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Michael Lingner

Die Krise der »Ausstellung« im System der Kunst

Kunst läßt sich heute nicht mehr als ein Bereich begreifen, der sich gleichsam außerhalb der Gesellschaft befindet und ihr als etwas ganz Anderes und Besonderes gegenübersteht. Zwar ist die Entwicklung der modernen Kunst durch ihre immer weitergehende Autonomisierung bestimmt worden. Aber ebendieser Prozeß hat schließlich auch dazu geführt, daß die Kunst zu einem selbständigen gesellschaftlichen System und damit zu einer "Eigengesellschaft" (1) geworden ist. Wesentliche, von ihr einst als negativ empfundene Merkmale des Gesellschaftlichen weist sie nun selbst auf. Die Autonomie der Kunst ist infolgedessen weniger von außen als vielmehr von innen her bedroht.

Das Kunstsystem steht nicht mehr von vornherein konträr zu seiner Umwelt. Vielmehr teilt es das Schicksal der modernen Gesellschaft, die ebenfalls durch eine zunehmende Ausdifferenzierung und Verselbständigung aller ihrer Teilbereiche gekennzeichnet ist. Das System Kunst kann daher seine Autonomie nicht mehr im klassischen, etwa von Adorno formulierten Sinn als "Verselbständigung der Gesellschaft gegenüber" (2) gewinnen und behaupten, sondern nur noch als "Verselbständigung in der Gesellschaft". (3) Ihre bisherige wichtige Funktion als "kritische Außenstelle der Gesellschaft" (4) büßt die Kunst infolgedessen zwangsläufig ein. Jede Verweigerungshaltung schlägt fortan auf sie selbst zurück.

Auf dem inzwischen erreichten Stand an Autonomie und Ausdifferenziertheit läßt sich die Kunst heute nach der systemtheoretischen Analyse des Soziologen Niklas Luhmann als ein "autopoietischer Funktionszusammenhang" beschreiben. Mit dem ursprünglich aus der Biologie stammenden Begriff der "Autopoiesis" wird das Reproduktionsprinzip von Systemen beschrieben, welche "die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen"(5), produzieren. "Eine solche Transformation von Elementen in Elemente nennen wir Operation, und der Begriff der Autopoiesis besagt dann, daß ein System... aus den Operationen bestehe, die es selbst produziere". (6) "Alles, was im System als Einheit funktioniert, erhält seine Einheit durch das System selbst". (7)

Die autopoietische Funktionsweise des Kunstsystems bedingt indes keinesfalls dessen hermetische Abgeschlossenheit. Vielmehr ermöglicht es ihm, "ein besonders reiches Umweltverhältnis [zu] entwickeln" (8), das über Kommunikationen läuft. Wie das System der Wirtschaft nicht aus Waren, sondern durch Zahlungen besteht und das Rechtssystem nicht auf Gerichten, sondern auf normativen Erwartungen basiert, so beruht auch das Kunstsystem letztlich auf besonderen Kommunikationen. Da diese den Charakter von Ereignissen und nicht von Objekten haben, können Werke - anders als gemeinhin angenommen - nicht als die letzten, nicht weiter dekomponierbaren Elemente des Kunstsystems gelten.

Für den Fortbestand der Kunst muß "nur" noch Kommunikation funktionieren, während alles weitere den zweiten Rang einer dafür notwendigen Bedingung hat. Infolgedessen ändern sich die Funktionen dessen, was ehedem "Werk" hieß. Sie bestehen nun darin, eine spezifische Kommunikation zu initiieren und in Gang zu halten. Indem das "Werk" dem Kommunizieren einen gemeinsamen Objektbezug gibt, organisiert es die Beteiligung an der Kommunikation, reduziert deren Beliebigkeit und reguliert die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer. Das, was Kunst ausmacht, besteht nicht mehr aus geformten Gebilden. Es entsteht vielmehr erst in kommunikativen Prozessen, für welche die Materialisationen des Künstlers als Kommunikationsprogramm eine instrumentale Funktion haben. Sogar die Voraussetzung, daß es solche künstlerischen Hervorbringungen überhaupt gibt, sieht Luhmann nur dann gewährleistet, "wenn und soweit mit Möglichkeiten der Kommunikation über sie gerechnet werden kann". (9)

Zwar ist ein ihr eigener Typus von Kommunikation die entscheidende Bedingung für die Selbstreproduktion (Autopoiesis) der Kunst. Aber daß und wie Kommunikation funktioniert, ist weiterhin wesentlich von den Werken abhängig. Auch wenn ihre Bedeutung sich in dem Sinn relativiert hat, daß sie nicht mehr als die eigentlichen Daseinsformen der Kunst, sondern schlicht als künstlerische Produktionsergebnisse angesehen werden, haben sie nichts an Wichtigkeit verloren. Daß die so verstandenen "Werke" ihre kommunikative Funktion im Kunstsystem erfüllen können, entscheidet sich allerdings daran, daß und wie sie darin Präsenz erlangen.

Die weiterhin vorherrschende Präsentationsform von "Werken" sind Ausstellungen. Erst in irgendeiner Form ausgestellte "Werke" können zu einem Faktor im Kunstsystem werden. Wenn "Werke" als Kommunikationsprogramme gleichsam die Software des Kunstsystems sind, so lassen sich die Ausstellungen als dessen Steuersoftware, als das sogenannte BETRIEBSSYSTEM, verstehen. Es sorgt dafür, daß die verschiedenen Programme auf der Hardware, etwa den Kunstinstitutionen, überhaupt laufen und so ihr kommunikatives Vermögen entfalten können. Aus dem Computerbereich wissen wir, ohne diesen Vergleich überstrapazieren zu wollen, daß die Qualität der Betriebssysteme für die Leistungsfähigkeit der Programme bestimmend ist. Aus diesem Grund wird inzwischen nicht nur die Praxis der Ausstellungsmacher als eigenständige künstlerische Leistung betont, sondern auch ihr Status als eine Art Überkünstler akzeptiert und erwartet.

Trotz oder gerade wegen der Aufwertung des Ausstellungsbetriebes wird übersehen, daß die herkömmlichen Arten der Ausstellung als Veröffentlichungsformen von zeitgenössischer Kunst sich inzwischen überlebt haben. Das ist zuletzt bei der documenta 9 überdeutlich geworden, deren einhellig negative Beurteilung indes aufgrund von wirtschaftlichen und (kultur-)politischen Gründen wohl keine Konsequenzen haben wird. Wie bei den allermeisten Großausstellungen war auch bei der documenta 9 - neben anderen - folgendes symptomatisches Dilemma zu beobachten: Entweder wird das einzelne Werk von der architektonischen Umgebung, von anderen Werken, einer übergreifenden Thematik bzw. Inszenierung dominiert und dadurch im schlimmsten Fall bis zur Beliebigkeit relativiert, oder aber einzelne Werke verselbständigen sich beispielsweise mit einer eigenen Ausstellungsarchitektur so weitgehend, daß es dann der Gesamtorganismus der Ausstellung ist, der destruiert wird. In jedem Fall arbeitet das Betriebssystem "Ausstellung" nunmehr unzureichend.

Seitdem aufgrund ihrer Autonomie die "Fortsetzbarkeit der Kunst (nicht mehr) in die Gesellschaftsstruktur eingehängt und dadurch garantiert" (10) ist, können solche Dysfunktionalitäten nicht nur die heute noch bekannten Ausprägungen der Kunst, sondern ihren Fortbestand schlechthin gefährden. Dazu kann es, in Potenzierung der normalen Krisenhaftigkeit moderner Kunst, dann kommen, wenn Werke einerseits weiter auf herkömmliche Ausstellungsweisen hin produziert werden und es andererseits mangels alternativer Werke nicht zur Entwicklung anderer Betriebssysteme kommt. Um diesen risikoreichen, sich negativ verstärkenden Zirkel zu durchbrechen, sind grundsätzliche und hypothetische Überlegungen erforderlich, ob und wie die Ausstellung als Präsentations- bzw. Kommunikationsform zeitgenössischer Kunst noch funktionieren kann. Dazu sollen auch die Produktions- und Rezeptionsweisen von Kunst heute ganz generell überdacht werden:

In der Kunst und ihrer Praxis ist nach wie vor der Grundgedanke vorherrschend, es wohne das Kunsthafte den besonderen materialen Eigenschaften eines Gegenstandes inne. Kunstproduktion versteht sich folglich als Ausformung entsprechender Objekte, die im Fall des Gelingens als Werke qualifiziert werden. Sie werden mit dem Dasein der Kunst identifiziert. Daß durch die angemessene Präsentation und bloße Anschauung solcher Objekte sich ästhetische Erfahrung direkt vermittelt, gehört zu den das Kunstgeschehen wesentlich bestimmenden Vorstellungen. Nach wie vor wird die Ausstellung solcher Werke, die in den als "white cubes" eigens dafür hergerichteten und ausschließlich genutzten Räumen stattfindet, als authentische Publikations- und Rezeptionsform von Kunst angesehen.

Doch wenn Kunst sich in das Kommunikationsgeschehen verlagert, wird anstelle des Raumes die Zeit zum entscheidenden Faktor. Kunst ist nicht mehr an bestimmte Objekte und Orte gebunden, und kein Raum noch die Form der Ausstellung können weiter für die Vermittlung von Kunst als prädestiniert gelten. Sie kann im Prinzip überall stattfinden. Die gesamte Öffentlichkeit ist zum Raum der Kunst geworden. Ihr bleibt die Wahl zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten mit je eigenen Kommunikationsbedingungen. Kunst lebt heute nicht mehr in den Werken, sondern durch die Kommunikation über die Produktionen, die Werke genannt werden. Wenn indes Objekte nicht mehr selbst Kunst-Werk sind, dann kann deren Hervorbringung im bisherigen Verständnis auch keine Kunstproduktion mehr sein.

Während es früher bei allen zu treffenden künstlerischen Entscheidungen darauf ankam, einem Gegenstand bestimmte, seinen Kunstwert ausmachende materiale Eigenschaften zu verleihen, hätten sie sich jetzt darauf zu richten, spezifische Kommunikationsprozesse zu ermöglichen, d. h. wahrscheinlicher werden zu lassen. Je weitergehender dies gelingt, desto mehr hebt sich die prinzipielle Unterscheidung von Kunstproduktion und Kunstrezeption auf. Die Form des "Werkes" wird dann selbst zu einer Vermittlungs-Form, durch die sich Kunst als Kommunikation ereignen kann. Wo immer eine solche Kommunikation generierende Gesamtstruktur entsteht, hat Kunst eine Produktionsstätte. In diesem Sinn ist die "Ausstellung" eben kein Kunst prozessierendes Betriebssystem, sondern eine objektfixierte Maschinerie, durch die die andernorts produzierte Kunst lediglich reproduziert oder gar nur repräsentiert wird.

Werden Kunst- und "Werk"-Produktion nicht mehr gleichgesetzt, erfolgt die Bildung ästhetischer Erfahrung in einem kommunikativen Prozeß. Für ihn ist kennzeichnend, daß er sich mittels der "Werke" unter den Betrachtern vollzieht und nicht kontemplativ zwischen diesen und den Werken. In jedem Fall stellt sich dann die von der Systemtheorie gern ausgeblendete Qualitätsfrage neu: Die künstlerische Qualität, die vor allem für die Frage entscheidend ist, ob etwas überhaupt der Kunst zuzurechnen sei, wird dann abhängig von der Qualität der Kommunikationen. Insofern kann es in der Kunst nicht bloß um Kommunikation schlechthin gehen, sondern um einen ihr eigenen, in Form und Inhalt sich deutlich unterscheidenden Prozeß.

Ist Kommunikation sehr grundsätzlich als "Prozessieren von Selektionen" beschreibbar, hängt das Spezifische der Kunstkommunikation von den Selektionsmöglichkeiten und -weisen ab. Dabei wird vor allem entscheidend sein, ob die Selektionen als ästhetische getroffen, nicht nur verbal vorgenommen und dabei auch selbst thematisiert werden können. Während für die Selektionsmöglichkeiten durchaus auch noch der Künstler verantwortlich ist, trägt für die tatsächlichen Selektionen und damit für die Qualität der Kommunikationen ausschließlich jeder Kommunikationsteilnehmer Verantwortung. Ob Laien oder professionell Beteiligte, alle werden zu Produktivkräften im Kunstgeschehen, wenn sie bestimmte künstlerische Teilfunktionen übernehmen. Gerade die professionell wahrgenommenen Funktionen sind dabei so auszudifferenzieren und derart aufeinander zu beziehen und neu zu definieren, daß es zu einem systemischen Zusammenwirken der für die Kunstkommunikation entscheidenden Faktoren kommt.

Aus den skizzierten Überlegungen faktische Konsequenzen zu ziehen und Strategien ästhetischen Handelns zu entwickeln, wie spezifische Kommunikationen zwischen Künstlern, anderen Kunstprofessionellen und Laien möglich sind, ist nicht Sache der Theorie. Ebensowenig läßt sich theoretisch definieren, was ästhetische Kommunikation konkret sein könnte oder sollte. Aber einige weitere grundlegende Gesichtspunkte für die Praxis lassen sich benennen:

l. Der paradigmatische Wechsel von der historisch überkommenen autonomen zur heautonomen und kommunikativen Kunst ist nur möglich, wenn die "Ausstellung" als Betriebssystem der Kunst weiterentwickelt und überwunden wird. Dazu mag es ein erster Schritt sein, sich intensiver der Kommunikation zwischen den Werken zu widmen. Denn zu den entscheidenden realen Bezugsgrößen eines Werkes gehören in Ausstellungen die es umgebenden anderen Werke. Daß sie sich nicht gegenseitig überformen, sondern zumindest koexistieren, wird um so wahrscheinlicher, wenn die "Werke" gemeinsam, im Prozeß der künstlerischen Kommunikation der professionell Beteiligten, "vor Ort" erst gemeinsam produziert werden. Die einzelnen Werkgestalten gingen aus den Formen hervor, welche die künstlerisch Beteiligten für ihre Kommunikation fänden. Das fordert freilich von Produzenten und Publikum ein neues, vom bisherigen Autonomiebegriff losgelöstes Verständnis künstlerischer Arbeit.

2. Wenn ästhetische Erfahrung allein im Vollzug von Kommunikation möglich ist, muß der für die autonome Avantgardekunst bestimmende Zirkel ihrer extremen Selbstbezüglichkeit durchbrochen werden. Statt nur auf die Plazierung im realen oder imaginären Museum zu reflektieren, sollte sich der Gesamtkomplex künstlerischer Praxis auf die jeweiligen realen Kommunikationsbedingungen beziehen. Dazu gehört es zum Beispiel, bestimmte Orte, Personen oder Handlungen und andere spezifische situative Gegebenheiten in all ihren ästhetisch relevanten Dimensionen in das künstlerische Kalkül einzubeziehen. Anknüpfungspunkte und Motivationen für ästhetisches Kommunizieren ergeben sich um so eher, je stärker auch alltägliche Gebrauchs- und Bedürfniszusammenhänge Berücksichtigung finden. Durch solche Fremdreferenzen ist die Hermetik autonomer Kunst und ihrer Ausstellungsformen überwindbar.

Anmerkungen

(1) So H. S. Stoltenberg in den Verhandlungen des 7. Deutschen Soziologentages 1930, Tübingen 1931, S. 170

(2) T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, S. 334

(3) N. Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Delfin, III / 1984, S. 52

(4) M. Warnke, Fluchtpunkt Gemütlichkeit. Die Kunstgeschichte nach dem Ende der Avantgarden, in: FAZ vom 28.9.1988, S. 35

(5) N. Luhmann (s. Anm. 3), S. 51

(6) N. Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: A. Hahn, V. Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis..., Frankfurt 1987, S. 31

(7) N. Luhmann (s. Anm. 3), S. 51

(8) N. Luhmann (s. Anm. 6), S. 44

(9) N. Luhmann, Das Medium der Kunst, in: Delfin, VIII/1986, S. 12

(10) N. Luhmann (s. Anm. 3), S. 57


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