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Michael Lingner

Die Kunst der Selbstorganisation

Zur Malerei von Josef Schwaiger

Kunst ist auf ihrem heute erreichten konzeptionellen Entwicklungsstand nur ernsthaft diskutierbar, wenn die Werke als Ausformungen einer spezifisch künstlerischen Problemstellung betrachtet werden: Das Kunsthafte an der Kunst konstituiert sich über ihre Selbstbezüglichkeit. Daraus folgt jedoch keineswegs die völlige Hermetik der Kunst. Ganz im Gegenteil kann "ohne ein Verhältnis zu sich selbst ... nichts ein Verhältnis zu etwas anderem gewinnen." (1)

Für die moderne Kunstentwicklung ist die gegenüber der künstlerischen Praxis zunehmende Verselbständigung des Werkes von ebenso entscheidender Bedeutung wie dessen damit einhergehende größere Abhängigkeit von der Rezeption und ihren Bedingungen. Eine interessante, hier nur zu skizzierende Hypothese über die künstlerische Position Josef Schwaigers läßt sich aus dem Bezug seiner Arbeiten auf diesen für die Kunst der Moderne so wesentlichen Problemaspekt gewinnen. Dazu bedarf es vorab eines summarischen Rückblicks auf die Geschichte dieser künstlerischen Kernproblematik.

Die Entwicklung moderner Kunst läßt sich besonders aufschlußreich und in Übereinstimmung mit den Intentionen der Künstler als ein Prozeß zunehmender Autonomisierung auffassen. Dabei werden um der Eigengesetzlichkeit des Werkes willen alle außerkünstlerischen, allgemein gesellschaftlichen Einflüsse auf die kunstpraktischen Entscheidungen immer differenzierter reflektiert und vor allem weitestgehend reduziert. In den Strategien dieser Autonomisierung läßt sich trotz aller Unterschiedlichkeit auch eine durchgängige Tendenz ausmachen: Zunächst latent, doch schon bald evident und bewußt wird die Autonomisierung so weit getrieben, daß die Entstehung des Werkes schließlich selbst vom Künstler unabhängig wird.

Es gibt eine Fülle expliziter Überlegungen von Künstlern der Moderne, in denen sie ihren Anspruch relativieren oder sogar negieren, alleinige und eigentliche Schöpfer des Werkes zu sein. Was gemeint war, wenn etwa vom "Eigenleben der Farbe", von "Funktionalität" oder "Materialgerechtigkeit" die Rede war, hat Kandinsky auf den Punkt gebracht: "Nicht der Künstler, sondern sein Instrument und sein Material sollen das Bild bestimmen". (2) - Noch entscheidender ist der Verzicht auf die Formung des Werkes, wenn Duchamp mit seinen "ready mades" die Organisation bzw. Breton die Stimulation des Zufalls durch den "reinen psychischen Automatismus" zu künstlerischen Produktionsprinzipien erheben. Diese surrealistische, ursprünglich in der Literatur entwickelte Methode hat erst in den informellen Bildern der fünfziger Jahre einen adäquaten malerischen Ausdruck gefunden. Er verdankt sich einer programmatischen Präferenz für das Ungeformte und zielt auf die Vermeidung jeglicher künstlerischer Gestaltung.

Während sich das Informel zur Erreichung dieser Absicht dem Unbewußten überließ, entdeckte die Kunst der sechziger Jahre die Möglichkeit, künstlerische Gestaltungsentscheidungen der Natürlichkeit von Materialprozessen zu überlassen. Auf dieses seinerzeit vor allem zu skulpturalen Ausformungen führende Prinzip der Preisgabe künstlerischer Kompetenz wird neuerdings im Bereich der Malerei gern zurückgegriffen: Ein prominentes Beispiel dafür ist Sigmar Polke, der für die Bilder seiner 1986 in Venedig geschaffenenen Biennale-Installation "Athanor" neben mehr oder minder herkömmlichen malerischen Mitteln auch diverse chemische Stoffe verwendet. (3) Anstelle des Künstlers bestimmen nun deren unvorhersehbare natürliche Reaktionen die Entstehung des Bildes: "Was die Farben als Protagonisten auf der Leinwand fabrizieren, entzieht sich der Kontrolle des Künstlers" (4), so daß das Bild letztlich Ergebnis eines eigendynamischen alchemistischen Prozesses ist: Minderes Material verwandelt sich in kostbare Kunst, die auf überkommene Weise wieder metaphorisch, als "Sinnbild für die Möglichkeit der Verwandlung" (5), gedeutet wird.

Zu Polkes Installation in Venedig gehört auch eine Wandmalerei, die sich infolge der hygroskopischen Eigenschaften des verwendeten Kobaltchlorids unter dem Einfluß der Luftfeuchtigkeit farblich verändert. Daß natürliche Prozesse nicht nur für die entstehenden, sondern auch für die fertigen Bilder bestimmend sind, ist indes im Prinzip - wenn auch zuvor niemals technisch raffinierter ins Werk gesetzt, keine Erfindung Polkes. Zwar ist seinem Wandbild eigen, daß es etwa im Rhythmus der klimatisch unterschiedlichen Tageszeiten tatsächlich ein anderes Aussehen annehmen kann. Aber daß die Bilder in Abhängigkeit von äußeren Umständen überhaupt ihre Erscheinung wechseln, ist auch schon für die monochrome Malerei eines Yves Klein programmatisch. Ob infolge wetterbedingter Änderungen der Lichtfarbe allein der Eindruck, oder auch das Bild selbst aufgrund chemischer Reaktionen sich wandelt und eine quasi kinetische Variante monochromer Malerei darstellt, in jedem Fall ist es natürlichen Prozessen unterworfen, die unabhängig von den gestalterischen Entscheidungen des Künstlers sind.

Alle derartigen Veränderungen vollziehen sich hier in ebenso großer Unabhängigkeit vom Betrachter, ganz ohne seine Beteiligung. Dieser bisherige Entwicklungsstand in der Malerei wird von Josef Schwaiger mit bestimmten Arbeiten übertroffen, auch wenn sie rein stilistisch, d. h. mit einem Vorurteil betrachtet, sich von anderen informell / monochrom inspirierten Bildern zunächst kaum zu unterscheiden scheinen. Doch indem bei ihnen die Rezeption ins künstlerische Kalkül einbezogen wird, potenzieren sich die zuvor objektiv begrenzten künstlerunabhängigen Differenzierungen ihrer Erscheinung ins potentiell Unendliche. So stehen die Arbeiten konzeptionell gesehen in einer Tradition, die bis in die Frühphase autonomer Kunst zurückreicht. Schon durch die gewollte Vieldeutigkeit des Sinns, wie etwa bei Philipp Otto Runges romantischem Meisterwerk der "Vier Tageszeiten", oder durch die den Aquarellen Cezannes eigenen Unbestimmtheits- und Leerstellen erlangen die Werke einen Grad an semantischer und syntaktischer Offenheit, daß es letzteigentlich der Betrachter ist, welcher sie schafft.

Die Rezeption ist bei den Bildern von Josef Schwaiger ein derart gravierender Faktor, daß diese nicht mehr nur vom Künstler, sondern tendenziell sogar von sich selbst, von ihrem materialfixierten Zustand unabhängig werden. Insbesondere durch die Malweise und die dabei verwendeten metallischen, lichtreflektierenden Farben entsteht der Eindruck, als ob die Bilder sich und ihre Wahrnehmung ständig neu organisieren. Darum zeigt sich nicht nur jeweils ein Bild, sondern das einzelne Bild verschwindet unmerklich im kontinuierlichen Übergang zu anderen möglichen Bildern. Dabei erfährt der andauernde Bildwechsel, an dem jede fotographische Reproduktion scheitert, bereits durch minimale Veränderungen der Rezeptionsbedingungen eine rapide Beschleunigung.

Die Bilder von Josef Schwaiger befinden sich in einem derart unendlichen Prozeß ihrer Selbst-Organisation, weil sie auf feste Formen zugunsten ihres medialen Charakters verzichten. Während "wir bei allem, was wir sehen, nicht sehen, was es uns ermöglicht, etwas zu sehen" (6), offenbart sich uns in Schwaigers Bildern die Voraussetzung jeglicher Wahrnehmung: Es ist "das Licht, das es uns (überhaupt)ermöglicht zu sehen" (7). In seinen besten Bildern werden wir dieses Mediums gewahr, das uns normalerweise hinter den Dingen verborgen bleibt, obwohl sie darin als solche erst wahrnehmbar werden. Aufgrund ihrer medialen und systematischen Verfassung sind Schwaigers Bilder wie ein Naturgeschehen beobachtbar, das durch physikalische Parameter völlig determiniert, aber gleichwohl nicht vorhersagbar ist. Es wird eine "malerische Meterologie" (8) betrieben, so daß Natur - im Sinne des Ideals romantischer Landschaftsmalerei - unmittelbar in die Natur des Bildes eingeht: "Obwohl die Natur nicht malt, malt sie doch." (9)

Anmerkungen:

(1) D. Baecker: Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur. In: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990. S. 88.

(2) zit. nach J. Hahl-Koch: W. Kandinsky. Die erste sowjetische Retrospektive. Kunstchronik, Heft 8 / 89. S. 419.

(3) Eine genaue Beschreibung findet sich bei H. Szeemann: Halonen am Firmament der Bilder. Ausstellungskatalog Sigmar Polke. Zürich 1984.

(4) H. Dickel: Über Natur und Kunst in Sigmar Polkes "Athanor". Kritische Berichte 4 - 1991.

(5) H. Dickel, a. a. O.

(6) D. Baecker a. a. O., S. 92.

(7) D. Baecker a. a. O., S. 92.

(8) A. Gugg: Jenseits gesicherten Bodens. In: Ausstellungskatalog Josef Schwaiger. Linz 1991.

(9) Josef Schwaiger im Leporello zur Ausstellung "Kapitel 5", Salzburg 1989.


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