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Michael Lingner

Shopping I/II

Mit Tragetaschen. Oder: Sind Sie ein hoffnungsloser Markenfetischist?

Eigentlich braucht man ja nichts, möchte aber etwas haben oder erleben. Je stärker und unbestimmter dieser Wunsch ist, umso schwerer kann er gerechtfertigt und umso leichter enttäuscht werden. Darum verbirgt man ihn sowohl vor sich selbst als auch vor den anderen und bricht scheinbar spontan und absichtslos auf - unbeschwert von verräterischen und verpflichtenden Vorbereitungen wie Einkaufszetteln oder - Taschen.

Nicht auf ein bestimmtes Produkt oder Erlebnis gerichtet, wird man getrieben von dem Wunsch sich etwas wünschen, d. h. wirklich frei auswählen zu können.

Die Sehnsucht nach einem Moment der Harmonie zwischen der äußeren Welt und der eigenen Person mit ihren momentanen Bedürfnissen bildet den Kern des Begehrens. Es geht um das gute Gefühl, sich mit der Befriedigung der eigenen Vorlieben selbst verwöhnen zu können.

Womit aber auch immer man seinen Wunsch zu erfüllen und sich selbst zu überraschen sucht, nichts außer den wohlbekannten und überhaupt nicht einzigartigen Angeboten findet sich. Was da offeriert wird und vor allem der Gedanke, es zu besitzen, mögen zwar mehr oder minder gefallen. Aber mit jeder Konkretisierung entschwindet die Erfüllbarkeit des eigentlichen Wunsches umso mehr, sich in einer individuellen und persönlich passenden Wahl zu verwirklichen.

Die Illusion der freien Wahl verflüchtigt sich vollends in dem Moment, wo das Produkt erworben wird. Spätestens wenn es in einer der attraktiven Tragetaschen verschwindet, mit denen die multinationalen Marken ihre Identität multiplizieren, erweist sich meine Wahl als tausendfach von anderen geteilte Vorliebe - vorprogrammiert für Leute wie mich. Draußen, bei der Begegnung mit einer gleichen Marke, weicht der tröstliche Stolz dazuzugehören schnell tiefer Peinlichkeit: Durch die Marken gezeichnet erkennen wir uns geegenseitig in unserer heimlichen Absicht als solche, die auszogen mit dem Wunsch zu wünschen - und sich hoffnunglos verkauft haben.

Shopping II

Mit Bildboxen. Oder: Wären Sie auch gern ein Künstler?

Es macht die Qualität von Werken der Kunst aus, daß sie Ergebnis unwahrscheinlicher künstlerischer Enscheidungen sind. Ihre überraschende Unwahrscheinlichkeit beruht auf der freien, individuellen Wahl von Ideen, Materialien, Formen und Farben ... Im Idealfall sind diese Entscheidungen des Künstlers, die er zwar nicht bedingungslos, aber selbstbestimmt trifft, von authentischer Einmaligkeit und materialisieren sich in einem Original. Dessen Originalität ist ein einzigartiges und unwiederholbares Bild der Selbstverwirklichung des Künstlers.

Der Betrachter des Bildes vermag an dem Akt der Selbstverwirklichung des Künstler aber nur indirekt teilzuhaben: Schließlich trifft er nicht seine Wahl, sondern kann die Entscheidungen des Künstlers bestenfalls nach- oder mit-vollziehen. Dabei erscheint ihm dessen Freiheit leicht als bloße Beliebigkeit. Wo die Bilder abstrakt und im Sinne Umberto Ecos zu "offenen Werken" werden, ist zwar offensichtlich die Erweiterung der Einbildungskraft des Betrachers intendiert. Aber selbst hier ist ihm lediglich die Vorstellung von Wahlmöglichkeiten gegeben. Seine künstlerische Freiheit ist weiterhin bloß fiktiv aber nicht faktisch.

Damit Kunst auch zu einem Medium der freien Selbstbestimmung und -verwirklichung von Nicht-Künstlern werden kann, bedarf es eines anderen Umgangs mit Bildern. Über deren bloße Betrachtung hinaus ist eine Erweiterung um die praktische oder besser: pragmatische Dimension erforderlich. Nur wenn man mit den Bildern handelt, kann sich ihr Potential an Unwahrscheinlichkeit in einer wirklich freien Wahl realisieren. Denn vorstellen läßt sich zwar vieles, aber immer nur eines tatsächlich tun, wodurch dann allerdings nicht nur die eigenen, sondern auch die von den anderen geteilte Wirklichkeit faktisch verändert wird: Ästhetisches Handeln ist immer kommunikativ.

Wer sich für einen handelnden Umgang mit den Bildboxen entscheidet, intensiviert seine Teilhabe an der künstlerischen Freiheit. Er betrachtet das jeweilige Bild nicht nur, sondern er selbst ist dann dieses Bild. Indem er sein Handeln so weit wie möglich an den eigenen Vorlieben orientiert, ist er leibhaftig an der Ausführung des Bildes beteiligt. Die Erscheinungsform des Bildes wird für ihn zu einer Form seines Daseins. Mit der Erfahrung des qualitativen Unterschiedes zwischen dem bloßen Ansehen von Kunst und dem eigenen ästhetischen Dasein kann sich jeder den Wunsch nach Selbstverwirklichung erfüllen - aber nicht erkaufen.


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