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Michael Lingner

Ästhetisches Dasein

Konturen des Menschenbildes XII: Maria Nordman

Die Reihe «Konturen des Menschenbildes» findet mit diesem Beitrag über eine zentrale Arbeit der deutschamerikanischen Künstlerin Maria Nordman (*1943) ihren Abschluß. Nach der in K+U Heft 161 gegebenen thematischen Einführung in die Reihe ist der Versuch, das Menschenbild der Gegenwartskunst in seinen vielfältigen Ausprägungen darzustellen, mit Texten über folgende Künstler (in der Reihenfolge des Erscheinens) unternommen worden: Duane Hanson, Harald Naegeli, Gerhard Merz, Jürgen Bordanowicz, Joseph Beuys, Chrstian Boltanski, Thomas Ruff, Antoni Tapies, Anna und Bernhard Johannes Blume, Felix Droese, Keith Haring und Jeff Wall. - Obwohl die Arbeit von Maria Nordman in keinerlei Weise den Menschen abbildet, stehen er und seine ästhetischen Möglichkeiten im Mittelpunkt.

Michael Lingner

Die Arbeit von Maria Nordman hat den Titel «Für die Ankommenden; genannt/nicht genannt» und besteht aus einer containerartigen Haus-Struktur, die komplett wieder zerlegbar ist. Infolge der dadurch erreichten Mobilität kann und soll das Haus auf Reisen gehen und gleicht darin den Menschen, für die es gedacht ist. An der Peripherie des dem Hamburger Dammtorbahnhof unmittelbar benachbarten Parks «Planten und Blomen», wo sich Stadt- und Naturlandschaft überschneiden, ist das Haus unmittelbar nach der Fertigstellung im Sommer 1991 bisher erst- und einzigmalig in Deutschland aufgebaut worden. Im zerlegten Zustand war es als ein eigenständiges, aus seinen architektonischen Elementen gebildetes skulpturales Ensemble inzwischen schon mehrfach in deutschen Ausstellungshäusern zu sehen.

Das als ein Beitrag zur «Kunst im öffentlichen Raum» realisierte Haus hat zwei größere Räume mit einer Seitenlänge von ca. drei Metern und zwei kleinere, die etwa einhundertfünfzig Zentimeter messen, wobei alle quadratisch sind. Der eine größere Raum ist an den Außenseiten mit transparenten roten, grünen und blauen Scheiben verglast, die sich verschieben lassen. In der Deckenmitte des Raumes befindet sich eine quadratische Öffnung, die den Blick zum Himmel erlaubt. Eine gleich große quadratische und begehbare Glasplatte ist in die Bodenmitte des anderen größeren Raumes eingelassen, so daß hier die Erde unter dem auf Trägern stehenden Haus sichtbar wird. Da weiteres Licht bei diesem Raum nur noch durch je einen schmalen vertikalen Schlitz in den drei Außenwänden hineinfällt, bleibt er fast dunkel und lädt zum Rückzug und zur Ruhe ein.

Während die beiden größeren, sich wie Tag und Nacht voneinander unterscheidenden Räume als Aufenthaltsorte gedacht sind, haben die drei darunterliegenden kleineren Räume rein funktionellen Charakter. Der eine, als einziger von außen zugängliche Raum dient als Ein- und Durchgang. Von ihm aus ist ebenfalls der darunterliegende Raum zugänglich, in dem eine Toilette untergebracht ist. Auch in anderer Hinsicht ist das Haus mit allem ausgestattet, was Menschen für einen vierundzwanzigstündigen Aufenthalt dringend benötigen. In dem farbig verglasten Raum ist entlang der Schiebefenster durchgehend eine etwa kniehohe hölzerne Kastenkonstruktion eingebaut, die auch als Bank benutzbar ist. Wird die Sitzfläche hochgeklappt, finden sich die verschiedensten nützlichen Utensilien: Von Nahrungsmitteln über Eßgeschirr und Decken ist das Notwendigste zur Benutzung bereitgestellt.

Zum tatsächlichen Gebrauch bestimmt

Die Gegenstände, mit denen das Haus ausgestattet ist, ebenso wie die gesamte Architektur sind zum tatsächlichen Gebrauch bestimmt. Es handelt sich nicht um ein für sich existierendes Kunstwerk, und es geht nicht um die Darstellung oder Symbolisierung verborgener Bedeutungen. Bei der bloßen Betrachtung bleibt das Haus als Kunst unkenntlich und erfüllt so auf ideale Weise die angesichts der vielen als «Kunst am Bau» mißglückten Außenplastiken erhobene Forderung, daß «ein im öffentlichen Raum arbeitender Künstler den Punkt anstreben (müßte), in welchem sein Werk als solches gar nicht mehr in Erscheinung tritt» (Ammann 1984, S. 9). Daß diese Arbeit zudem temporär angelegt ist und jeder denkmalsartige Ewigkeitsanspruch von vornherein unterbleibt, macht sie zu einem exemplarischen Typus neuer Kunst im öffentlichen Raum. Maria Nordman erhofft sich davon sogar das «Modell für eine neue Stadt» (Nordman / Vischer 1991).

«Für die Ankommenden ...» ist kein Ausstellungsstück, welches sich von anderen ästhetischen Objekten lediglich dadurch unterscheidet, daß es öffentlich präsentiert wird und benutzbar ist. Vielmehr kann durch den Gebrauchscharakter der Arbeit, Kunst als Form des eigenen Daseins für den Kunstinteressierten erfahrbar werden. Wenn beispielsweise zu den im Haus Anwesenden ein Ankommender stößt, vermittelt sich ihm hier so etwas wie Fremdheit in einer realen, aber trotzdem offenen Situation als eigene Befindlichkeit und nicht nur in fiktiver Weise durch eine entsprechende bildkünstlerische Darstellung. Voraussetzung dafür ist allerdings eine über das Anschauen hinausgehende Beteiligung der Menschen: Eigentlich soll es «außer den Beteiligten ... (überhaupt) kein Publikum geben» (ABR 1981). Erst wenn, wie immer dies geschieht, sich jemand auf die verschiedenen Möglichkeiten tatsächlich einläßt, die das Haus bietet, entsteht die Notwendigkeit, sich zu verhalten und dabei bestimmte Entscheidungen zu fällen.

Es wird Überlegungen geben, etwa ob, warum und wann man dieses Haus besucht, wie lange und vor allem in welcher Weise man dies tun wird. Die Besonderheit ist, daß alle diese Entscheidungen nicht aufgrund der üblichen Zwecke, Motive und Interessen getroffen werden können. Alle ökonomischen, moralischen, politischen und sonstigen alltäglichen Gesichtspunkte greifen an diesem sozial undefinierten Ort letztlich nicht. Sie verlieren ihre Orientierungsfunktion für das Verhalten erweisen sich als unverbindlich und immer auch als ganz anders möglich. Um sich in diesem Freiraum dennoch verhalten und dem entstehenden Handlungsbedarf gerecht werden zu können, sieht sich jeder Beteiligte auf seine subjektiven Vorlieben einerseits zurückgeworfen, andererseits aber zu deren Ausbildung durch die spezifischen Qualitäten des Hauses veranlaßt.

Ästhetisches Verhalten

Insofern die persönlichen Präferenzen bestimmend werden, die sich nicht ohne die Anwendung und Reflexion ästhetischer Kriterien entwickeln lassen, bekommt das Verhalten selbst einen ästhetischen Charakter. Gleichwohl hat es nichts Artifizielles und bezieht sich eben nicht speziell auf die Kunst und ihre Welt. Vielmehr gehört es der Lebenswirklichkeit an und unterscheidet sich doch davon aufgrund seiner ästhetischen Eigenart. Daß das Dasein an diesem Ort eine ästhetische Form gewinnen kann, ist indes nicht nur das Ergebnis einsamer, kontemplativer Auseinandersetzung mit der Arbeit, sondern die meisten der zu treffenden Entscheidungen erfolgen auch im Hinblick auf andere Beteiligte. Ob und in welcher Weise etwa die farbigen Scheiben verschoben werden, ist immer von den jeweils gerade Anwesenden und ihrer Kommunikation abhängig. Durch die Art der anfallenden Entscheidungen und insofern dieser Ort dafür prädestiniert ist, daß als Entscheidungskriterien vor allem die persönlichen Präferenzen der Beteiligten eine wichtige Rolle spielen, bekommt die Kommunikation selbst eine ästhetische Dimension. Kunst entsteht erst in Akten der prinzipiell freigestellten Wahl des Verhaltens und dem zugrundeliegenden kommunikativen Verständigungsprozessen als ein Modus der ästhetischen Beobachtung und Teilnahme an diesem Geschehen. Um die Besonderheit der Arbeit von Maria Nordman besser zu verstehen, kann sie systemtheoretisch als ein Kommunikationsprogramm begriffen werden, dem die Funktion zukommt, die Kommunikation in Gang zu bringen, zu halten und ihr einen gemeinsamen Bezugspunkt zu geben. Darüber hinaus organisiert die Arbeit die Beliebigkeit und reguliert die Erwartungen. Sie bildet den Rahmen für die von den Beteiligten präferierten Selektionen, mit denen diese ihre ästhetischen Kommunikations- und Daseinsweisen selbst bestimmen.

In traditionellerer Terminologie ist nicht die Arbeit selbst als ein Werk aufzufassen, sondern dient als ein Medium für ästhetische Kommunikationsprozesse. Aber auch noch in einem anderen, weniger übertragenen Sinn hat das Haus eine mediale Funktion, da es durch die spezifische Gestaltung seiner verschiedenen Öffnungen in außerordentlicher Weise mit dem natürlichen Licht arbeitet. Während «wir bei allem, was wir sehen, nicht sehen, was es uns ermöglicht, etwas zu sehen» (Baecker 1990, S. 88), werden wir durch Maria Nordmans Arbeit der Voraussetzung jeglicher Sichtbarkeit gewahr: Es ist «das Licht, das es uns (überhaupt) ermöglicht, ... zu sehen» (Baecker 1990, S. 92). Wie in der romantischen Landschaftsmalerei wird das Licht zugleich als ein wesentlicher Stimmungs- und Empfindungsträger einbezogen. Es erscheint, etwa im Wechsel der Tageszeiten, als das Phänomen, an dem selbst der moderne Mensch das Prinzip der äußeren und seiner inneren Natur: das Werden und Vergehen, noch unmittelbar anschaulich erfahren kann.

Literatur:

ABR, Stuttgart: «Zwischen Eis und Süden». St. Moritz 1992 Ammann, J.-C: «Parkett» Nr. 2 - 1984.

Baecker, D.: «Die Dekonstruktion in der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur». In: «Unbeobachtbare Welt». Bielefeld 1990. Nordman / Vischer: «Wandernde Struktur/Haus in der offenen Landschaft». Ein Gespräch zwischen Maria Nordman und Theodora Vischer in «Parkett» Nr. 29 - 1991.


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