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Michael Lingner

Das Menschenbild im Umbruch

In unserem Kulturkreis hat sich die christliche Lehre von der "Gottebenbildlichkeit" des Menschen ebenso wie das biblische Bilderverbot als überaus folgenreich erwiesen. Jede den Menschen zum Motiv machende bildliche Darstellung war von daher nicht nur mit einer besonderen Bedeutung, sondern auch Problematik beladen. Gemäß der theologischen Auffassung, daß "die gesamte Schöpfung etwas vom göttlichen Sein abbildet" (l), wird nämlich im Bild des Menschen und erst recht im Bild von Christus, "der das Abbild Gottes ist" (2), "die abgebildete Person als im Bild anwesende vorgestellt". (3) Um den Wahrheitsanspruch dieser Interpretation und um ihre machtpolitischen Konsequenzen ist im byzantinischen Reich jahrhundertelang nicht nur mit äußerstem Scharfsinn, sondern auch mit scharfen Waffen gekämpft worden.

Der Konflikt geht zurück auf den gewaltigen Kult, der sich um die Bilder der byzantinischen Kaiser gebildet hatte. Nicht zuletzt um in dem riesigen Reich die Macht überhaupt erhalten zu können, hatten sich die Untertanen den Kaiserbildern gegenüber genauso zu verhalten, als wäre der Herrscher leibhaftig anwesend. Die Tradition der Bilderverehrung blieb indes nicht auf die Kaiserbilder beschränkt, sondern

übertrug sich infolge der herrschenden religiösen Überzeugungen und kirchlichen Interessen in gesteigerter Form bald auf die Heiligenbilder. Zu Zeiten des Kaisers Justinian (527 - 565) erreichte der Glaube an die Lebendigkeit der religiösen Bilder ihren Höhepunkt. Ihnen wurden nicht nur menschliche Eigenschaften, wie etwa sprechen oder bluten zu können, sondern sogar solche übermenschlichen Fähigkeiten wie die des Wunderheilens zugeschrieben. Sie sind deswegen derart verehrt worden, daß sie gewaschen und gesalbt sowie nach Art einer kaiserlichen Parade im herrschaftlichen Wagen, versehen mit Zepter, Weihrauchfässern und Lichtern, feierlich durch das Land geleitet wurden.

Zugleich kommt es zu dem Phänomen, daß verstärkt "nicht von Menschenhand gemachte Bilder" (acheiropoietoi) auftauchen, die als natürlich entstanden gelten. Daß sie aus Erde oder Stein hervorgegangen sein, oder aus dem Meer oder von Bäumen stammen sollen, wird als Bestätigung ihrer göttlichen Herkunft aufgefaßt und verstärkt den Glauben an ihre wundersame Lebendigkeit. Es geht schließlich so weit, daß die Entdeckung eines an den Strand gespülten oder vom Himmel gefallenen Wunderbildes

mit der Geburt Christi nicht nur parallel, sondern gleichgesetzt wird. So kann kein Zweifel mehr aufkommen: Das Bildnis ist Christus. Die Bedeutung der Heiligenbilder wird infolgedessen derart übermächtig, daß sich sowohl die orthodoxen religiösen Auffassungen genauso wie die weltlichen Herrschaftsinteressen dagegen empören und erheben. Der Streit um den Geltungs- und Realitätsanspruch, den Bilder erheben dürfen, steht im Mittelpunkt des byzantinischen Bilderkrieges. (4)

Der historische Rückblick auf die Zeiten, wo an die Möglichkeiten einer übermenschlichen Bildentstehung geglaubt wurde, rückt den Umstand ins Bewußtsein, daß eigentlich alle Bilder, die ein Mensch gemacht hat, Menschenbilder sind. So verstanden wäre dieser Begriff heute recht nichtssagend und überflüssig. Aber natürlich war mit der Rede vom "Menschenbild" auch nie die an sich triviale Tatsache der menschlichen Autorschaft gemeint, die sich freilich inzwischen wieder als überhaupt nicht mehr so selbstverständlich darstellt. Vom Bild des Menschen - im emphatischen Sinn verstanden - ist vielmehr immer ein wahres, ein das Wesen des Menschen in seiner ganzen Tiefe erfassendes und veranschaulichendes Menschenbild erwartet worden. Jede Epoche hatte sich an der künstlerischen Enträtselung der existentiellen Frage abzuarbeiten, ob der Mensch seine beiden Seiten, mögen sie als Natur

und Geist, Emotionalität und Rationalität, Unbewußtes und Bewußtes, Individualität und Sozialität, oder als was auch immer begriffen worden sein, dennoch als Einheit zu leben vermag - aller Zerrissenheit zum Trotz.

Die Ungebrochenheit und äußerlich gewahrte Integrität des Bildes, das dem Menschen von sich zu machen gelang, wurde gleichsam als Bestätigung für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer humanen Ganzheit angesehen. Als die moderne Kunst am Anfang unseres Jahrhunderts nicht nur die Einheit des Menschen im Bild kubistisch dekonstruierte, sondern sogar eine völlig ungegenständliche und unfigurative Entwicklung nahm, hat sie mit dieser Anschauung radikal gebrochen. Insofern ist es nicht erstaunlich, daß die Auflösung und das Verschwinden des Menschenbildes als unmenschlich - auch im moralischen Sinne - qualifiziert worden ist.

Die Aggressionen gegen die moderne Kunst waren umso stärker, als diese nicht nur als Ausdruck, sondern vor allem als entscheidende Ursache für die Enthumanisierung betrachtet wurde. Darüber hinaus ist der "Verlust der Mitte" (S), die Verbannung des Menschen aus den Bildern zugleich als eine extreme Entwertung der Kunst aufgefaßt worden. Denn nur der Mensch und seine Darstellung war eines "Ideals der Schönheit (für) fähig" (6) gehalten worden, so daß die Kunst mit dem Verzicht auf Menschendarstellungen sich auch der Schönheit als ihrer substantiellen Qualität zu berauben schien. Die damit einhergehende "Entkunstung" der Kunst wurde als Folge ihrer Entmenschlichung verurteilt.

Der noch in den 50er Jahren erbittert geführte gleichsam entmilitarisierte Bilderkrieg um die abstrakte, 'menschenleere' Avantgardekunst konnte lange für endgültig entschieden gehalten werden. Bereits Hegels geschichtsphilosophische Argumentation hatte das Menschenbildnis für künstlerisch unglaubwürdig und in seiner historischen Form und Bedeutung zu einem Anachronismus erklärt: Aufgrund der "die Flamme der Subjektivität entfachenden Selbstbewußtwerdung des Geistes ---" wisse dieser doch nun, "daß seine Wahrheit nicht (mehr) darin besteht, sich in die Leiblichkeit zu versenken" (7).

Ein jedes Menschenbildnis unmöglich machendes Bewußtsein ist indes in den letzten Jahrzehnten durch kunstimmanente sowie vor allem durch gesellschaftliche und technische Entwicklungen gründlich verändert worden. Die Thematik des Menschenbildes als Frage nach den momentan noch bestehenden Manifestationsmöglichkeiten des Menschlichen hat eine neue Brisanz gewonnen. Weil etwa infolge der sich ständig erweiternden apparativen Produktion von Bildern der Mensch als Autor zunehmend eliminiert wird, haben wir es heute tatsächlich mit "acheiropoietoi" zu tun. Wegen der wachsenden Möglichkeiten der Simulation erleben wir einen sich verschärfenden Kampf um den Geltungsanspruch von Bildern.

Daß gleichwohl durch die technisch erzeugten fotografischen und elektronischen Bilder der Mensch - wie zur Kompensation und Beruhigung - als sein 'getreues' Abbild aus den Medien nun in die Kunstwelt zurückkehrt, garantiert indes noch keinen Gewinn an Humanität. Machen nicht vielmehr die inszenierten und computergenerierten 'fotorealistischen' Darstellungen den Menschen zum bloß technisch reproduzierbaren Objekt und vernichten seine Individualität? Hat möglicherweise eben die Kunst, die heute den Menschen im Bild wiedergibt, keine Mitte und ist im Sedelmayrschen Sinn "entmenschlicht", weil sie ihn als Naturwesen negiert?

Andererseits sieht sich die Renaissance des Menschenbildnisses ja gerade durch den Versuch gerechtfertigt, auf die digitale und genetische Machbarkeit des Menschen sowie auf seine diversen Selbst-Manipulationen kritisch zu reagieren. Der Verlust der Leiblichkeit und die damit einhergehenden Deformationen des Selbstbewußtseins sowie Degenerationen des Fremdverstehens werden künstlerisch thematisiert und reflektiert. Aber sind diese Defekte noch durch Bilder zu bannen und lassen sich aus neuen Figurationen auch neue humane Identitäten gewinnen? Oder handelt es sich um hilflose, bloß symbolische Beschwörungen, die weder unserer tatsächlichen Bewußtseins- noch Lebenslage gerecht werden?

Mit den gegenwärtig kursierenden Bildern vom Menschen und den sie begleitenden Diskussionen hat trotz gewisser augenscheinlicher Berührungspunkte die Arbeit von Jürgen Bordanowicz genausowenig zu tun wie mit der byzantinischen Bildmagie. Ihrer Intention nach ist sie vielmehr als ein "poetischdramatischer Entwurf des (noch) nicht gewordenen Menschen" zu sehen, "der einer ergänzenden, seine Fähigkeiten verbessernden Entwicklung bedarf." (8) In dieser Perspektive betrachtet wird deutlich, daß es Jürgen Bordanowicz nicht um Erscheinungsbilder des äußeren Menschen geht, sondern um die Untersuchung dessen innerer Formungsprozesse. Im Format der Bilder folgt er oft der zeitlichen Dimensionierung dieser mentalen Prozesse und entfaltet gleichsam phasenweise, wie sich beim menschlichen Erleben, Wahrnehmen und Erkennen die psychischen Triebkräfte und die physischen Wirkkräfte wechselseitig beeinflussen. Dieser Stoffwechselprozeß wird sowohl spekulativ analysiert als auch im Prozeß des Malens und Zeichnens exemplarisch vollzogen und fixiert. Dabei entwickeln sich die Formen aus dem tieferen künstlerischen Verständnis der Organisation dieses Prozesses und entwerfen das Bild eines gelungeneren Geisteslebens, aus dem sich menschlichere Verhältnisse entwickeln können. Die Ästhetik der Malerei wird zur Wünschelrute der Ethik.

(1) Fries. H. (Hg): Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. I München 1962, S. 160

(2) Fries a.a.O., S. 161

(3) Fries a.a.O., S. 162

(4) Bredekamp, H.: Kunst als Medium sozialer Konflikte. Frankfurt/M 1975. Eine ausführliche Darstellung des byzantinischen Bilderkrieges in seinen gesamten Implikationen. (5) Sedelmayr, H.: Verlust der Mitte. Salzburg 1948

(6) Kant, I.: Kritik der Urteilskraft. Hg. K. Vorländer, Hamburg 1974. S.74

(7) Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd.2. Frankfurt 1970. S. 128f

(8) Jürgen Bordanowicz: Manuskript 1996


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