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Michael Lingner

Post Human

»Neue Formen der Figuration. ... Aller Zerrissenheit zum Trotz« Deichtorhallen, Hamburg, 12.3. - 9.5.1993

Die seit Anfang unseres Jahrhunderts sich entwickelnde unfigurative und erst recht die ungegenständliche Kunst sind oft genug als unmenschlich, durchaus auch im moralischen Sinne, qualifiziert worden. Auflösung und Verschwinden des Menschenbildnisses wurden kulturpessimistisch als "Verlust der Mitte" (1) gedeutet und beklagt. Bilder, die programmatisch auf jede Figuration verzichteten, galten gleichermaßen als Ursache wie Ausdruck einer "Enthumanisierung der Kunst" (2). Konservative Kritiker sahen darin zugleich aber auch den ästhetischen Niedergang der Kunst, da für sie, gemäß der philosophischen Tradition, allein der Mensch und seine Darstellung dem "Ideal der Schönheit" (3) gerecht werden konnten. Nach dieser Auffassung beraubte die Kunst mit dem Verzicht auf Menschendarstellungen sich der Schönheit als ihrer substantiellen Qualität. Die "Entkunstung" der Kunst wurde als zwangsläufige Folge ihrer Entmenschlichung aufgefaßt.

Dabei war der um die abstrakte, "menschenleere" Avantgardekunst noch in den 50er Jahren erbittert geführte Bilderstreit doch eigentlich längst entschieden. Schon Hegels geschichtsphilosophische Argumentation hatte das Menschenbildnis für künstlerisch unglaubwürdig und in seiner historischen Form und Bedeutung zu einem Anachronismus erklärt: Aufgrund der "die Flamme der Subjektivität entfachenden Selbstbewußtwerdung des Geistes weiß..." dieser sehr genau, "daß seine Wahrheit nicht (mehr) darin besteh(en) (kann), sich in die Leiblichkeit zu versenken". (4) Dieses dem Menschenbildnis entgegenstehende Bewußtsein hat lange die Entwicklung der modernen Kunst entscheidend geprägt. Andererseits ist deren Figurationsfeindlichkeit aber von den gesellschaftlichen und vor allem technischen Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten auch wieder in Frage gestellt worden und hat sich sogar teilweise ins Gegenteil verkehrt.

Je weniger der Mensch sich noch als Naturwesen verstand und immer stärker seine eigene Machbarkeit entdeckte und betrieb, um so mehr hat er für seine Selbstkonstruktionen wieder einen direkten bildhaften Ausdruck gesucht. Diesem angesichts von plastischer Chirurgie, genetischen Manipulationen, Computerisierung des Hirns und Medialisierung der Identität weiter wachsendem Bedürfnis geht die Ausstellung "Post Human" nach. Mit Arbeiten von sechsunddreißig jüngeren und international bekannten Künstlerinnen wie Dennis Adams John Armleder, Clegg & Guttmann, Fischli / Weiss, Cady Noland, Cindy Sherman, Jeff Wall u.a. ist eine Art Typologie des heutigen Menschenbildnisses entworfen worden. An dem in den Deichtorhallen ausgebreiteten Material hat sich allerdings trotz der optimalen Präsentation weniger die ästhetische Dimension, sondern in erster Linie die zeitdiagnostische Seite als interessant erwiesen. Diese erschließt sich um so besser, wenn sie mit der Geschichte kontrastiert und vor dem Hintergrund der religiösen Problematik der Menschendarstellung betrachtet wird.

Aufgrund der christlichen Lehre von der "Gottebenbildlichkeit" des Menschen war jede Darstellung, die ihn zum Motiv machte, nicht nur überaus bedeutungsbeladen, sondern wegen des eklatanten Verstoßes gegen das biblische Bilderverbot auch von höchster Problematik: Um den Geltungsanspruch dessen, was figürlich abgebildet wurde, ist jahrhundertelang nicht nur mit äußerstem Scharfsinn, sondern auch mit Waffengewalt gekämpft worden. Gemäß der theologischen Auffassung, daß "die gesamte Schöpfung etwas vom göttlichen Sein abbildet", wurde im Bild des Menschen und erst recht im Bild von Christus, "der das Abbild Gottes ist, die abgebildete Person als im Bild anwesende vorgestellt". (5)

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, daß sich der im byzantinischen Reich entwickelte Kult um die Kaiserbilder, denen gegenüber sich die Untertanen genauso zu verhalten hatten, als wäre der Herrscher leibhaftig anwesend, auf die religiösen Bilder übertragen konnte. Zu Zeiten des Kaisers Justinian (527-565) erreichte diese Tendenz einer Verlebendigung der religiösen Bilder ihren Höhepunkt. Sie bekamen nicht nur menschliche Eigenschaften, wie etwa sprechen oder bluten zu können, sondern sogar solche übermenschlichen Fähigkeiten wie die des Wunderheilens zugesprochen. Ihnen ist eine derartige Verehrung zuteil geworden, daß sie gewaschen und gesalbt sowie nach Art einer kaiserlichen Parade im herrschaftlichen Wagen, versehen mit Zepter, Weihrauchfässern und Lichtern, feierlich durch das Land geschickt wurden. Zur gleichen Zeit trat verstärkt das Phänomen der "nicht von Menschenhand gemachten" (acheiropoietoi), sondern solcher von der Natur geschaffenen Bilder auf. Daß diese aus Erde oder Stein hervorgegangen oder aus dem Meer oder von Bäumen stammen, also von göttlicher Herkunft sein sollten, verstärkte den Glauben an ihre wundersame Lebendigkeit. Es kam schließlich dazu, daß die Entdeckung eines an den Strand gespülten oder vom Himmel gefallenen Wunderbildes mit der Geburt Christi nicht nur parallel, sondern gleichgesetzt wurde: Das Bildnis gilt nun selbst als Christus. Dadurch haben die religiösen Bilder eine übermächtige Bedeutung erlangt, die mit den orthodoxen religiösen Auffassungen genausowenig verträglich war wie mit den weltlichen Herrschaftsansprüchen. Um diesen Konflikt ging es im byzantinischen Bilderkrieg. (6)

Der im historischen Rückblick offenbar werdende Glaube an eine übermenschliche Bildentstehung macht bewußt, daß alle Bilder eigentlich Bilder vom Menschen sind, insofern er sie gemacht hat. So verstanden wäre der Begriff des Menschenbildnisses völlig nichtssagend und überflüssig. Aber natürlich war diese - heute freilich längst nicht mehr - selbstverständliche Tatsache der menschlichen Autorschaft auch nie mit der Rede vom "Menschenbild" gemeint. Im emphatischen Sinne erschien es vielmehr dafür prädestiniert, das Wesen des Menschen in seiner ganzen Tiefe erfassen und veranschaulichen zu können. Dabei ging es letztlich jeder Epoche um die künstlerische Lösung des existentiellen Rätsels, wie der Mensch seine beiden Seiten, mögen sie als Natur und Geist, Individualität und Sozialität, Emotionalität und Rationalität, Unbewußtes und Bewußtes oder als was auch immer begriffen worden sein, dennoch als Einheit zu leben vermag. Die Ungebrochenheit, die äußerlich gewahrte Integrität des Bildnisses, das dem Menschen von sich zu machen gelang, galt gleichsam als Bestätigung der Möglichkeit seiner durch die Schöpfung verbürgten humanen Ganzheit - allen Gefahren der Zerrissenheit zum Trotz.

Genau unter diesem Aspekt der Identitätsfindung ist die Thematik des Menschenbildes als Frage nach der möglichen Manifestation des Menschlichen in der gegenwärtigen Kunst akut. Sie gewinnt eine neue Brisanz, da bei der sich ständig steigernden technischen Produktion von Bildern der Mensch zunehmend als deren Autor eliminiert wird: Heute haben wir es tatsächlich mit "acheiropoietoi" zu tun. Er kehrt zwar in seinem getreuen Abbild durch die automatisch erzeugten fotografischen und elektronischen Bilder aus der Medien- auch in die Kunstwelt zurück, aber machen nicht gerade diese technisch inszenierten und reproduzierten, vermeintlich realistischen Darstellungen den Menschen zum bloßen Objekt und vernichten ihn als Subjekt? Ist möglicherweise gerade die Kunst, die heute den Menschen im Bild wiedergibt, im Sedlmayrschen Sinn "entmenschlicht"?

Insofern kann die Ausstellung "Post Human" den Blick dafür schärfen, ob und wie es auch jenseits der direkten und trotz der technisierten Abbildung des Menschen eine transfigurative, in einem umfassenderen Sinn menschliche Kunst gibt. Ihre humanistische Dimension steht um so mehr zur Disposition, als das, worin diese heute noch bestehen könnte, überhaupt erst zu entdecken und zu bestimmen wäre: Ästhetik als Wünschelrute der Ethik.

Anmerkungen

(1) Sedlmayr, H., Verlust der Mitte. Salzburg 1948

(2) Ebenda

(3) Kant, l., Kritik der Urteilskraft. Hg. K.Vorländer. Hamburg 1974. S. 74

(4) Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 2. Frankfurt 1970. S. 128 f.

(5) Fries, H. (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. 1. München 1962

(6) Bredekamp, H., Kunst als Medium sozialer Konflikte. Frankfurt/M 1975. Eine ausführliche Darstellung des byzantinischen Bilderkrieges in seinen gesamten Implikationen.

Der 144seitige Katalog enthält zahlreiche Farbabbildungen.


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