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Michael Lingner

Zwischen Wahrnehmungs- und Seinsform

Die Frage nach dem »Werk« bei Franz Erhard Walther

Kunst zu erfahren und Kunst zu verstehen sind zwei Weisen mit ästhetischen Objekten umzugehen, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen sollten. Während die Kunsterfahrung sich am besten an den Objekten selbst machen läßt, ist das Buch besonders gut als Medium zum Verstehen von Kunst geeignet.

Die gedankliche Beschäftigung mit Werken der Kunst erschöpft sich zumeist darin, sie zu interpretieren. Oder es wird versucht, das, was die Künstler damit gemeint haben mögen, getreu nachzuvollziehen. Wer indes die tatsächliche Bedeutung eines Werkes verstehen will, kommt nicht an der Frage vorbei, ob und inwiefern es überhaupt mit Recht beanspruchen kann, als Kunst zu gelten. Zwar wird sich darauf niemals eine endgültige Antwort finden lassen. Aber zum wahrhaften Verständnis von Kunst ist es unerläßlich, über diese Frage diskutable Hypothesen zu entwickeln und zu erproben.

Derart gründlich und grundsätzlich über ein Werk nachzudenken, ist ganz wesentlich von dem Vermögen abhängig, es auf die Geschichte der Kunst beziehen zu können. Das gelingt umso besser, wenn am jeweiligen Werk gewisse formale und/oder konzeptionelle Entsprechungen zur bisherigen Kunst entdeckt werden. Insofern ist das persönliche Repertoire ästhetischer Vorstellungen, über das jemand bildlich und begrifflich verfügt, entscheidend für die Möglichkeit, historische Rückbezüge vornehmen zu können.

Um die eigene Kunst-Kennerschaft zu vertiefen und zu erweitern, bietet der vorliegende Katalog einen reichen Fundus an Bildern und Begriffen aus der Werkgeschichte von Franz Erhard Walther. Im Überblick wird erst recht deutlich, daß viele seiner Werkgruppen eine einmalige und exemplarische Position in der modernen Kunst einnehmen. Bis heute sind die traditionellen Relationen und Rollen in der Triade Künstler - Werk - Betrachter nicht noch einmal derart weitgehend aufgehoben und umdefiniert worden. Dabei wurde dem traditionell passiven Betrachter nie zuvor die Möglichkeit einer derart eigenständig aktiven künstlerischen Beteiligung gegeben. Ebendiese Besonderheit der Waltherschen Kunstkonzeption gilt es wirklich zu verstehen, um mit den Objekten intensive ästhetische Erfahrungen machen zu können.

Keine Erfahrung - und erst recht nicht die von Kunst -ist voraussetzungslos, also unmittelbar zu machen. Gleichermaßen ist es unmöglich, etwas direkt und unbeeinflußt von einem Vorverständnis zu verstehen. Es vermittelt sich durch die Perspektive, in der etwas dargestellt wird. Der folgende Überblick bevorzugt eine Sicht auf das Werk Walthers, die zweifellos einer Vorliebe entspricht. Aber darüber hinaus bringt sie ebendas besonders gut zur Geltung, was das Walthersche Kunstkonzept von anderen Kunstvorstellungen unterscheidet. Als die entscheidende Differenz wird angesehen, daß für Walther »das Werk« nicht schon in seinen eigenen Hervorbringungen existent ist, sondern zu allererst durch das tatsächliche Handeln von anderen entsteht.

Die radikale Andersheit der Waltherschen Kunstkonzeption, die sich allemal auch an den »Objekten« zeigt, ist eigentlich offensichtlich. Doch statt die Differenz suchen vor allem die bloßen Historiker der Kunst lieber nach Übereinstimmungen mit der Tradition. Sie lassen sich nicht beirren, Walthers Arbeiten weiterhin schlicht der Bild-Kategorie zu unterwerfen und erklären Kontemplation - nicht Handeln -zur angemessenen Rezeptionsform. Da diese Interpretation bei dem inzwischen schon klassisch gewordenen »1. Werksatz« unübersehbar völlig verfehlt ist, wird er kurzerhand zu einem »Sonderfall« des Waltherschen Schaffens erklärt.

Dies zu kritisieren soll freilich keineswegs heißen, daß es Walthers Arbeiten und ihrem Geist widerspräche, wenn sich auch kontemplative Betrachtung und innere Bilder im Rezeptionsprozess einstellen. Jede Aktivierung der Imagination entspricht der von Walther intendierten Beteiligung des Betrachters. Aber das aus vielen Bildern der Moderne sowie aus Umberto Ecos Theorie wohlvertraute Konzept des »offenen Kunstwerkes« wird im Sinne Walthers erst dort überschritten, wo seine »Objekte« als Instrumentarien zum Handeln angeschaut werden. Die Vorstellungskraft ist dann darauf gerichtet, mögliche Handlungen zu entwerfen, die mit dem jeweiligen Objekt und für die jeweilige Person verwirklichbar wären. Infolgedessen verliert das, was imaginiert wird, nicht nur an Beliebigkeit. Vielmehr gewinnt es -selbst wenn das Handeln faktisch unterbleibt - allein schon durch die Perspektive, daß es über die Sphäre der Vorstellung hinaus durch Handeln wirklich werden konnte, an Intensität. Das gilt erst recht für die Imagination desjenigen Handlungsentwurfes, der schließlich ausgewählt wird, um auch tatsächlich realisiert zu werden - und allemal für das Handeln selbst.

Handeln schafft soziale Wirklichkeit, die gemeinsamer Bezugspunkt des Denkens und Handelns anderer ist. Darum haben Handlungen stets eine interaktive und kommunikative Dimension. Diese Qualitäten können kultiviert werden, wenn sich das Handeln weder am sinnlich Angenehmen, noch rational Wahren oder moralisch Guten ausrichtet, sondern ästhetisch motiviert um seiner selbst willen künstlerisch praktiziert wird. Nicht der künstlerische Schaffensprozess und sein Ergebnis, sondern der dem Rezipienten gelingende Handlungsprozess begründet dann die ästhetische Wertvorstellung, die wir »Kunst« zu nennen gewohnt sind.

I.

Das, was wir heute unter Kunst verstehen, entsteht erst im 19. Jahrhundert. Als sich die Künste infolge der Französischen Revolution aus ihren früheren kirchlichen und höfischen Fesseln lösen können, beginnen sie autonom zu werden. Durch ihre hochgradige Offenheit für vielfältige Interpretations- und Rezeptionsweisen gewinnen bereits Werke wie Caspar David Friedrichs Abendlandschaften oder späte Aquarelle von Cezanne eine weitgehende Eigenständigkeit. Den entscheidenden Schritt, sich von kunstfremden Zwängen noch weiter zu befreien, vollbringt die Kunst dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihr gelingt es, sich vom Dogma zu befreien, die Gegenstandswelt nachahmen zu müssen.

Je abstrakter und schließlich ungegenständlicher die moderne Kunst wird, desto mehr besinnt sie sich auf die ihr eigenen Formungsprinzipien. Daß in den bildnerischen Mitteln selbst eine »innere Notwendigkeit« liegt, die für die künstlerische Praxis bestimmend ist, gehört zu Kandinskys wichtigsten Entdeckungen. Dadurch ist er imstande, mit der Überfülle der künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten, welche die ungegenständliche, »absolute Malerei« bietet, produktiv und nicht willkürlich umzugehen. Die kunstimmanenten Notwendigkeiten werden so zur entscheidenden Kraft des künstlerischen Schaffens im 20. Jahrhundert.

In der Folge haben die modernen Künstler mit sehr unterschiedlichen Strategien versucht, ihrer Praxis »innere Notwendigkeit« zu verleihen. Dabei ist den meisten mehr oder minder bewußt eine Absicht gemeinsam: Sie wollen die Entstehung des Werkes von allen Zufälligkeiten der Künstlerpersönlichkeit (wie etwa geschmacklichen Vorlieben) unabhängig machen. Die beabsichtigte Eigenständigkeit der Werke gegenüber dem künstlerischen Wollen wird aus expliziten Überlegungen vieler Künstler deutlich. Was gemeint war, wenn etwa im Umkreis des Bauhauses von »materialgerechter Gestaltung« oder vom »Eigenleben der Farbe« die Rede war, hat Kandinsky klar formuliert: »Nicht der Künstler, sondern sein Instrument und sein Material sollen das Bild bestimmen.« (1)

Noch weitergehend verzichtet Duchamp in seinen »ready mades« auf den Anspruch, alleiniger Schöpfer des Werkes zu sein. Stattdessen proklamiert und praktiziert er den Zufall als künstlerisches Produktionsprinzip, wie wir es auf andere Weise auch von Breton mit seinem »reinen psychischen Automatismus« kennen. Aus dieser das unbewußte Handeln verabsolutierenden Traditionslinie entwickeln sich bald nach 1945 in Amerika mit Pollock und in Europa durch Wols spezifische Ausprägungen informeller Malerei. Solche Beispiele dieser die damalige Kunstszene beherrschenden Malerei nimmt Walther zum ersten Mal 1959 auf der »documenta II« bewußt wahr. In diese Zeit fällt auch seine endgültige Entscheidung für die Kunst und sein Wechsel an die Frankfurter Städelschule.

II.

Doch schon vor dieser Zeit entsteht ein beachtliches Frühwerk, bei der ersten umfangreichen Ausstellung durch Götz Adriani 1972 in der Kunsthalle Tübingen als »Vorarbeit« zu all dem gewürdigt, was »für künftige (Kunst-)Vorstellungen von initiativer Bedeutung« (2) war. Nicht zuletzt dank des Werkverzeichnisses von Carl Vogel und der eingehenden Analysen von Manfred Schmalriede und Dierk Stemmler (3) wird Walthers Frühwerk nicht nur im Hinblick auf den »1. Werksatz« als bedeutend angesehen. Vielmehr handelt es sich um einen eigenständigen Werkkomplex und Beitrag zur Weiterentwicklung künstlerischer Formungsvorstellungen, dessen Entstehung erstaunlicherweise ausnahmslos in die Studienzeit fällt. Dabei standen Walthers Studienbeginn und -verlauf unter eher ungünstigen Vorzeichen, als er gegen den Willen der Eltern die Lehre im familieneigenen Bäckereibetrieb abbricht und 1957 an der Werkkunstschule Offenbach zu studieren beginnt.

Bereits in dieser ersten, bis 1959 dauernden Studienphase entwickelt Walther Ansätze, die weit über alles Schulmäßige hinausreichen. Sie entstehen noch ohne eine eigentliche künstlerische Intention aus Vorarbeiten zu Studienaufgaben. Dabei entdeckt Walther den ästhetischen Eigenwert so mancher sich dabei ergebenden, an sich sekundären, Materialzustände. Die ersten dieser »Neben«-Arbeiten, die Schnittzeichnungen von 1957, sind für die Kunst jener Zeit ungewöhnlich und werden - zumal bei einem 18jährigen -überhaupt erst daraus erklärlich, daß es damals bei Gebrauchsgraphikern üblich war, mit dem Federmesser zur Entwurfsarbeit benötigte Formen aus farbig angestrichenem Karton herauszuschneiden. Dieses Verfahren sowie Übermalungen mit Fettkreide dienen Walther zur spielerischen Veränderung eigener, inzwischen verworfener jugendlicher Karikaturversuche. Die Aus-Schnitte erzeugen Leerstellen, durch die das Bild bereits hier eine »offene«, die Vorstellungstätigkeit der Betrachter herausfordernde Struktur bekommt. Eine ähnliche Intention verfolgt Walther auf formal ganz andere Weise mit seinen gleichzeitig entstandenen »Wortbildern«. In der Manier damaliger Plakatmalerei, aber frei von deren Zweckbestimmung, setzt er jeweils ein einziges farbig angelegtes Wort auf einen andersfarbig gestrichenen Grund. Durch die gezielte Plazierung, Farbwahl und Entscheidung für eine bestimmte Schrifttype entstehen im Bezug auf die jeweilige Wortbedeutung überraschende Anmutungen und Assoziationen.

Auch das für viele der späteren Arbeiten überaus wichtige Rahmenmotiv verdankt sich einer Zufallsarbeit im angewandten Bereich. Walther erhält den Auftrag, auf gleichformatigen, weißen Kartons die für Anzeigentexte vorgesehenen Felder mit einer schwarzen Linie zu umranden und erlaubt es sich, das Ergebnis als künstlerische Arbeit anzusehen. Außer diesen »12 Rahmenzeichnungen« gibt es in der Offenbacher Zeit noch eine andere Entdeckung, die Walther beim Durchpausen von Schrift macht. In den dazu auf der Blattrückseite angelegten Schraffuren erkennt er mit seinem inzwischen weiter ausgeprägten Spürsinn ein künstlerisch interessantes Gestaltungsprinzip. Einer sublimen Methode des Ausstreichens, Überdeckens und Löschens eigener und fremder Akt-, Landschafts- oder Porträtzeichnungen sich bedienend, kommt es zu der großen Gruppe der »Schraffurzeichnungen« von 1958/59. Indem die als Handlungen sich zunehmend verselbständigenden Schraffurbewegungen mehr und mehr Bedeutung bekommen, werden die Ergebnisse abstrakter und der informellen Malerei immer ähnlicher.

Seine zwei Frankfurter Jahre an der Städelschule, wohin Walther 1959 gewechselt ist, kann er intensiv der Auseinandersetzung mit dem Informel widmen, da es ihm als einzigem seiner Klasse erlaubt war, »abstrakt« zu malen. Nach anfänglichen stilistischen Adaptionen und bald nachfolgenden bemerkenswert eigenständigen Varianten, erschöpft sich jedoch sein rein malerisches Interesse recht schnell. In der Folge entstehen bereits stärker vom Material und seinen zufälligen Zuständen beeinflußte Arbeiten. Die »Sieben Nesselgründe« von 1961 etwa begreift Walther zwar durchaus noch als Malerei, aber diese umgespannten Rückseiten früherer Bilder haben nur noch so wenig mit der informellen Bildauffassung zu tun, daß sie von Walthers Professor als »einer deutschen Kunsthochschule nicht gemäße« (4) Provokation bewertet werden und zur zwangsweisen Exmatrikulation führen.

III.

Im Frühjahr 1962 wechselt Walther an die Düsseldorfer Akademie in die Klasse für Malerei von Karl Otto Götz, wo zur selben Zeit u. a. auch Gerhard Richter, Sigmar Polke und Konrad Fischer studieren. Götz berichtet später, Walther habe ihm erklärt, »daß er von der Städelschule komme und sein dortiger Lehrer ihm verboten habe, informelle Bilder zu malen.« ... »Sehr bald jedoch«, erinnert sich Götz, »malte Walther keine informellen Bilder mehr...« (5) Aber auch wenn ihm das Informel als Malerei nun nicht mehr sonderlich interessant erscheint, beschäftigt ihn doch weiterhin die diesem Stil zugrunde liegende Haltung und der seinerzeit verbreitete Gedanke, daß die Kunst sich notwendig auf einen Nullpunkt hin bewegen müsse. Walther reagiert wortwörtlich auf den Begriff des Informel und bekommt dadurch die Perspektive, Kunst - statt vom Ergebnis - von ihrer Entstehung her zu denken: »Das Informel als Nullpunkt hat für mich das Ungeformte bedeutet, das Zurückgehen an den Anfangspunkt, wo noch nichts geformt ist, wo es sich erst zu formen beginnt...« (6)

Um der solcherart radikalisierten Auffassung des Informellen zu entsprechen, sucht Walther in seinen seit etwa 1962 entstehenden Papierarbeiten all das zu vermeiden, was nach einem illusionistischen Gebrauch der Mittel oder anderen herkömmlichen Formentscheidungen aussieht. Statt Papier - wie es sonst geschieht - lediglich als Oberfläche für fiktive Welt- oder subjektive Selbstdarstellungen zu nutzen, arbeitet er mit den spezifischen stofflichen Eigenschaften dieses Materials. Durch solche absichtlich »kunstlosen« Bearbeitungsweisen wie Faltungen, Klebungen, Abrisse und Durchtränkungen erschließen sich die materiellen Qualitäten des Papiers als ein quasi objektives Formpotential und immer eigenständiger werdendes Gestaltungsmittel. Indem Walther dabei die Vor- und Rückseiten des Papiers gleichberechtigt ins Spiel bringt, verwendet er es zwar bereits wie einen (flachen) Körper. Dennoch denkt er weiterhin »letztlich ... kompositionell in Flächenverhältnissen« (7) und noch nicht konsequent dreidimensional.

Zur tatsächlichen Überwindung der Bildproblematik und Aufhebung des bis dahin bestehenden Zwanges, künstlerische Formentscheidungen im konventionellen Sinne treffen zu müssen, verhilft Walther ein Zufall: der auf eine Papierklebung zur Beschwerung gestellte Wassereimer ist undicht und das durchfeuchtete Papier verändert sich bei der Trocknung in verschiedenartigster Weise. Durch dieses Mißgeschick eröffnet sich Walther das Prinzip, bei Materialien selbsttätige Formungsprozesse herbeizuführen. Fortan wählt er die Beschaffenheiten des Papiers und dessen Bearbeitungsweisen gezielt so aus, daß beide zusammen, aufeinander reagierend, selbst formbildend werden. Durch die - wie Walther später anmerkt - aus der Backstube übernommenen Schichtungen, Füllungen, Teilungen oder Auftrennungen des Papiers werden die Papierkörper immer kompakter und nun tatsachlich dreidimensional: Als flaches Kissen wandelt sich das Bild zum Objekt.

Mit den Papierarbeiten nimmt Walther die spätere »Prozesskunst« vorweg, indem er vom Künstler unabhängig ablaufende Materialprozesse organisiert, die nach ihren eigenen Gesetzen die Gestalt des ästhetischen Gebildes bestimmen: das Werk gewinnt eine bis dahin unbekannte Art der Autonomie. Als erste in diesem Sinn geschaffene größere Arbeit entsteht 1962 das aus einem Stapel von einzelnen Papierkörpern bestehende »Große Buch I«, dessen 52 »Seiten« sich auf die Anzahl der Jahreswochen beziehen. Wie in einem Kompendium sind darin die mit Papier möglichen Materialprozesse versammelt. Damit ist ein echter Höhe- und Wendepunkt des Informellen im Sinne Ecos erreicht, da es hier »nicht dazu veranlaßt, den Tod der Form überhaupt zu dekretieren, sondern dazu, einen artikulierten Formbegriff, den der Form eines Möglichkeitsfeldes, zu bilden.« (8)

IV.

Der Weg zur Weiterentwicklung seiner Arbeit ergibt sich für Walther aus dem zunächst rein praktischen, bei der Herstellung, Lagerung oder Präsentation der Papierarbeiten sich einstellendem Umgang. Dabei wird ihm bewußt, daß aus solchen Handhabungsweisen wie etwa dem Stellen, Stapeln oder Legen der Arbeiten, eine neue Dimension ästhetischer Erfahrung zu gewinnen ist. Daß er die folgenden Arbeiten bewußt auf die haptische Hantierung hin konzipiert, führt zu einer über das visuelle Wahrnehmen hinausgehenden, sich polyästhetisch zum realen Handeln erweiternden Weise ihrer Rezeption. Der vom Künstler organisierte Materialprozess ist nun für die ästhetische Erfahrung genauso wichtig, wie der vom Laien zu vollziehende Handlungsprozess. Damit hat Walther einen weiteren ästhetisch bedeutsamen Prozess entdeckt, den er zwar künstlerisch zu initiieren vermag, aber dessen Vorlauf er nicht bestimmen kann und will.

In den benutzbaren »Objekten« des zwischen 1963 und 1969 entstandenen »1. Werksatzes« ersetzt Walther die naturgemäß begrenzte und bald erschöpfte Selbsttätigkeit der Materialprozesse durch die im Prinzip unendliche Selbsttätigkeit des mit seinen »Objekten« handelnden Rezipienten. Dadurch wird die Bedeutung, die dem Künstler und seiner Formung noch zukommt, nach traditionellem Verständnis sowohl extrem relativiert als auch umdefiniert. Daß Walther die Veränderungen, die seine künstlerische Arbeit in den Material- sowie in den Handlungsprozessen erfährt, nicht nur akzeptiert, sondern eigens beabsichtigt, heißt freilich nicht, daß für ihn der Formgedanke in der Kunst unwichtig wird. Ganz im Gegenteil erklärt er »Formung ...« zu einem der Begriffe, »um deren Verwirklichung sich die ganze Arbeit dreht«. (9)

Aber gerade wegen der Wichtigkeit, die Walther der Form beimißt, verzichtet er auf das den Künstler auszeichnende Privileg: die Schöpfung vollendeter Formgebilde. Stattdessen richtet er seine künstlerischen Anstrengungen darauf, daß der Laie Prozesse ästhetischer Formung selbstbestimmt zu leisten vermag. Walther autorisiert den Laien zur Werkbildung, indem er die künstlerische Praxis nicht in den Dienst der eigenen ästhetischen Selbstverwirklichung stellt und autonome, geschlossene Werke hervorbringt, sondern »Objekte« als multifunktionale, offene Werk-Zeuge schafft. Nur in diesem Sinn, daß er die Werkform nicht vorgibt, sondern dem Laien die eigentlichen ästhetischen Ausformungsprozesse aufgibt, ist es zu verstehen, wenn Walther von seinem »Hang zum Formlosen« als dem »Nährboden« spricht, »aus dem der 1. Werksatz entstanden ist«. (10)

Die endgültige Ablösung von den künstlerischen Bestrebungen der Monochromen und insbesondere Manzonis, an den seine Papierarbeiten noch erinnern, gelingt Walther mit der ersten genähten Arbeit, dem »Stirnstück« von 1963, welches als das erste der 58 zum »1. Werksatz« gehörigen »Objekte« entsteht. Nach der Entdeckung des Handlungsmoments, erscheint seine Entscheidung, den ursprünglich künstlerischen Formungsprozess völlig dem Laien zu überantworten, von heute aus nur logisch. Daß Walther diese Konsequenz als künstlerische Möglichkeit aber tatsächlich erkannt und überzeugend praktisch umgesetzt hat, begründet den Rang des »l. Werksatzes« innerhalb seines Kunstschaffens und in der Kunst unserer Zeit. Für die zwar auf einen kleinen Kreis beschränkte, aber recht rasche Akzeptanz des »1. Werksatzes«, die durch das 1968 von Kasper König herausgegebene Buch »Objekte, benutzen« eingeleitet wurde, mag die damalige Umbruchstimmung in der Gesellschaft mitverantwortlich gewesen sein. Entscheidender für die kunstinterne Anerkennung war aber, daß die »Objekte« des »1.Werksatzes« einige Momente in sich vereinen und teilweise vorwegnehmen, die sich auch in solchen Kunstrichtungen der 60er und 70er Jahre wie etwa der Arte Povera, der Minimal-, Concept-, Body- und Process-Art, bis hin zur Performance wiederfinden.

V.

Die »Objekte« des »1.Werksatzes« haben erklärtermaßen keinerlei werkhaften Anspruch. Vielmehr sind sie gleichsam Instrumentarien, deren gesamte Materialität funktional auf Benutzbarkeit hin organisiert ist und selbst keine eigens beabsichtigten ästhetischen oder werkhaften Qualitäten aufweist. Wegen ihres instrumentalen Charakters sind die »Objekte« nicht zum bloßen Anschauen gemacht, sondern zum realen Handeln, bei dem das Sehen nur sekundär ist. Der visuellen Wahrnehmung kommt bei diesen »Objekten« generell nur eine geringe Bedeutung zu: »Blindobjekt« beispielsweise ist der programmatische Titel einer wichtigen Arbeit aus dem »1. Werksatz«, in dem generell mit der überkommenen Fixierung und Reduzierung auf den Gesichtssinn als alleinigem Organ bildkünstlerischer Formerfahrung gebrochen wird.

Wer die aus Stoff gefertigten »Objekte« in einer bestimmten, durch ihre materiale Beschaffenheit vorgegebenen Weise handhabt, wird in ein je spezifisches Verhältnis zu sich selbst, zu seiner Umgebung und/oder zu den anderen Beteiligten versetzt. Indem durch den Objektgebrauch die Wahrnehmung einschränkt, intensiviert oder konzentriert wird, ist die gewohnte Wirklichkeit nur ausschnitthaft erlebbar. Um sich dennoch zu orientieren, wird der Handelnde die schwächeren oder fehlenden Sinneseindrücke vorstellungsmäßig zu ergänzen und die übrigen Sinneswahrnehmungen zu verstärken suchen. Durch diese Umgewichtung wird das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen aktiviert und die Wirklichkeit eine andere. Jeder kann sich selbst - mit allem was ihn physisch und psychisch ausmacht - als denjenigen erfahren, der seine Beobachtungen der Welt selbst »macht«.

Vor allem aber treten an die Stelle der einen, vermeintlich einzigen Wirklichkeit, Vorstellungen mannigfaltiger Möglichkeiten des Erlebens - alles, was ist, könnte auch ganz anders sein. Diese Erfahrung von Kontingenz bedeutet den Beginn eines selbstreflexiven Prozesses, in dessen Verlauf sich nach dem Prinzip des »Denkens des Denkens« die Möglichkeiten des Erlebens und Handelns immer weiter steigern. Damit diese Komplexität das Verarbeitungsvermögen des Handelnden nicht überfordert und seine Erlebniswirklichkeit dekonstruiert, werden Reduktionen erforderlich. Wenn die Entscheidungen, welche Vorstellungen als Handlungen in die Wirklichkeit überführt werden sollten, nach künstlerischen Gesichtspunkten getroffen werden, kommt es zu einem ästhetischen Formungsprozess. Dieser kann in eine Bestimmtheit des Bewußtseins münden, in welcher die maßlose Komplexität der durch die »Objekte« erfahrbaren Möglichkeiten, proportioniert und verdichtet zu einer ästhetischen Totalität, als Werk zur subjektiven und als Handlung zur intersubjektiven Wirklichkeit wird.

Franz Erhard Walther hat es ausdrücklich zu seinem Programm erklärt, daß »Verantwortung für das, was bei der Objektbenutzung >an Kunst< entsteht, ... letztlich jeder Handelnde selbst und nicht der Künstler (trägt), weil nicht das Stück (= die Arbeit) Werk ist, sondern die Handlung damit Werk werden kann. So >steckt< auch die Bedeutung ... nicht in den Stücken. Vielmehr bekommt alles seine Bedeutung erst durch die Art und Weise, wie der Einzelne handelt.« (11) »In den (Handlungs-)Prozessen ist das Visuelle nicht mehr ausschließlich konstitutiv für das Werk. Es handelt sich vielmehr um Zusammenhänge und Entstehungen, die aus Positionen, Vorstellungen, Bewußtseinsformen, Erfahrungen ... bestehen«. (12) »Das Werk ist mit dem konkreten Handlungsprozess nicht zu Ende ... Die Erfahrungen dort arbeiten nachher in anderen Lebensbereichen weiter und entwickeln ihre eigene Wirkung. Das alles gehört zum Werk.« (13)

Indem Franz Erhard Walther statt des Künstlers den kunstinteressierten Laien zum eigentlichen Subjekt der ästhetischen Formung macht, verändert er den traditionellen Material- und Werkbegriff der Kunst in grundlegender Weise. Alles, was für den Handelnden beim Gebrauch der »Objekte« wichtig ist: sein Denken, seine Sprache, seine Wahrnehmungen, Phantasien und Emotionen in Zeit und Raum kann Material sein, aus dem das Werk des Bewußtseins geformt wird. Werk-»Stoff« ist vor allem auch der am Handlungsprozess beteiligte andere Mensch, der alle vorkommenden Faktoren reflektiert und dadurch potenziert, was »die erstmalige Einbeziehung der sozialen Dimension in künstlerische Überlegungen« (14) bedeutet. Da all diese »Materialien« für den Handelnden zwar sehr real, nicht aber von eigentlich stofflich-dinglicher Beschaffenheit sind, ist das Werk nicht länger als eine unauflösliche Verbindung von »dinglichem Unterbau« und »ästhetischem Oberbau« (15) zu begreifen. Vielmehr zerfällt diese das klassische Werk definierende Einheit in einen vom Künstler hervorgebrachten dinglich-materialen Teil, der für das Werk als Instrumentarium fungiert, und in einem vom Rezipienten selbstbestimmt zu realisierenden mental-immateriellen Teil, dem das eigentlich Ästhetische zukommt und der Werkgestalt annehmen kann.

Walthers »Objekte« haben nicht sich selbst, sondern die Entstehung des »immateriellen WERKES« (16) beim Laien zum Zweck. Wie jedes Instrumentarium dienen sie mit den in ihnen vergegenständlichten Regeln und Funktionen einem außerhalb ihrer selbst liegenden, heteronomen Zweck. Insofern lassen sie sich als ein frühes Beispiel für die »Finalisierung der Kunst« (17) begreifen und entsprechen nicht den klassischen Kriterien autonomer Kunst. Auch in anderer Hinsicht ist der Unterschied zwischen klassischem und immateriellen WERK gravierend und nicht derart zu banalisieren, daß das eine eben äußerlich und das andere nur innerlich anschaubar sei. (18) Das immaterielle WERK ist für seinen Autor überhaupt kein von ihm verschiedenes Objekt der Betrachtung, sondern er selbst ist dieses WERK, das ihm eine authentische Erfahrung des Werk- und Selbst-Seins vermitteln kann. Auf das Gravierende der Differenz zwischen bloßem Sehen und wahrhaften Sein hat Schopenhauer aufmerksam gemacht: Einem Optimisten, der ihn »heißt ... hineinsehn in die Welt, wie sie so schön sei im Sonnenschein mit ihren Bergen, Tälern ... und so fort«, begegnet er mit der (er)nüchtern(d)en Frage: »Ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehen sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu sein ist ganz etwas Anderes.« (19)

VI.

Daß der Rezipient das Werk als ästhetische Form seines Daseins erhandeln soll, was »in letzter Konsequenz Folgen hinsichtlich seiner Lebensführung hätte« (20), diese Idee liegt im Prinzip auch allen nach dem »1. Werksatz« entstandenen Arbeiten Walthers zugrunde. Gleichwohl gibt es nach der dort erfolgten, an Radikalität mit Duchamp vergleichbaren Überwindung des Rationalen in der Kunst, bei Walthers folgenden Arbeitskomplexen eine Umorientierung: Das bisher vom Handlungsmoment zurückgedrängte Visuelle wird wieder wichtiger und es kommt für Walther zu einer »Wiederentdeckung des Optischen«. (21) Zuerst zeigt sich diese Tendenz an dem umfangreichen Konvolut der »Diagramm«-Zeichnungen zum »1. Werksatz«. Es sind in exemplarischer Absicht unternommene Versuche, die eigenen Handlungsund Werkbildungsprozesse mit den »Objekten« zeichnerisch zu rekonstruieren. Dieser Funktion ist die Art, wie Walther dabei mit Form, Farbe und Schrift umgeht, zunächst noch völlig untergeordnet. Doch seit Ende der 60er Jahren setzt er die formalen Mittel zunehmend als künstlerische Eigenwerte ein. In zahlreichen Über- und Bearbeitungen wandelt sich dadurch die funktionale Aufzeichnungsform »Diagramm« zur autonomen Kunstform »Werkzeichnung«. (22)

Die Zurücknahme der reinen Funktionalität zugunsten einer stärkeren formalen Autonomie der Arbeiten setzt sich auch in den anderen nach 1969 geschaffenen Werkkomplexen fort. Sie geht einher mit einer immer weiteren Relativierung des Handlungsaspektes, was schließlich dazu führt, daß Walther den Lagerzustand seiner Arbeiten ausdrücklich zur eigenen Werkform erklärt. Zwar ist seit Anfang der 60er Jahre die »Lagerform« eine für viele seiner Arbeiten typische und immer wiederkehrende Erscheinungsweise. Aber erst durch die Renaissance des Retinalen kommt es dazu, daß Walther das »Lager« nicht mehr als einen dem Handeln notwendig vorhergehenden oder nachfolgenden Zwischenzustand ansieht, sondern es als einen völlig eigenwertigen Seinszustand des Werkes akzeptiert. Das geht soweit, daß er sowohl für bereits vorhandene Arbeiten spezielle Lagerformen entwickelt und in Ausstellungen präsentiert, als auch beeinflußt durch die Idee der »Lagerform als Werkform« neue, bildhaftere Arbeiten schafft.

Diese Entwicklung zeichnet sich bereits ab in den 42 Schreitstücken des »2. Werksatzes« von 1972, wo sich die physischen Handlungsmöglichkeiten des Laien auf die Bewegung des Seitwärtsgehens beschränken. Abschied nehmend von der 60er-Jahre-Idee einer gesellschaftlich expansiven Kunst, verläßt Walther »sein erstes Atelier«, den für seine Kunst so prägenden »Erfahrungsraum der Hochrhön« (23), und konzipiert - abgesehen von zwei Ausnahmen (24) - alle folgenden Arbeiten primär für Innenräume. Die an die Physis der Rezipienten gestellten Ansprüche reduzieren sich entsprechend. Die zurückzulegenden Strecken werden kürzer, bloße Blickverschiebungen spielen eine immer größere Rolle und ob die von den Stücken vorgegebenen Positionen »leibhaftig« eingenommen werden, ist immer weniger wichtig. Die Handlungsmöglichkeiten sind im wahrsten Sinn des Wortes absehbarer geworden, so daß auch ohne reales Handeln skulpturale Vorstellungen entwickelbar sind. Es wird möglich, sich »als Skulptur (zu) empfinden oder (zu) denken«, oder sogar durchaus nur »von ... Unbeteiligten ... als Skulptur gesehen (zu) werden.« (25)

Die Entwicklung von der Dominanz des körperlichen Handelns zur Reintegration des bildhaft-skulpturalen Erlebens führt schließlich zu den »Wandformationen«, die bisher der umfangreichste Arbeitskomplex im OEuvre Walthers sind. Sie sind aus dem Bedürfnis des Künstlers entstanden, seine Erfahrungen bei der Arbeit mit dem »1. Werksatz« nicht mehr nur diagrammartig aufzuzeichnen, sondern noch weitgehender zu verbildlichen als mit den »Werkzeichnungen«. Das, was in den Tausenden von Zeichnungen überwiegend abstrakt und der Vorstellungskraft überlassen blieb, sollte plastisch, material und sinnlich erlebbar werden. Während die visuell sich völlig verweigernden »Objekte« des »1. Werksatzes« eine radikale Position extremer Entmaterialisierung des eigentlichen Werkes behaupten, haben Walthers »Wandformationon« zweifellos wieder einen materialen, höchst anschaulichen Charakter.

Mit ihren Säulenformen, Ummantelungen und verschiedensten Formfragmenten sind die »Wandformationen« durchaus der konventionellen Kunstbetrachtung zugänglich. Durch ihre formalästhetischen Reize und reichen kunstgeschichtlichen Bezüge sowie durch ihren ausgesprochen bildhaft skulpturalen Eigenwert definieren sich die Arbeiten auch als autonome Werke. Daß Walther sich von rein funktionalen Gestaltungsprinzipien löst und bei den »Wandformationen« mehr materialästhetische Momente ins Spiel bringt, verhindert jedoch keineswegs, daß sie weiterhin auch instrumental funktionieren können. Wer ganz bewußt eine Position »in«, »an« oder »vor« ihnen einnimmt, benutzt die »Wandformationen«, um sich selbst zur Skulptur zu machen. Der gleichwohl erfolgten Zurücknahme des faktischen Gebrauchscharakters korrespondiert eine umso stärkere optische Instrumentalität: mehr als die früheren »Objekte« sehen die »Wandformationen« tatsächlich sehr funktional und wie Instrumente aus. Die Absicht, derart die klassische Weise der Kunstrezeption wieder zu ermöglichen, ohne das Konzept des real zu erhandelnden immateriellen WERKES völlig aufzugeben, hat Walther als den Versuch beschrieben, »Attentäter und Klassiker zugleich sein« (26) zu wollen.

VII.

Was von einigen Kritikern für inkonsequent gehalten wird, hat auf andere, besonders amerikanische Künstler und ihre in den 80er und 90er Jahren enstandenen Arbeiten offenbar gerade anregend gewirkt. So haben etwa Clegg & Guttmann mit ihrem Projekt der »Offenen Bibliothek« Walthers Idee des realen Handelns aufgegriffen und weitergeführt, während ein erklärtermaßen von Walther inspirierter Künstler wie Haim Steinbach mit den Möglichkeiten des durch visuelle Reize reflexhaft ausgelösten imaginären Handelns spielt. Bei Walther selbst kommt es ab etwa 1987 zu einer eindeutigeren Entscheidung gegen den Gedanken der Instrumentalität und Funktionalität. Die nun entstandene Werkgruppe der »Configurations«, zu denen auch die Arbeit »Gesang des Lagers« gehört, läßt sich als eine Reaktion Walthers auf die postmoderne Kunstsituation verstehen. Die Kunst der Moderne war noch von der Überzeugung getragen, daß in allen »inneren Notwendigkeiten« (27), welche die Künstler als Kriterien für ihre Formentscheidungen aufgeboten haben »die geistige Kraft des Objektiven ... zum Ausdruck kommt«. (28) Dagegen läßt sich die Postmoderne - oder wie immer jener die Moderne verabschiedende Paradigmenwechsel heißen soll - als Phase der Bewußtwerdung begreifen, in der jede avantgardistische, sich verabsolutierende Notwendigkeitsvorstellung, zu der auch die Idee des Funktionalismus gehört, gleichsam als eine bloße Kreativitätsmaschinerie (»Junggesellenmaschine«) durchschaubar und dubios wird.

Denn durch den der Moderne innewohnenden Innovationszwang mit seiner stetig sich beschleunigenden Produktion, wurde eine »Notwendigkeit« von der anderen immer schneller abgelöst. Diese quantitative Potenzierung und damit verbundene qualitative Pluralisierung der »Notwendigkeiten« hat zu ihrer Entwertung geführt und sie als bloß subjektive Konstrukte von Notwendigkeits-Behauptungen erkennbar gemacht. Wegen ihres Verlustes an Geltung und Glaubwürdigheit sind sie als künstlerisches Produktionsprinzip zunehmend unbrauchbar geworden. Dennoch ist in der zeitgenössischen Kunst die Tendenz überaus verbreitet, die künstlerischen Entscheidungen weiterhin normativ abzusichern, indem die obsolet gewordenen kunstimmanenten nun durch neue äußere Notwendigkeiten zu ersetzen gesucht werden. Der symbolische Bezug auf alle möglichen Nöte der Welt trägt indes kaum etwas dazu bei, diese Probleme zu lindern. Es wird nur verhindert, daß die Kunst sich ihrer eigenen und eigentlichen, für die Fortsetzbarkeit von Kultur generell entscheidenden Frage stellt: Können künstlerische Entscheidungen unter der Voraussetzung der Einsicht in den definitiven Verlust der Notwendigkeiten getroffen werden, ohne sie der bloßen Beliebigkeit zu überlassen?

Wie eine solche Kunst aussehen konnte, die jenseits von unhaltbarer Normativität oder gleichgültiger Indifferenz operiert und ebensowenig einem beschränkten Dogmatismus wie einem haltlosen Nihilismus unterliegt, dafür gibt es in der Gegenwartskunst nur einige Anhaltspunkte. An manchen der zuletzt entstandenen Arbeiten von solchen Künstlern wie etwa Ross Bleckner, Imi Knoebel, Sigmar Polke, Gerhard Richter oder auch Peter Halley, der sich ausdrücklich auf Walther bezieht, ist es interessant zu beobachten, daß sie ihre Bildentscheidungen offenbar weder normativ noch beliebig getroffen haben: Die je gewählten, aus einem Repertoire weniger Grundformen, -farben und/oder -verfahren geschaffenen Bildzustände bedeuten zunächst nichts weiter, als daß sie immer auch anders möglich wären, ohne dabei aber in sich einer ästhetischen Bestimmtheit zu ermangeln. Der Schritt zur Verabschiedung jedweder programmatischer Notwendigkeitsideen ist auch für alle nach 1987 entstandenen Arbeitskomplexe Walthers typisch, zu denen etwa auch »Die Verlangsamung der Bilder« und das »Neue Alphabet« gehört.

Unter ihnen allen kommt indes den »Configurations« eine Sonderstellung zu. Die strukturelle Offenheit dieser Arbeiten geht soweit, daß die Veränderbarkeit ein- und der selben Werkgestalt nicht nur optisch suggeriert wird, sondern auch faktisch möglich ist. Sowohl vom Künstler als potentiell auch vom Publikum kann über andere, aus den gleichen Elementen gebaute Konfigurationen entschieden werden. Je nach Handhabungsweise und Anordnung wird sich dabei die Werkgestalt einmal mehr wie ein Bild, oder eine Skulptur, oder aber wie ein Handlungsobjekt präsentieren, ohne aber einer dieser Kunstkategorien genau zu entsprechen. Darüber hinaus bleiben selbst die Grenzen zum Dekor oder zum Design fließend. Wenn indes sogar kunstbezogene Begriffe und erst recht rationale Zwecke, moralische Werte, sinnliche Bedürfnisse oder andere Notwendigkeiten, von denen die Möglichkeiten des Erlebens und Handelns üblicherweise begrenzt werden, in den Arbeiten auf keine eindeutige Resonanz stoßen, dann eröffnet sich durch sie ein nicht weiter vordefiniertes Feld freier Wahlmöglichkeiten.

In Ermangelung anderer Bestimmungsmomente sieht sich sowohl der Künstler, wie jeder andere Beteiligte auch bei seinen Entscheidungen für bestimmte Konfigurationen auf eine »Mischung aus Gestaltvorstellungen, Geschmack und Laune« (29) verwiesen. Jenseits der Indifferenz können allein solche Auswahl- und Entscheidungsgesichtspunkte generiert werden, die auf individuellen Vorlieben basieren und im weitesten Sinn ästhetischer Natur sind. Je bewußter dieser ästhetische Charakter entwickelt und reflektiert wird, wozu sich die Kunst mit ihrem Fundus an Formen, Begriffen und Erfahrungen als Medium bisher am besten eignet, umso eher kann eine Kultivierung der eigenen Präferenzen glücken. Nur der Ernst, die Lust und vor allem die Beteiligung an diesem Spiel können uns vor einer neuen Diktatur der Normativität und der alten Barbarei der Beliebigkeit bewahren. Jedes aus diesem Geist geschaffene Werk ist insofern ein Hoffnungsträger.

(1) Nach J. Hahl-Koch: W. Kandinsky. Die erste sowjetische Retrospektive. Kunstchronik 8 / 1989. S. 419

(2) Götz Adriani: Franz Erhard Walther. Werkmonographie. Köln 1972. S. 5

(3) Götz Adriani: a. a. O., S. 8ff und Franz Erhard Walther: Arbeiten 1957-1963. Bonn 1980. S. 47 ff

(4) Gisbert Seng: Erinnerungsbericht. In Franz Erhard Walther a. a. O., S. 8 (s. Anmerk. 3)

(5) Karl Otto Götz: Über Franz Erhard Walther. In Franz Erhard Walther (s. Anmerk. 3)

(6) Michael Lingner / Franz Erhard Walther: Zwischen Kern und Mantel. Franz Erhard Walther und Michael Lingner im Gespräch über Kunst. Klagenfurt 1985. S. 24

(7) Michael Lingner / Franz Erhard Walther a.a.O., S. 35 (s. Anmerk. 6)

(8) Aus: Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt 1977. Nach J.-F. Chovrier, Catherine David: Die Aktualität des Bildes ... In: documentadocuments 2. Kassel 1996

(9) Michael Lingner / Franz Erhard Walther a. a. O., S. 164 (s. Anmerk.6)

(10) Michael Lingner / Franz Erhard Walther a. a. O., S. 145 (s. Anmerk.6). Daß Walthers Arbeit einen wichtigen Entwicklungsschritt zur »Verselbständigung des Werkes gegenüber dem Künstler« darstellt und gerade diese Tendenz für eine transpostmoderne künstlerische Praxis wegweisend sein kann, habe ich gezeigt in meinem Text: Kunst als Projekt der Aufklärung jenseits reiner Vernunft. In Michael Lingner (Hrsg.): das Haus in dem ich wohne. Die Theorie zum Werkentwurf von Franz Erhard Walther. Klagenfurt 1990. Besonders s. S. 38-41

(11) Michael Lingner / Franz Erhard Walther a. a. O., S. 47 (s. Anmerk. 6)

(12) Franz Erhard Walther: Diagramme zum 1. Werksatz. München 1976. S. 26

(13) Franz Erhard Walther a. a. O., S. 25 (s. Anmerk. 12)

(14) Hermann Kern: Zeit, Energie, Prozeß... In Franz Erhard Walther a. a. O. S. 9 (s. Anmerk. 12)

(15) Hans-Georg Gadamer: Zur Einführung. In Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1960. S. 114

(16) Der Autor hat den Begriff »immaterielles WERK« theoretisch eingeführt. Michael Lingner: Funktionen der Diagramme für das WERK. Kunstforum International Bd.15-1976

(17) Zum Begriff »Finalisierung« in der Kunst s. Michael Lingner / R. Walther: Paradoxien künstlerischer Praxis. In: Kunstforum International Bd. 76-1984 und in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Bd. 32-1987

(18) Diese Auffassung vertreten u. a.: Hermann Kern a. a. O., S. 19 (s. Anmerk. 12); G. Böhm: Die Form der Erfahrung. In Franz Erhard Walther: Ort und Richtung angeben. Klagenfurt 1985. S. 19; Carl Vogel in Franz Erhard Walther a. a. O., S. 36 (s. Anmerk. 12)

(19) Zit. nach Ulrich Horstmann: Im Grunde ein entsetzliches Tier. Spiegel 5-1988, S. 178

(20) Gerhard Storck: Vorwort. In Franz Erhard Walther: Werkzeichnungen. Krefeld 1982 o. S.

(21) Franz Erhard Walther: Sockel. München 1982. S. 7

(22) Zur Diagramm-Problematik Michael Lingner: Funktionen der Diagramme für das WERK, a. a. O., S. 19 und Michael Lingner: Das Organon als Schlußstein. Klagenfurt 1983, S. 7/8 »Die Diagramme und erst recht die später durch Überarbeitung entstandenen Werkzeichnungen, die gemäß ihrer Funktion im System des Waltherschen Kunstentwurfs sowie im Sinn seines Versuchs der Verallgemeinerung des Ästhetischen eigentlich >Rezipienten-Zeichnungen< sein müßten, sind jedoch in der Weise, wie Walther sie exemplarisch entwickelt hat, ausgesprochene >Künstler-Zeichnungen< und bieten daher keine Lösung der paradoxen Problematik, daß der Rezipient bereits Künstler sein müßte, damit er es als Autor des mentalen WERKES werden könnte.«

(23) Dietrich Helms: Ortsbestimmung. In Franz Erhard Walther: Werkzeichnungen. Hamburg 1981 o. S.

(24) Es handelt sich um zwei realisierte Arbeiten zur »Kunst im öffentlichen Raum«. Vgl.: POIESIS 4-1984 S. 9ff über das Oldenburger Projekt. Vgl. zum Hamburger Projekt Michael Lingner: Innere Plätze -Sieben Orte für Hamburg von Franz Erhard Walther. In Volker Plagemann (Hrsg.): Kunst im öffentlichen Kaum. Anstöße der 80er Jahre, S. 9/10

(25) Franz Erhard Walther a. a. O., S. 9/10 (Anmerk. 21)

(26) Katalog Franz Erhard Walther. Winterthur 1987. S. 5

(27) Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst. Bern 1952. S. 120: »Die Elemente der Konstruktion des Bildes sind eben jetzt nicht auf diesem Äußern, sondern nur auf seiner inneren Notwendigkeit zu suchen.«

(28) Wassily Kandinsky a.a.O., S. 128f

(29) Franz Erhard Walther: Die Configurations als Werklager. Klagenfurt 1995 S. 85


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