ask23 > Lingner: Ermöglichung des Unwahrscheinlichen. *

Michael Lingner

Ermöglichung des Unwahrscheinlichen. *

Von der Idee zur Praxis ästhetischen Handelns bei Clegg & Guttmanns Offener Bibliothek

Es gehört zu den Vorzügen der "Offenen Bibliothek" von Clegg & Guttmann, daß sich das Publikum daran unvorbelastet von irgendeinem Kunstanspruch beteiligen kann. Die Motivation zur Teilnahme muß nicht auf einem besonderen "Kunstwollen" gründen, sondern das verbreitet vorkommende Bedürfnis nach einem nicht mit Kaufzwängen einhergehenden Besitz von Büchern ist durchaus hinreichend. Dieser kunstlose Zugang ist möglich, da den von Clegg & Guttmann geschaffenen Objekten keine eindeutig kunstspezifischen Attribute zukommen: Weder sind solche von den Künstlern intendiert noch vom Publikum erkennbar, sondern im Vordergrund steht zunächst der außerästhetische Gebrauchswert als Bibliothek, der die Einstellungen zu der Arbeit bestimmt.

Insofern das Projekt von Clegg & Guttmann nicht nur avantgardistische Kunst-, sondern auch allgemeine Bildungsinteressen anspricht und sich darüber hinaus auch mit einer Vielzahl anderer Ambitionen verbinden läßt, ist an ihm seine systematische Doppel- bzw. Mehrfachcodierung hervorgehoben worden. Daß es sich nicht rein als Kunst darbietet, sondern "gleichzeitig verschiedene Geschmackskulturen bedient" (1) und dabei als eine Art Sondersoziotop gleichsam mikroskopisch beobachtbar ist, hat besonders soziologische Forschungsinteressen geweckt. Bereits bei der ersten Realisierung des Projektes, die der Grazer Kunstverein 1991 organisierte, wurde von Studierenden eine sozialwissenschaftliche Betreuung durchgeführt und in einem Praktikumsbericht dokumentiert. Anläßlich der "Offenen Bibliothek" in Hamburg ist darüber hinaus mit den Methoden empirischer Sozialforschung eine umfangreiche Studie erarbeitet worden.

Wegen ihrer ausgeprägten Affinität zu dem Projekt und dem unbewältigten Positivismusstreit in der Soziologie kann es gerade bei dieser Wissenschaft zum Problem werden, wenn sie spezifische Wertaspekte ihres Untersuchungsgegenstandes ausklammert und sich als externen, "objektiven Beobachter" verkennt.

Der empirischen Sozialforschung droht dann die Gefahr, ihre eigene Involvierung zu übersehen und die Auswirkungen davon, wie sie mit ihren standardisierten und normierenden Fragestellungen in die sozialen Prozesse selbst eingreift, deren Untersuchung sie gerade vornimmt. Die Bedenken, daß solche wissenschaftlichen Einflüsse "eine Gefährdung der künstlerischen Aspekte des Projekts" (2) bedeuten können, wie sie von einem nicht unerheblichen Teil der Befragten geäußert wurden, sind insofern nicht unbegründet.

Bei einem Projekt wie dem von Clegg & Guttmann läßt sich weder voraussetzen, daß es als Sozialsystem, noch erst recht nicht, daß es als Kunst eine fixe Größe ist, von der einfach als gegeben auszugehen wäre. In postontologischen, auf Mehrfachcodierung ausgelegten Kunstkonzeptionen, gibt es keine Werke noch ihnen kraft künstlerischer Formung verliehene materielle Eigenschaften, an denen sich die ästhetische Qualität als ein Faktum objektivieren ließe und aufgrund dessen sich etwas von selbst als Kunst verstünde. Auszugehen ist vielmehr von der "Selbstverständlichkeit [...], daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist." (3) Wenn Kunst morphologisch nicht länger als solche noch kenntlich ist, läßt sich jedenfalls die Kunstfrage nicht mehr ausblenden. Die Soziologie und alle anderen damit befaßten Wissenschaften kommen dann nicht umhin, entsprechende Unterscheidungen bei bestimmten Phänomenen von sich aus zu treffen und somit faktisch "künstlernahe oder künstleranaloge Aufgaben" (4) zu übernehmen.

Vor der Zurechnungsproblematik, wie sie sich aus der Entmaterialisierung des Ästhetischen ergibt, stehen die auf Kunst spezialisierten Ausstellungsinstitutionen gleichermaßen, so daß es keinen Grund gibt, sich auf deren Unterscheidungsvermögen zu verlassen. Wird Kunst, statt als spezifische Daseinsform der Materie, als ein spezifischer Selektionsmodus des Geistes aufgefaßt, obliegt es also den kunstbezogenen Wissenschaften selbst, die ästhetische Differenz sprachlich zu konstituieren und - etwa im Fall der Soziologie - eine Unterscheidung zwischen ästhetischem und anderem sozialen Handeln einzuführen. Was bereits für die Phänomene der "conceptual art" galt, daß sie "ohne [...] Diskussion [...] rein und einfach 'Erfahrung'" sind und "nur zur 'Kunst' [werden], wenn man sie in den Bereich eines Kunstzusammenhanges bringt," (5) trifft für Clegg & Guttmanns "Offene Bibliothek" allemal zu. Eine derartige Diskussion zu fundieren und mit der Absicht der Konstruktion einer ästhetischen Differenz zu führen, macht den Kern der Kunsttheorie aus. Ihr stellen sich im Sinne dieses künstlerischen Selbstverständnisses vordringlich folgende, hier nur ansatzweise zu bearbeitende Aufgaben: l. die historische Unterscheidung zwischen Clegg & Guttmanns Kunstkonzeption und deren kunstgeschichtlichem Kontext; 2. die philosophische Unterscheidung zwischen Handlungsmöglichkeiten bei der "Offenen Bibliothek" und anderen Modi des Handelns.

Ob dabei hinreichend künstlerisch relevante bzw. ästhetisch konstitutive Unterscheidungen herauskommen, sollte nicht nur unter theoretischen, sondern auch nach pragmatischen Gesichtspunkten beurteilt werden: Ob sich dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß es den an der Arbeit praktisch Partizipierenden überhaupt gelingt, derartige Unterscheidungen zu realisieren.

Denn der eigentliche Sinn der Formulierung ästhetischer Differenzen wird nicht darin gesehen, hierarchisierende Wertzuschreibungen vorzunehmen oder wissenschaftliches Methodenbewußtsein zu demonstrieren. Vielmehr kommt es auf das Handeln des Publikums an: daß es durch eine Erweiterung um die künstlerische Dimension zusätzliche Perspektiven und tatsächlich ästhetische Qualitäten gewinnen kann. Davon hängt nach dem Ende des ontologischen Werkbegriffs die Fortsetzbarkeit der Kunst ab.

I. Besonders aufschlußreich und mit den Intentionen der Künstler übereinstimmend ist es, die Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst als einen Prozeß ihrer zunehmenden Autonomisierung aufzufassen. Entscheidende Voraussetzung für die Befreiung der Kunst aus ihren feudalen und religiösen Fesseln war die Französische Revolution, die mit der angestammten weltlichen und geistigen Vorherrschaft von Adel und Klerus endgültig brach. Die bald mit den bürgerlichen Verfassungen auch rechtlich verbürgte Freiheit der Kunst bedeutete für diese allerdings auch den Verlust ihres früheren ökonomischen und ideologischen Bezugsrahmens und hat ihr jede außerästhetische Zweckdienlichkeit genommen. Statt etwa auch als Altarbild oder Herrscherportrait kann sie nun nur noch ganz und gar als Kunst existieren und wird ausschließlich aufgrund ihrer spezifisch ästhetischen Qualitäten geschätzt, die sie ganz auf sich gestellt erfinden und als Kunst behaupten muß.

Insofern vollzieht sich mit der Autonomisierung der Kunst die Abkopplung des zum Reich der Freiheit gewordenen ästhetisch Schönen vom existentiell für notwendig Gehaltenen. Die damit einhergehende Ausdifferenzierung und zugleich Vereinzelung des Ästhetischen ist bereits von Kant, bevor sie sich faktisch vollzogen hat, theoretisch begründet worden. In seiner "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" kann er zeigen, daß die in der Kunst zuvor vereinigten Qualitäten des Sinnlich-Angenehmen, des Erkenntnismäßig-Wahren und des Moralisch-Guten sich systematisch vom Ästhetisch-Schönen unterscheiden lassen. Folglich ist mit der Autonomie der Kunst auch eine weitgehende Verselbständigung des Ästhetischen verbunden, das nun zu einer ganz eigenen menschlichen Erfahrungsform wird.

Als ein wesentliches Merkmal des Ästhetischen gilt nach Kant, daß weder für dessen Beurteilung noch Erzeugung eine apriorische, allgemeingültige und positive Regel anzugeben sei. Um dennoch das von Kant noch aus der Anschauung der Natur gewonnene Ästhetische gleichsam künstlich hervorbringen zu können, blieb für die Künstler deshalb nur die Möglichkeit der Negativ-Strategie, nämlich alles sensuell Reizende ebenso wie das rational zu Erkennende und das sittlich Gebotene möglichst zu vermeiden, wie es durch die Nobilitierung des Häßlichen bereits F. Schlegel in der Romantik gelang. Es war unumgänglich, daß die zur Schaffung des Ästhetischen notwendigen künstlerischen Entscheidungen gegen die Konventionen verstießen und sich über die gesellschaftlichen Ansprüche, Interessen und Erwartungen an Kunst hinwegsetzten. Insofern fordert die Autonomie der Kunst geradezu die Selbstbestimmung des Künstlers heraus, die sich in ihrem Kern als ein riskantes, vor allem aber höchst unwahrscheinliches Verhalten formal beschreiben läßt.

In der modernen Kunst sind ganz unterschiedliche Strategien der Autonomisierung, d.h. - nach dem hier vorgeschlagenen Deutungsmodell: der Ermöglichung von bestimmten, durch wechselnde Paradigmen eingeschränkten Unwahrscheinlichkeiten - auszumachen. Eine wegen ihrer Radikalität besonders wichtige, wenn auch paradox erscheinende Vorgehensweise gründet sich auf die zunächst latente, doch schon bald evidente und zunehmend bewußte Absicht, die Autonomisierung so weit zu treiben, daß das Werk schließlich sogar dem Künstler gegenüber tendenziell selbständig wird. Schon in der Frühphase autonomer Kunst werden durch die gewollte Vieldeutigkeit des Sinns (wie etwa bei R O. Runges romantischem Meisterwerk der "Vier Zeiten") sowie durch beabsichtigte Unbestimmtheits- und Leerstellen (wie besonders in den späten Aquarellen Cezannes) die Werke von den subjektiven Bedingungen der Rezeption abhängig. Ihre kalkulierte semantische und syntaktische Offenheit ermöglicht formal höchst überraschende künstlerische Entscheidungen und provoziert die Unvorhersehbarkeit der Rezeptionsprozesse. Das als Werk Wahrgenommene wird nicht mehr ausschließlich durch die Künstler bestimmt. Erst recht weisen spätere explizite Überlegungen von Künstlern auf die Relativierung ihres Anspruches hin, alleinige Schöpfer des Werkes zu sein.

Was gemeint war, wenn etwa im Umkreis des Bauhauses vom "Eigenleben der Farbe", von "Funktionalität" oder "Materialgerechtigkeit" die Rede war hat Kandinsky auf den Punkt gebracht: "Nicht der Künstler, sondern sein Instrument und sein Material sollen das Bild bestimmen." (6)

Noch entschiedener und folgenreicher ist der Verzicht auf die Verantwortung für die faktische Formung des Werkes, wenn Duchamp mit seinen Ready-mades die Organisation, bzw. Breton die surrealistische Stimulation des Zufalls durch den "reinen psychischen Automatismus" (7) zum künstlerischen Produktionsprinzip erheben. Erst sehr viel später hat diese ursprünglich literarische Idee in der informellen Malerei der 50er Jahre (exemplarisch bei Wols und Jackson Pollock) ihren adäquaten bildnerischen Ausdruck gefunden. In jedem Fall offenbart sich durch die Einführung des Zufalls als ästhetisches Paradigma noch deutlichen daß die Künstler ihre exklusive Rolle als ausschließliche Urheber besonderer Unwahrscheinlichkeiten aufgeben. Diese Vorstellung vom genialen Schöpfer wird haltlos, indem sich die künstlerische Praxis mehr und mehr zu einem konzeptionellen Handeln wandelt, das abstrakt einen Plan entwirft, nach dem es wahrscheinlich scheint, daß es zur Konkretisierung bestimmter Unwahrscheinlichkeiten kommt.

Die Tradition, daß Künstler in ästhetischer Absicht etwas Unwahrscheinliches nur konzipieren und initiieren, es aber danach möglichst unabhängig, also autonom von ihren eigenen Entscheidungen entstehen lassen, setzt sich radikalisiert vor allem in der Prozeßkunst der sechziger Jahre fort. Hier erreicht die zuvor skizzierte Entwicklung einen extremen Höhepunkt, der zugleich einen unmittelbar in die Vorgeschichte von Clegg & Guttmanns Projekt gehörenden, entscheidenden Wendepunkt darstellt. Zwar konnten durch die Prozeßkunst zunächst einmal die künstlerischen Möglichkeiten immens erweitert werden, ohne willkürlich und artifiziell ästhetische Unwahrscheinlichkeiten zu erzwingen. Aber die als Prozeßkunst bekannt gewordenen Verfahrensweisen, Materialien wechselseitig aufeinander reagieren zu lassen, so daß sich eigengesetzlich Werkgestalten ausformen, war wegen des zwangsläufig eng begrenzten Veränderungspotentials der dabei verwendeten Mittel recht bald verbraucht.

Aus diesem Zusammenhang entstand - was sich kaum deutlicher als an der Arbeitsbiographie von Walther zeigen läßt (8) - Mitte der Sechziger die Idee, das Publikum nicht länger auf die bloße Betrachtung der Kunstobjekte zu fixieren, sondern es zum Handeln mit ihnen zu autorisieren. Solche von den Künstlern dem Publikum zugedachte Selbsttätigkeit entspricht nicht nur noch weitergehend dem Ideal der Autonomie, sondern ist vor allem auch prinzipiell unerschöpflich, so daß die Handelnden etwa bei Franz E. Walthers "1. Werksatz" sowie in der Happening- und Fluxusbewegung gleichsam als ständige Unwahrscheinlichkeits-Generatoren fungieren können. Dies setzt freilich voraus, daß die Laien, ebenso wie jene die Handlungsobjekte konzipierenden Künstler, auf das Ästhetische zielen und dazu mittels der Vermeidung des Wahrscheinlichen (wie es ihnen Sinnlichkeit, Verstand und Moral jeweils diktieren) tatsächlich unwahrscheinliche Handlungsentscheidungen treffen. Daß sich auf diese Weise die Unwahrscheinlichkeiten von Laien und Künstlern wechselseitig potenzieren ließen, machte das Ästhetische als eine spezifische menschliche Erfahrungsform weiterhin möglich.

Von der emphatischen Übertragung der Autorenschaft des als immateriell gedachten "Werkes" bis zu spielerischen "Mitmach"-Angeboten gab es bis in den Siebzigern vielfältige Versuche der künstlerisch-produktiven Einbeziehung des Publikums. Obwohl diese Anstrengungen dem Zeitgeist und seinen zentralen kulturpolitischen Forderungen nach der Integration von Kunst und Leben sowie nach einer radikalen Demokratisierung weitgehend entsprachen, ließ sich das Publikum in der Kunst nicht zum Handeln bewegen. Rückblickend muß erst recht konstatiert werden, daß "der Graben zwischen Künstler und Publikum [...] unüberbrückbar" (9) blieb. Allenfalls dort kam es zur Beteiligung, wo die künstlerischen Aktionen unmittelbar mit politischen oder therapeutischen Zwecken zu verbinden und etwa als "Demonstration" oder "sensitivity-training" zu (miß)verstehen waren. Doch da die erhofften politischen und persönlichen Veränderungen ausblieben, stellte sich gerade im Kunstbereich, der von besonders hohen Erwartungen beherrscht war, völlige Ernüchterung ein, so daß der in den 80er Jahren erfolgte Rückgriff auf die große Tradition der Malerei nicht als Rückschritt erschien.

Die auf die Selbstbestimmung des Publikums gerichteten künstlerischen Handlungskonzeptionen der 60er Jahre und ihre objekthaften Ausformungen sind bis heute nicht praktiziert, sondern weitgehend bloß als Idee präsentiert und rezipiert worden. Symptomatisch dafür ist die von F. E. Walther inzwischen explizit vorgenommene Überführung der Handlungsobjekte in einen Lagerzustand, der sich - entgegen den ursprünglichen Intentionen - gleichwohl als eigene "Werkform" (10) behaupten läßt, wenn es primär auf die Idee als solche, auf ihr historisches Überleben ankommen soll. Zum "Lager" eigens erklärt oder lediglich auf herkömmliche Weise ausgestellt, sind inzwischen alle derartigen zum Gebrauch bestimmten Objekte zu bloßen Symbolen möglichen Handelns geworden. Dadurch reduzierte sich jene einst epochale Idee auf ein nicht einlösbar scheinendes, utopisches Ideal, das nach außen, für das Publikum, nur noch repräsentiert und nach innen, für die Kunstwelt, bestenfalls konserviert worden ist.

In dieser resignativen Situation gehörten Clegg & Guttmann zu den ersten, die es nach dem Ende des "Hungers nach Bildern" riskiert haben, trotz des vorherigen empirischen Scheiterns jener Idee, erneut auf deren Verwirklichung hinzuarbeiten. Daß, aber vor allem auch auf welche Weise sie unter heutigen Bedingungen alles daran setzen, das selbstbestimmte Handeln des Publikums tatsächlich praktizierbar zu machen, (11) statt sich auf die Durchsetzung dieser Idee im Kunstkontext zu beschränken, macht den fundamentalen Unterschied ihrer künstlerischen Position gegenüber der Geschichte aus. Es ist darum verständlich, wie wichtig es Clegg & Guttmann ist zu "beton[en] [...], daß [sie] das Projekt nicht als Wiederbelebung der (etwas naiven) Arbeiten der 60er Jahre sehen." (12) Vielmehr glauben sie offenbar an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Weiterentwicklung, was so mancher - sei es mit Blick auf das Publikum oder die Kunstwelt - als äußerst unwahrscheinlich und allemal als naiv ansehen mag.

II. Daß Clegg & Guttmann ihr Projekt aus einer genauen Kenntnis der Tradition konzipiert haben, ist bereits an ihrem Entschluß ablesbar, mit der "Offenen Bibliothek" das Buch zum Mittelpunkt ihrer Arbeit zu machen. Maßgebliche Künstler der 60er Jahre hatten das Buch als künstlerische Form entdeckt, weil ihnen an einer "Kunst der unmittelbaren Einbeziehung des Betrachters" lag, die "von [diesem] eine entwickelte, aktiv-beteiligte Arbeit fordert". (13) Als "integrale[m] Bestandteil des alltäglichen Kommunikationssystems" verband sich mit dem Buch - anders als mit Tafelbild oder Sockelplastik - noch keine "spezifisch ästhetische oder artistische Eigenschaft a priori" (14), sondern es war kulturell als ein unpriviligiertes Arbeitsinstrument eingeführt. Eine direkte haptische wie mentale Betätigung des Rezipienten verlangend und diese unweigerlich zeitlich strukturierend, schien das Buch als Medium für die intendierten Handlungsprozesse besonders geeignet zu sein.

Bereits 1967 realisierte der als Vordenker der conceptual art bekannte Joseph Kosuth, bei dem Clegg & Guttmann studierten, ein Ausstellungsprojekt (15), das noch genauer in die Richtung der "Offenen Bibliothek" weist: Kosuth hatte fünfzehn Konzeptkünstler aufgefordert, von ihnen für besonders wichtig erachtete und bevorzugte Bücher als Ausstellungsstücke zur Verfügung zu stellen. Ihm kam es darauf an zu thematisieren, daß der elementare Akt der Auswahl selbst schon eine persönliche Ausdrucksmöglichkeit ist sowie als künstlerische Praxis eine eigene, ausstellungswürdige Bedeutung hat. Während hier die Auswahl noch in herkömmlicher Weise von den Künstlern vorgenommen wurde, ist es bei Clegg & Guttmanns "Offener Bibliothek" das Publikum selbst, auf dessen Wahl es ankommt und das sich entscheiden muß, entweder Bücher entleihen und/oder hinzufügen zu wollen.

Zu den unabdingbaren Voraussetzungen für das Funktionieren der "Offenen Bibliothek" als eines Instrumentariums zur persönlichen Präferenzbildung gehört es, daß das Publikum seinen Betrachterstatus aufgibt und stattdessen tatsächlich handelt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist bei diesem Projekt wesentlich höher als bei allen vergleichbaren, abstrakt auf Kunst zielenden Konzepten der 60er Jahre. Denn hier wird ein konkreter Handlungsrahmen angeboten, der aus wohlvertrauten lebensweltlichen Zusammenhängen stammt und sich nicht von vornherein als ästhetisch darstellt. Diese Anknüpfung an ein alltägliches Interesse, das von der "reinen Kunst" bisher tabuisiert wurde, kann gleichsam als ein Attraktor fungieren und nicht nur zur aktiven Beteiligung schlechthin motivieren, (16) sondern dieser zugleich auch einen Einstieg und eine Drift geben, auf welche Weise zu handeln ist. Während beim passiven Erleben noch alle Möglichkeiten prinzipiell offen bleiben, sind wirkliche Entscheidungen, ohne die sich aus der lebensweltlichen Motivation weder ein ästhetisches Interesse noch eine echte Beteiligung entwickeln kann, auf aktives Handeln angewiesen. Dessen Praktizierung erweist sich hier insofern geradezu als zwingend.

Wenn aufgrund der Beteiligung an dem Projekt die Notwendigkeit des Entscheidens und Handelns entsteht, so geschieht dies unter der außergewöhnlichen Bedingung, daß die Bibliotheksbenutzung auf keine institutionalisierte, d.h. voraussehbare Weise kontrolliert oder sanktioniert wird. Aufgrund dieser Besonderheit können die ein derartiges Handeln der Beteiligten üblicherweise bestimmenden sinnlichen Bedürfnisse, rationalen Zwecke oder moralischen Normen ihre Selbstverständlichkeit sowie Verbindlichkeit verlieren und sich als Entscheidungskriterien relativieren und sogar aufheben. Um in diesem sozial undefinierten Freiraum dennoch zur Orientierung imstande zu sein, und dem Handlungsbedarf gerecht zu werden, kommen alle Beteiligten letzlich in die Lage, andere Gesichtspunkte für ihre Entscheidungen zu generieren. Allein schon in Ermangelung sonstiger Bestimmungsmomente sieht sich jeder letzlich auf die Entdeckung und Ausbildung seiner Vorlieben, also auf solche Entscheidungskriterien verwiesen, die im weitesten Sinn ästhetische sind, je weitgehender diese als solche bewußt reflektiert und angewendet werden, um so höher wird der Grad ihrer Selbstbestimmtheit und Unwahrscheinlichkeit. Insofern kann das auf solchen Entscheidungen beruhende Handeln der Beteiligten im Prinzip eine durchaus ähnliche ästhetische Qualität bekommen, wie sie sonst allein Künstlern für ihr Schaffen vorbehalten war.

Im Unterschied zum bloßen Erleben wird durch jedes Handeln der zuvor gegebene Zustand eines Systems faktisch verändert. Diese Veränderungen bestimmen die Ausgangsbedingungen der nachfolgenden Entscheidungen und Handlungen, so daß jeder der handelt, zwangsläufig kommuniziert. Die "Offene Bibliothek" ist als ein solches, Kommunikationsprozesse organisierendes System konzipiert, indem es diese initiiert, ihnen einen gemeinsamen Objektbezug gibt, sie in Gang hält und die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer reguliert. Anders als beim klassischen Kunstbegriff vollzieht sich die Kommunikation nicht in der einsamen, kontemplativen Auseinandersetzung mit dem Werk, sondern entwickelt sich als ein sozialer Prozeß zwischen den Beteiligten, indem sie sowohl sprachlich über, als auch handelnd mittels der Objekte interagieren.

Es ist kennzeichnend für die "Offene Bibliothek", daß sie ein geschlossenes System ist, da es aus Kommunikationen besteht, die völlig selbstbezüglich sind: Ausschließlich das kann zum Gegenstand der Kommunikation im System werden, was dort bereits kommuniziert worden ist; jeder kann sich handelnd allein auf das beziehen, was zuvor erhandelt wurde. Aufgrund solcher Selbstbezüglichkeit erlangt das System schnell eine hohe Komplexität und die es ausmachenden kommunikativen Handlungen unterliegen einem andauernden Prozeß der Selbstorganisation. Die aufgrund ihrer Eigendynamik ohnehin schon strukturell gegebene Unvorhersehbarkeit der sich selbst organisierenden Handlungen, erfährt eine weitere Potenzierung dadurch, daß sich jede von ihnen als ästhetisch, also als "sinnabstinent, ja amoralisch in kultivierter Form" (17) charakterisieren läßt und somit eben ihrerseits bereits höchst unwahrscheinlich ist. Insofern ermöglicht Clegg & Guttmanns "Offene Bibliothek" das Unwahrscheinliche nicht nur in größerer Unabhängigkeit vom Künstler als je zuvor, sondern verwirklicht es durch die Praxis der Selbstorganisation des Handelns auch in einem solchen Maße, welches die in den 60er Jahren erreichte Selbsttätigkeit der Materialien und Menschen weit übersteigt.

* Der Titel des Textes "Ermöglichung des Unwahrscheinlichen" verdankt sich ebenso wie der damit verbundene gedankliche Ansatz etlichen nicht kunstbezogen formulierten Überlegungen von Niklas Luhmann: Vgl. z.B. Niklas Luhmann: "Soziale Systeme", Frankfurt/M. 1984, S. 218 ff., sowie S. 514.

(1) So die Bestimmung des Begriffs der Mehrfachcodierung bei Ulf Wuggenig u. Vera Kockot "Kunst im Stadtraum. Die 'Offenen Bibliotheken' von Clegg & Guttmann in Homburg", in: "Perspektiven", Wien, Heft 8, 1993, S. 47 ff.

(2) Ebda., S. 48.

(3) Theodor W. Adorno: "Ästhetische Theorie", Frankfurt/M. 1971, S. 9.

(4) Martin Warnke: "Ästhetik. Eine Kolumne", in: "Merkur", 5/1984.

(5) Joseph Kosuth: "Einführende Bemerkungen des amerikanischen Redakteurs", in: Paul Maenz und Gerd de Vries (Hg.): "Art & Language. Texte zum Phänomen Kunst und Sprache", Köln 1972, S. 103. (6) Jelena Hahl-Koch: "W. Kandinsky. Die erste sowjetische Retrospektive", in: "Kunstchronik", Heft 8, 1989, S. 419. (7) Andre Breton: "Die Manifeste des Surrealismus", Hamburg 1968, S. 26.

(8) Vgl. Michael Lingner: "Kunst als Projekt der Aufklärung jenseits reiner Vernunft", in: Michael Lingner (Hg.): "Das Haus in dem ich wohne. Die Theorie zum Werkentwurf von Franz E. Walther", Klagenfurt 1990, S. 42ff.

(9) Margarethe Jochimsen: "Kunst als soziale Strategie", in: "Kunstforum International", Bd. 27, 1978, S. 74.

(10) Vgl. Franz E. Walther. "Lagerform = Werkform", (Ausst. Kat.) Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1990.

(11) Gemäß der Devise Bretons: "Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns [Künstlern], die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen, was am meisten für uns zeugt?" In: Andre Breton, a.a.O., S. 21.

(12) Clegg & Guttmann: "Entwurf für eine 'Open-Air' Bibliothek", in: "Durch", (hg. v. Grazer Kunstverein) Graz, 6/7, 1990, 5. 136.

(13) Germano Celant "Das Kunstwerk als Buch", in: "Interfunktionen", Nr. 11, 1974, S. 81.

(14) Ebda., S. 83.

(15) Joseph Kosuth: "Non-Anthropomorphic Art", (Ausst. Kat) Lannis Museum, New York 1967.

(16) Ein anderer, nicht über Motivation laufender Versuch, das die Kunst der 60er Jahre beherrschende Problem der Nicht-Beteiligung zu lösen, ist von Haim Steinbach unternommen worden, indem er die Aktivität des Rezipienten durch "eine Reihe bedingter Reflexe auslösen" wollte. Vgl. Heim Steinbach: "Interview mit E. Sussmann", in: "The Binational", (Ausst. Kat) Köln 1988, S. 191.

(17) Karl-Josef Pazzini: "Zu Martin Zülch: 'Zauber und Entzauberung"', in: "Kunst und Unterricht", Nr. 184, 1994, S. 8.


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