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Michael Lingner

Erfahrungsformen von Natur

Die neue Folge von «Kunst Aktuell»

Nach den drei bisherigen Reihen: «Strategien ästhetischen Handelns» (K+ U 152-160), «Konturen des Menschenbildes» (K+U 161-174) und «Konzepte künstlerischer Schriftlichkeit» (K+U 175-189) beginnt «Kunst Aktuell» passend zum Frühlingsbeginn, sich mit dem Verhältnis von Kunst und Natur auseinanderzusetzen. Während die künftigen Beiträge das gegenwärtige künstlerische Naturverständnis problematisieren, versucht die folgende Einführungen an einige dafür bedeutsame historische Zusammenhänge zu erinnern. Daß dabei der Mimesis-Begriff eine zentrale Rolle spielt, erlaubt, den Text zugleich als Beitrag zum Thema dieses Heftes «Vormachen - Nachmachen» zu lesen.

Als typisch für das Verhältnis des modernen Künstlers zur Natur kann die -zunächst überraschende - Auffassung von Oscar Wilde gelten, daß die Kunst die Natur verändert. Daß der Kunst dieses Vermögen zugedacht wird, beruht nicht etwa auf einem sich am antiken Begriff von Kunst orientierenden Verständnis, wonach diese als «techne» das gesamte «ins Reale wirkende Können des Menschen» umfaßt (Blumenberg 1981, S. 55) und insofern auch vor der Natur nicht halt macht. Ganz im Gegenteil kommt erst der sich etwa seit 1800 entwickelnden autonomen, eigentlich eher selbstbezogenen Kunst die außerordentliche Wirkmacht zu, wie sie von Wilde (1929, S. 233 ff.) behauptet wird: «Denn was ist die Natur? Die Natur ist keineswegs die große Mutter, die uns gebar. Sie ist unsere Schöpfung. In unserem Geist wird sie beseelt und lebendig ... Was und wie wir sehn, hängt von den Künstlern ab, die uns beeinflußt haben ... Es hat vielleicht schon seit Jahrhunderten in London Nebel gegeben. Aber niemand hat den Blick dafür gehabt ... Jetzt sehen die Leute die Nebel, ... weil wir erst durch die Dichter und Maler für die geheimnisvolle Anmut dieser Eindrücke den Blick gewonnen haben.»

Daß Wilde die schöpferische Rolle der Kunst überpointiert und die eine Figur seines fiktiven Dialoges sich dahin versteigen läßt, es habe «keine Nebel gegeben, bis die Kunst sie erfand» (Wilde 1929, S. 233 ff.), ist nur als Provokation gegen die die Kunst über Jahrhunderte beherrschende Idee erklärlich, nichts anderes könne und solle die Kunst, als Natur nachzuahmen. Die Entstehung dieses Paradigmas läßt sich zurückverfolgen bis zu Platon, für den die Kunst nur ein nutzloser «Nachbildner von Schattenbildern» war. Solche extreme Abwertung teilt freilich schon Aristoteles nicht mehr. Nach seinem Mimesis-Begriff sind auch freiere Darstellungen und Deutungen möglich, in denen die Kunst sogar Wesenhaftes der Natur soll zur Erscheinung bringen können. Aber letztlich wird Kunst weiter als darauf beschränkt gedacht, die Naturgegebenheiten «einerseits zu vollenden, andererseits nachzuahmen» (zit. nach Blumenberg, 1981, S. 53). Dabei hat sich selbst die «Vollendung» völlig der «Vorzeichnung der Natur» zu fügen und wird in so weitgehender Weise als deren bloße Vollstreckung angesehen, daß nach Aristoteles derjenige, der ein Haus baut, nur genau das tut, «was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen wachsen ließe» (nach Blumenberg 1981, S. 53 f.).

Auch im Christentum hat sie die Natur als absoluter Maßstab der menschlichen Künste durchgehalten und ist in dieser Bedeutung eher noch durch die Auffassung verstärkt worden, daß sich in ihr der Wille des Schöpfergottes manifestiere. Die Natur kann Anspruch auf Verbindlichkeit und Vollständigkeit erheben, da die Überzeugung herrscht, daß «Gott eben das Nichtgewollte nicht geschaffen habe und daß er das Nichtgeschaffene nicht wolle» (nach Blumenberg 1981, S. 77). Erst infolge der zunächst philosophisch und mit der Französischen Revolution dann auch politisch sich durchsetzenden Aufklärung und den damit einhergehenden, wechselseitig sich verstärkenden Tendenzen von Verwissenschaftlichung und Säkularisierung kann sich das Verhältnis von Kunst und Natur grundlegend wandeln. Durch die Erweiterung der Naturerkenntnis und -beherrschung sowie durch die Erschütterung des Glaubens an die ewige göttliche Naturordnung geht im sich beschleunigenden Zivilisationsprozess das Bewußtsein unumstößlicher Normativität und unmittelbarer Erfahrbarkeit der Natur zunehmend verloren. Es entsteht daraus einerseits ein nicht naturdeterminierter Spielraum des Möglichen und andererseits ein Defizit an ursprünglicher Natürlichkeit, wodurch das «Künstliche» seine Chance bekommt.

Eine «zweite Natur»

Die Urformel von der «Nachahmung der Natur» ist allerdings geistesgeschichtlich so tief verwurzelt, daß auch das Künstliche noch gleichsam unter dem Siegel der Natürlichkeit eingeführt wird. Die romantische Malerei, wie sie etwa um 1800 beispielhaft von C. D. Friedrich und P. O. Runge entwickelt wird, bleibt der Tradition zwar insofern treu, als sie in ihrem Autonomiestreben gegenüber den früheren höfischen und religiösen Verwendungszusammenhängen die Natur als «schöne Landschaft» zu ihrem Gegenstand erhebt. Andererseits ist die Landschaft im romantischen Sinn aber gerade kein Werk der Natur mehr, sondern ein «Kunstwerk des Geistes» (Rehder 1929, S. 144), was Runges Überlegungen verdeutlichen: «Wie selbst die Philosophen dahin kommen, daß man alles nur aus sich heraus imaginiert, so sehen wir oder sollen wir sehen in jeder Blume den lebendigen Geist, den der Mensch hineinlegt, und dadurch wird die Landschaft entstehen ...» (Runge 1965, Bd. I, S. 16). Es ist die Einbildungskraft, die «sehr mächtig (ist) in Schaffung ... einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt» (Kant 1924, S. 168), durch welche die Landschaft gleichsam als eine «zweite Natur, ... eine gedachte, eine menschlich vollendete» (Goethe, o. J., S. 210) allererst erfunden wird.

Sei es mit der romantischen Erfindung der Landschaft, die in der Einrichtung von Baumschulen eine erste Krönung erfährt, sei es durch die Erfindung des «Kindes», dem fortan das gleiche Schicksal institutionalisierter Schulung widerfährt, in beiden Fällen handelt es sich um Versuche, die «entschwindende Natürlichkeit der Welt zu retten» und «Wege zurück ins verlorene Paradies der Unmittelbarkeit» (Rath 1983, S. 95) zu finden. Durch Kultivierung mittels Vergeistigung soll eine Sphäre potenzierter Natur, gleichsam ein Reservat geschaffen werden, dessen höchste Ausprägung das autonome Kunstwerk ist. Dieses unterliegt allerdings dem Anspruch, den die Kunst der Moderne mit unterschiedlichen Strategien bis heute verfolgt (vgl. Lingner K+U 152, S. 13), daß es «von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen (muß), als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei» (Kant 1924, S. 159). Daß man sich angesichts des Kunstwerkes andererseits «bewußt werden (soll), es sei Kunst und nicht Natur» (Kant 1924, S. 159), zeigt ein komplexes Wechselspiel, in dem die Naturgebundenheit ebenso aufrechterhalten wie die Geistesfreiheit gewonnen werden soll.

Ästhetisierung der Natur

Die Natur hat sich bis heute vom absolut normativen Ideal der Kunst immer mehr zu derem kontingenten Material entwickelt, das nicht nur der künstlerischen Produktion, sondern auch der ästhetischen Rezeption frei verfügbar ist. Indem Kant die von Sinnen-, Erkenntnis- und Moralurteilen unabhängig gemachte ästhetische Betrachtung als eine ganz eigene Weise des Weltzugangs ausweist, entpflichtet er das Ästhetische von der Auseinandersetzung mit dem existentiell unmittelbar Notwendigen und entnaturalisiert es. Ästhetische Rezeption wird zu einem hochspezialisierten, von der normalen Lebensbewältigung abgekoppelten künstlichen Prozess, dessen geistige Kraft sich sogar angesichts der drohenden Überwältigung durch mächtige Naturphänomene noch zu entfalten vermag. Wenn trotz der völlig unfaßbaren Größe und Gewalt der «düsteren tobenden See» der Mensch bei deren Anschauung die «Idee der Unendlichkeit» aufbietet und sich damit - leise schaudernd - ein übersinnliches Vermögen beweist, so macht «das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar» (Kant 1924, S. 23-29). «Erhaben» nennt Kant denn auch nicht die Dinge der Natur, sondern die Denkungsart des Menschen.

Die mit dem Gefühl der Überlegenheit einhergehende extreme Ästhetisierung der Natur, wie sie sich im Begriff der Erhabenheit manifestiert, hat einerseits zur immer weitergehenden Erforschung und Unterwerfung der Natur beigetragen. Andererseits vollzieht sich die Ästhetisierung der ersten Natur durch eine künstlerisch geschaffene zweite ja gerade nicht als existentiell motivierte, zweckrationale und instrumenteile Beherrschung und Verwertung von Natur. «Statt Natur als Gegenstand möglicher technischer Verfügung» zu betrachten, könnten wir ihr im ästhetischen Umgang vielmehr «als Gegenstand einer möglichen Interaktion begegnen. Statt der ausgebeuteten Natur können wir die brüderliche suchen ... und mit Natur kommunizieren, statt sie unter Abbruch der Kommunikation bloß zu bearbeiten» (Habermas 1970, S. 57). Es mag diese hoffnungsvolle Perspektive sein, in welcher die Erhabenheit als Ausdruck für die höchste Form einer Ästhetisierung der Natur gegenwärtig gerne diskutiert wird. Um die Kunst eines derart neuen Naturverhältnisses auszubilden, bedarf es freilich keiner nostalgieverdächtigen «Naturästhetik» (vgl. G. Böhme), sondern eines natürlicheren Verständnisses der Kultur in dem Sinne, daß wir Begriffe wie etwa Selbstorganisation und Evolution auf kulturelle Prozesse umzudenken und daraus Konsequenzen zu ziehen lernen.

Literatur:

Blumenberg, Hans : «Nachahmung der Natur». Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981.

Goethe, J. W. : Sämtliche Werke Bd. 13. Hg. E. Beutler. Zürich/München o. J.

Habermas, Jürgen : Technik und Wissenschaft als «Ideologie». Frankfurt 1970.

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. Karl Vorländer. Hamburg 1924.

Rath, Norbert: Kunst als «zweite Natur». In: Kolloquium Kunst und Philosophie 3, Das Kunstwerk Hg.Willi Oelmüller. Paderborn 1983. Rehder, H. : Die Philosophie der unendlichen Landschaft. Diss. phil. Heidelberg 1929.

Runge, Philip Otto : Hinterlassene Schriften Bd. I + II. Göttingen 1965. Wilde, Oscar: Der Verfall der Lüge. In: O. W. Werke. Berlin 1929.


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