ask23 > Lingner: Freie Kunst und freie Zeit im freien Spiel

Michael Lingner

Freie Kunst und freie Zeit im freien Spiel

Was Freizeit ist, kann auf dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Gesellschaft nicht ohne Berücksichtigung des Verständnisses von Arbeit begriffen werden. Aber auch der Begriff der Arbeit kann genausowenig wie der Begriff der Freizeit absolut genommen und für sich allein in seiner Bedeutung bestimmt werden. Beide Begriffe verhalten sich relational und lassen sich nur aus ihrem wechselseitigen Verhältnis sowie in Beziehung auf das Erleben des Tätigen erklären. Der objektive Aufwand etwa an Mühe, Kraft oder Ausdauer reichen nicht aus, um in den eigenen oder in den Augen anderer eine Tätigkeit eindeutig zuzuordnen. Vielmehr ist dafür der Charakter der Bedingungen ausschlaggebend, unter denen eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird. Als Arbeit wird sie unter Bedingungen der Fremdbestimmung, als Freizeit unter Bedingungen der Selbstbestimmung erlebt.

Konkret wird eine Tätigkeit dann subjektiv zur Arbeit, wenn ihre Ausübung nicht mehr primär durch die Lust an der Tätigkeit selbst, sondern durch die Notwendigkeit zur Erhaltung des Lebens oder durch die Verpflichtung auf einen Rechtsvertrag motiviert ist. Entscheidend für die gesellschaftliche Akzeptanz einer Tätigkeit als Arbeit ist indes, daß über die fremdbestimmte Motivation hinaus auch die Kriterien der Fremdbestimmtheit des Ortes und der Zeit erfüllt sind: Wer arbeitet hat sich an bestimmte Zeiten und Orte zu halten; es müssen Beginn, Dauer und Tempo der Tätigkeit zeitlich synchronisiert und räumlich koordiniert werden.

Wer bei seiner Tätigkeit der Selbstbestimmung entsagt und von momentan empfundenen Bedürfnissen und Gefühlen unabhängig handelnd auf die freie Disposition über Ort und Zeit verzichtet, hat Anspruch auf finanzielle Entschädigung. Für diese - wie Robert Musil es formuliert - "geleistete Regulation der Selbstzucht" fungiert Geld als Symbol und ist nach herrschender Auffassung das einzige untrügliche und allgemeinverbindliche Zeichen, daß tatsächlich Arbeit geleistet worden ist. Die Freizeit bleibt dagegen unbezahlt und zeichnet sich gerade dadurch aus, daß Motivation, Ort, Zeit und Dauer jeder ihr zugehörigen Tätig- oder Untätigkeit frei wählbar sind.

Die Freizeit und das seit etwa 200 Jahren nicht mehr unter höfischen und klerikalen Zwängen stehende autonome Kunstschaffen ähneln sich strukturell darin, daß beide als weitgehend selbstbestimmt erlebt werden und genau diese Qualität konstitutiv für sie ist. Freilich ist ebenso wie die Freizeit auch das künstlerische Schaffen nicht absolut frei, sondern hat seine eigenen, ihm immanenten Zwänge: etwa Sachzwänge, die aus dem Material und seiner Bearbeitung resultieren, oder unterliegt dem Unterbewußten. Diese Fremdbestimmungen gelten indes nicht als solche, so daß das autonome künstlerische Schaffen gesellschaftlich nicht als Arbeit anerkannt, sondern schon immer in einem merkwürdig paradoxen Licht gesehen wird.

Einerseits wird das Kunst-Schaffen generell als ebenso privat wie unbezahlbar und als eine zudem noch suspekte, da nicht der Kompensation 'richtiger' Arbeit dienende Freizeitbeschäftigung angesehen. Andererseits wird über den Wert des geschaffenen Werkes allein von der Öffentlichkeit befunden, die es im positiven Fall als eine jede 'normale' Arbeit weit übersteigende außerordentliche Leistung ebenso zu überbezahlen wie zu überschätzen pflegt. Wegen des inkonsistenten Status autonomer Kunstpraxis ist sie in ihrer existentiellen Basis völlig von privaten oder öffentlichen Alimentierungen abhängig. Die modellhafte Verwirklichung der Möglichkeit weitestgehender Selbstbestimmung hat von der bürgerlichen Gesellschaft eine gewisse Risiko- und Opferbereitschaft sowie von den künstlerisch Schaffenden besondere Geschicklichkeit oder Leidensfähigkeit verlangt.

Das die autonome Kunst tragende, gemeinsame Interesse von Künstlerschaft und Gesellschaft war auf das Ideal einer möglichst freien und somit reinen Kunst gerichtet. Um deretwillen wurden die je unterschiedlich als negativ empfundenen Aspekte künstlerischen Selbstbestimmung von beiden Seiten letztlich in Kauf genommen. In der Weiterentwicklung autonomer Kunst kam es dann dazu, daß sich vor allem zwei Tendenzen ausgebildet haben, welche schließlich die Bedeutung des Künstlers und die seiner eigenen Selbstbestimmung relativiert haben: Vom surrealistischen Automatismus der 20er- bis zur Prozeßkunst der 60er Jahre ist zu beobachten, daß die Entstehung der Werke von den Künstlern und ihren ästhetischen Entscheidungen immer unabhängiger wurden.

Der Versuch, die Werkentstehung möglichst der Eigendynamik der verwendeten Mittel und Materialien selbst zu überlassen und so den zwangsläufigen Begrenztheiten der künstlerischen Selbstbestimmung zu entschwinden, geschah in der Absicht, jener Idealvorstellung einer freien Kunst noch näher zu kommen. Häufig untrennbar damit verbunden, aber noch darüber hinaus geht das bis heute angestrebte Ziel einer be- freienden Kunst. Durch das Medium Kunst soll das bis dahin nur Künstlern und ihrem Handeln vorbehaltene Maß an Selbstbestimmung für jedermann möglich werden. Was in der Beuysschen Maxime: "Jeder Mensch ist ein Künstler" schlagwortartig formuliert worden ist, hat sich auf unterschiedliche Weise darin ausgeprägt, daß Künstler Objekte Schaffen, die nicht mehr den Status von Werken, sondern von Werk-Zeugen haben. Als Instrumente sollen sie den Laien dazu dienlich sein, ihre eigenen Handlungsprozesse selbst zu bestimmen.

In der Kunst der 90er Jahre sind es etwa die "Offene Bibliothek" von Clegg & Guttman oder Maria Nordmans Arbeit "Für die Ankommenden -genannt/nicht genannt", die sich der Selbstbestimmung und -organisation des Publikums verschrieben haben. Jede dieser Arbeiten bietet einen bestimmten Handlungsrahmen an, der nicht speziell der Welt der Kunst, sondern der Lebenwirklichkeit angehört und so zur Beteiligung motiviert. Wenn sich die Beteiligten, die allein als Publikum gemeint sind, auf die verschiedenen in der Arbeit liegenden Handlungsmöglichkeiten einlassen, entsteht für sie die Notwendigkeit, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Dabei macht es die Besonderheit des künstlerisch erfundenen Handlungsrahmens aus, daß bei den darauf bezogenen Entscheidungen sich alle die Beteiligten üblicherweise leitenden Zwecke, Motive, Interessen und Normen als unverbindlich und uneindeutig erweisen. Wenn indes alle sonst geltenden Gesichtspunkte nicht greifen und auch ganz andere sein könnten, so daß sie keine genügende Orientierung für die Wahl der Handlungsweise geben, wird es gleichermaßen möglich wie notwendig, dafür ästhetische Entscheidungskriterien auszubilden.

Durch den Fortfall der finanziellen, konventionellen, rationellen, ... Beschränkungen, die sonst das Verhalten und Handeln regulieren, können die eigenen, auf ästhetischen Unterscheidungen beruhenden Vorlieben offenbar und handlungsbestimmend werden. Jeder Beteiligte vermag ästhetisch und damit derart weitgehend selbstbestimmt zu handeln, wie es bisher allein Künstlern für ihr Schaffen vorbehalten war. Daß sie in der Kunst nicht mehr nur ihr Vermögen zur Selbstbestimmung gleichsam beispielhaft und stellvertretend zum Ausdruck bringen, sondern durch die von ihnen geschaffenen Instrumente den Laien autorisieren, sein eigenes Handeln zu ästhetisieren und somit tatsächlich selbst zu bestimmen, eröffnet für das Verhältnis von Freizeit und Kunst eine neue Perspektive. Denn diesem ästhetischen Handeln liegt etwas zugrunde, das sich im Schillerschen Sinn als Spieltrieb charakterisieren läßt. Durch dessen Aktivierung kann sich die alte Gegensätzlichkeit von Produzent und Rezipient sowie von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung aufheben: Der den Rezipienten regierende "sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der (den Künstler auszeichnende) Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen; der Spieltrieb (ist dagegen) bestrebt ..., so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet."

Insofern der Spieltrieb im ästhetischen, nach eigenem Belieben gestalteten Handeln seine Erfüllung findet, bietet die Kunst ihm den notwendigen Raum; seine Zeit ist die von Fremdbestimmungen freie Zeit. Der Augenblick von Kunst kommt, wann immer die Freizeit zur Spielzeit wird. Dies mag freilich demjenigen bereits wie Arbeit vorkommen, der Selbstbestimmung als völlige Freiheit von Bedingungen statt als freie Setzung begreift.


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