eine Laborsituation zu schaffen und wollen doch die reale Situation verbessern. Ich glaube mit Böhringer, daß die Situation sich doch nur durch Zusammentreffen oder vom einzelnen aus verbessert. Da ist ein Lehrender, der Mann unterrichtet etwas. Er hat mit seiner Kunst eventuell Probleme; er möchte auch selber noch was werden, hat aber gar keine Zeit dazu, er will es sich vielleicht auch nicht mehr eingestehen.

Lingner:

Es gibt noch ein ganz anderes Problem: daß die Organisation unserer Hochschulen noch immer an dem Studentenideal des 19. Jahrhunderts orientiert ist - und die unserer Schulen übrigens auch. Nach einer Hamburger Untersuchung jobbt zirka ein Drittel der Oberstufenschüler bereits regelmäßig, und bei den Studenten ist es ohnehin schon normal. Die Struktur der Kunsthochschulen ist aber nach wie vor so, daß man noch von einem sogenannten Vollzeitstudenten ausgeht. Man muß das im Bereich des Künstlerischen auch allemal tun, weil der kreative Mensch ja keine Maschine ist und nicht auf Knopfdruck hin mit seiner Arbeit beginnen kann. Von anderen wird es jedenfalls verlangt, daß sie maschinenmäßig studieren, und sie müssen es sich selber abverlangen. Beim Künstlerischen geht das jedenfalls gar nicht. Wenn Sie nur an die Realität der Studierenden denken und an die Strukturen, die gerade in den Kunsthochschulen vorherrschen, dann liegt es auf der Hand, daß das nicht zusammenpaßt und daß es nicht ums Verbessern geht, sondern schlicht darum, den Realitäten sowohl der Studierenden wie den Realitäten der Lehrenden gerecht zu werden - natürlich auch der Entwicklung der Sachgebiete, denen der bildenden Kunst, des Kulturbewußtseins überhaupt.

Ich plädiere also für nichts weiter als für eine Suche: diesen verschiedenen Realitäten - von denen Sie jetzt eine erwähnen, die ja sehr gravierend ist - sich anzunähern. Inzwischen ist aber leider der Kunstbereich, die ehemalige ach so freie und fortschrittliche Avantgarde, zu einem der mental konservativsten Bereiche überhaupt geworden, wo jede Veränderungs- und Experimentierabsicht auf tiefe existentielle Ängste stößt.

Alfred Hückler:

Die größte Schwierigkeit, die ich mit den Akademikern habe - ich meine, mit den Rektoren der Akademien, mit den Meisterklassen, ist die, daß sie so antididaktisch sein wollen - dies mache angeblich die Definition einer deutschen Kunsthochschule aus. Bilden wir überhaupt aus für irgendwas, oder bieten wir nur Heimstatt? Gar das Wort Beruf oder Berufung in diesem Zusammenhang zu erwähnen, ist geradezu eine Blasphemie in diesem erlauchten Kreise.

Eine erste Frage der Lehrer ist die nach der Verantwortung, die wir übernehmen, wenn wir jemanden hier zulassen. Soll er ein Profi werden oder nur ein veredelter Dilettant? Das ist ja eine Frage auch der persönlichen Übereinstimmung mit dem, was Professor heißt. Professio heißt Bekenntnis. Ich meine schon, daß auch jeder seine Bekenntnisse haben sollte - ebenso den Studenten sagen sollte, welche Bekenntnisse er hat. Und ich meine, das gilt auch für eine Kunsthochschule, welche Bekenntnisse sie überhaupt generell hat.

Ruckhäberle:

Es ist ja von Herrn Bonsiepe deutlich gesagt worden, daß es ein großes Problem des Designs sei, daß heutzutage niemand mehr Design als Service sieht.

Hückler:

Ich halte die Herausforderung des Bauhauses nicht für dogmatisch, die Idee, daß die unterschiedlichen Disziplinen eine gemeinsame Grundlage haben, um interaktiv zu werden, damit man sich versteht. Wenn ich überhaupt an eine Lösung denke, dann an die, daß eine Dynamisierung des Angebots stattfinden müßte.

Ruckhäberle:

Die Grundlagen scheinen überhaupt das Problem zu werden, ganz prinzipell. Die Schule ist, das will ich hier sagen, so wie sie nun überhaupt über diese Aufbrüche diskutieren kann, wesentlich mitbestimmt worden durch Herrn Hückler. (Applaus) Er war unser Rektor bis zu diesem Jahre.

Hückler:

Die Würde einer Hochschule und Akademie entfaltet sich dadurch, daß sie auch die Grundlagen weiterentwickelt. Daß das mit Theorie zusammenhängt, das ist ja für mich sowieso selbstverständlich.

Ruckhäberle:

Vielen Dank, vor allem an die beiden Herren, die den letzten Teil dieses heutigen Tages bestritten haben. Ein Schlußwort soll es nun nicht geben. Kein Schlußwort also, aber Dank all den Gästen, die hier gesprochen haben. Ganz besonders danken möchte ich allen Mitarbeitern der Hochschule.


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