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Michael Lingner

Malerei ist keine Kunst mehr, sondern deren Mittel

Seit 1991 wird vom "Offenen Kulturhaus Linz" eine bislang in dieser Form beispiellose Idee verfolgt: Die Produktion, Ausstellung und Vermittlung von Kunst finden an ein und demselben Ort statt, wobei zugleich auf eine effektive Weise Künstlerförderung betrieben wird.

Als bisher größte derartige Aktivität ist das von Peter Kraml konzipierte Projekt "Malwerke" realisiert worden. Die aus insgesamt fünf europäischen Ländern stammenden Künstlerinnen Eva Bodnar, Inge Dick, Marion Kuchenbrod, Marga Persson, Maria Schicker und Susanne Zemrosser sowie die Künstler Guido Kucznierz, Richard Jaszcza, Robert Schuster und Josef Schwaiger haben wochenlang in und auch mit den Räumen gearbeitet, wodurch diese Produktionsstätten immer mehr zu Ausstellungsorten wurden.

Diesen Prozeß und seine Ergebnisse gibt eine dreibändige Text- und Bilddokumentation* wieder, die zur Finissage der eigentlichen Ausstellung präsentiert worden ist. Einer der Bände, mit theoretischen Beiträgen von V. Export, D. Kamper, G. J. Lischka, 0. Oberhuber, T. Zaunschirm u. a., ist ausschließlich der aktuellen Malereiproblematik und ihrer Reflexion gewidmet, die hier fortgesetzt werden soll. Anstelle eines bloßen Berichts steht der Versuch, aus dem sichtbar gewordenen breiten Spektrum der unterschiedlichen theoretischen und malerischen Positionen generalisierend und durchaus auch radikalisierend eine Tendenz auszubilden, die - über die Malerei hinaus - für die gesamte heutige Kunstdiskussion an- und aufschlußfähig ist.

I.

Nicht wenige Protagonisten wichtiger Entwicklungslinien der künstlerischen Moderne waren äußerst skeptisch, ob es überhaupt möglich sei, weiter "Kunst zu machen". Viele epochale Werke wurden im Bewußtsein des eigentlichen Endes der Kunst geschaffen. Das aus der Technik übertragene avantgardistische Ideal der Fortschrittlichkeit schien zwar prinzipiell dafür zu bürgen, daß nach einem bestimmten "bildnerischen Werk ... ein anderes notwendig, erlaubt oder untersagt" (1) sei. Aber andererseits behauptete jede Avantgarde die Unmöglichkeit der vorherigen Kunst und mußte daher mit derselben Einschätzung rechnen - fraglich war nur, wann sie davon betroffen werden würde. Insofern war avantgardistische Kunst auch ständig bedroht, "daß nichts geschieht, daß es nicht weitergeht, daß die Wörter, die Farben, die Formen oder die Töne fehlen, daß der Satz der letzte sein wird ...". (2)

Insbesondere die moderne Malerei unterlag dem permanenten Zweifel, daß es nach dem letzten Werk kein weiteres mehr geben könnte. Nicht nur wird der Maler angesichts der weißen Leinwand mit dieser Eventualität wieder und wieder überaus drastisch konfrontiert, sondern vor allem hat sich die Kunst im 20. Jahrhundert nicht selten ausdrücklich gegen die Malerei weiterentwickelt: Ihre einstige Vorherrschaft hat sie nach und nach an die sich immer mehr ausdifferenzierende Objektkunst verloren. Aufgrund dieser bilderfeindlichen äußeren Umstände, aber auch aus inneren Zweifeln war die Malerei oft genug soweit zu glauben, es sei nun endgültig das letzte mögliche Bild geschaffen worden. Diese Befürchtung wurde dadurch weiter genährt, daß angesichts der wachsenden Flut industriell und elektronisch produzierter Bilder deren künstlerische Erzeugung zunehmend antiquiert erschien.

Inzwischen haben wir im Zeichen der Postmoderne eine Renaissance der Malerei, jedenfalls eine starke Nachfrage, einen "Hunger nach Bildern" erlebt. Für einige Jahre galt das Malerische wieder als ein Wert an sich, und die Malerei wurde in alter Selbstverständlichkeit als besondere Gattung der Kunst gepflegt. Daß eine neoexpressionistische Malerei die Kunstszene der 80er Jahre beherrschen konnte, unterlag indes weniger eigentlich künstlerischen als vielmehr solchen im System Kunst wirksam werdenden gesellschaftlichen Einflüssen, die zur Restaurierung eines überkommenen Kunstbegriffs führten. Dem egomanischen Zustand der Gesellschaft kam die Heroisierung des künstlerischen Selbstausdrucks entgegen. Der sich genialisch gebärdende Künstler wurde als Symbol des Bedürfnisses der Selbstverwirklichung ge- und verbraucht. Mittlerweile gibt es kaum noch Zweifel, daß die Möglichkeiten jener Malkunst, die inhaltlich vom Zeitgeist, formal von der Tradition und ökonomisch von einem Übermaß an Liquidität gelebt hat, in jeder Hinsicht erschöpft sind. Die vor allem im Umkreis konzeptueller Kunst in den 60er Jahren formulierten Argumente gegen die Malerei haben sich bestätigt: Der avantgardistische Kampf um das letzte Bild, um die Möglichkeit von Malerei als solcher, ist allemal vorüber. Schon längst haben wir es nur noch mit Bildern zu tun, die "nach dem letzten Bild" (3), d. h. nach dem eigentlichen Ende der Malerei, gemalt worden sind.

Ganz offensichtlich bedeutet diese Diagnose aber weder das absolute Ende der Malerei noch den Abbruch der künstlerischen Bildproduktion oder zwangsläufig das Ausbleiben guter Bilder. Wie Hegels berühmt-berüchtigte These vom "Ende der Kunst" sich nur in dem Sinne bewahrheitet hat, daß diese alles Klassische unwiederbringlich verloren hat, so wird auch die Malerei einem Wandel unterworfen, der sie und ihre Bilder zu etwas anderem macht. Worin dieses besteht, läßt sich bislang nur recht allgemein bestimmen. Statt jedenfalls wie bisher Zweck und sogar Inbegriff der Kunst zu sein, zeichnet es sich gerade in reinen Malereiausstellungen wie dieser um so deutlicher ab, daß die Malerei und ihre Bilder zu einem bloßen Mittel der Kunst werden. Das gemalte Bild ist nicht mehr selbst Kunst aufgrund bestimmter materialer Eigenschaften, die der Künstler ihm verleiht. Seine Qualitäten erschließen sich erst, wenn es als ein Medium begriffen wird, das sich in den Dienst der ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten des Rezipienten stellt.

Das hier weiter "Malerei" genannte Medium der Kunst wird auf seinen sich abzeichnenden neuen Status umso produktiver reagieren können, desto entschiedener er angenommen und je genauer er verstanden wird. Dazu ist es erforderlich, daß die Malerei ihre Transformation vom Zweck zum Mittel nicht als absoluten Bruch, sondern durchaus als Fortsetzung der eigenen Tradition verstehen kann. Ihr droht kein Identitätsverlust, wenn sie sich einer bislang eher verborgenen historischen Entwicklungslinie der Malerei vergewissert. Denn die Tendenz zu immer größerer Unabhängigkeit der Werkgestalt von den direkten Entscheidungen des Künstlers und die damit verbundene Verlagerung des Künstlerischen in die Verantwortung des Rezipienten und sein ästhetischkommunikatives Handeln ist nicht nur mit der Tradition des gemalten Bildes vereinbar, sondern geradezu in ihr angelegt. Soweit es dem folgenden punktuell bleibenden historischen Rückblick gelingt, das rezeptionsästhetische Handlungs- und Kommunikationskonzept nicht als eine Gegenposition zur Malerei, sondern als eine ihr eigene Drift zu beschreiben, um so plausibler wird zugleich die These vom Mittelcharakter moderner Malerei und ihrer "hohe[n] Qualität des Dienenden" (4).

II.

Besonders aufschlußreich und mit den Intentionen der Künstler übereinstimmend ist es, die Geschichte der modernen Kunst als Prozeß ihrer zunehmenden Autonomisierung darzustellen. Diese reicht bis weit in die Renaissance zurück, gewinnt aber eine völlig neue Qualität, nachdem die Französische Revolution die Befreiung der Kunst von klerikalen und feudalen Fesseln ermöglicht hat. Eine zuallererst von der Malerei verfolgte Strategie der Autonomisierung ist aufgrund ihrer Radikalität besonders wichtig, auch wenn sie zunächst paradox erscheinen mag. Ihr liegt die Absicht zugrunde, die Autonomisierung so weit zu treiben, bis das Werk sogar dem Künstler gegenüber selbständig wird. Daß die Praxis des Künstlers mit dem Entstehungsprozeß des Werkes nicht mehr unbedingt identisch ist, findet sich bereits in der Frühphase autonomer Kunst am Anfang des 19. Jahrhunderts:

Erinnert sei etwa an P. O. Runges Bildzyklus der "Vier Zeiten", zu denen Tieck wegen ihres "vieldeutigen Sinns" (5) mit Bedenken bemerkte, "welches Übergewicht hier die Betrachtung über die hervorbringende Kraft des Künstlers erlangt" (6) habe. Dieses in der Romantik noch weitgehend Idee gebliebene Primat der Rezeption beginnt der Impressionismus ein halbes Jahrhundert später malerisch einzulösen. Dabei geht Cezanne so weit, daß er aus Zweifel an seinen künstlerischen Entscheidungen auf sie partiell zu verzichten wagt. Dadurch entstehen in seinen Bildern die berühmten, für das "offene Kunstwerk" (Eco) beispielhaften Lehrstellen, die den Betrachter gleichsam "als 'Lehrstellen'... über seine bildschöpferischen Projektionskapazitäten aufklären". (7)

Nach dem wesentlich von Cezanne inspirierten Durchbruch zur Abstraktion und zur absoluten Malerei tritt verstärkt die Relativierung des Anspruchs der Künstler auf, alleinige Schöpfer des Werks zu sein. Was gemeint war, wenn besonders im Umkreis des Bauhauses etwa vom "Eigenleben der Farbe", von Materialgerechtigkeit" oder von "Funktionalität" die Rede war, hat Kandinsky auf den Punkt gebracht: "Nicht der Künstler, sondern sein Instrument und sein Material sollen das Bild bestimmen." (8) Das hier noch eher nur Postulierte verwirklicht sich im Dadaismus und Surrealismus überaus konsequent durch die weitere radikale Reduzierung der das Werk betreffenden Gestaltungsentscheidungen des Künstlers. Wie die von Duchamp als künstlerisches Prinzip entdeckte Organisation des Zufalls, so hat auch der auf dessen Stimulation zielende "reine psychische Automatismus" Bretons das Werk immer mehr der Kontrolle des Künstlers entzogen. Doch ein malerischer Ausdruck, welcher der ursprünglich literarisch ambitionierten surrealistischen Methode wirklich entspricht, ist trotz aller bildnerischen Experimentierfreudigkeit etwa eines Max Ernst erst der informellen Kunst gelungen. In ihren frühesten und extremsten Bildern kommt es bei Pollock zu einer aktionistischen und bei Wols zu einer organischen Auflösung der bisherigen Bildeinheit durch die weitgehende Verweigerung von Formung.

Die Ende der 50er Jahre einsetzende gedankliche Auseinandersetzung mit dem Informel hat dazu geführt, Kunst - statt vom Ergebnis - zunehmend von ihrer Entstehung her zu denken. Das Informel ist als "Nullpunkt, ... als Zurückgehen an den Anfangspunkt", interpretiert worden, "wo noch nichts geformt ist, wo es sich erst zu formen beginnt". (9) In der dieser Auffassung entsprechenden Prozeßkunst initiieren Künstler durch elementare Handlungen Materialprozesse, die sich gleichsam selbsttätig zu einer Werkgestalt ausformen: "Attitudes become Form." (10)

Zeitgleich werden in der Happening- und Fluxusbewegung sowie der Aktionskunst die in den Materialien liegenden, zwangsläufig begrenzten und bald erschöpften Formungsmöglichkeiten durch die prinzipiell unendliche Selbsttätigkeit des zum ästhetischen Handeln autorisierten Rezipienten erweitert. Das Bild verwandelt sich in ein Objekt, das, wie etwa bei F. E. Walther auf die eine oder bei J. Beuys auf die andere Weise, einen instrumentalen Charakter und im Gebrauch durch mehrere Personen eine kommunikative Funktion bekommt. Das ästhetisch-kommunikative Handeln des Laien wird zu einem konstitutiven Faktor von Kunst. Sie gewinnt dadurch eine von den künstlerischen Entscheidungen zuvor nie erreichte Unabhängigkeit, und das, was wir "Werk" und "Kunst" nennen, definiert sich völlig um. Die Malerei kommt nicht umhin, sich selbst aufzuheben, indem sie vom Inbegriff der Kunst zu deren Mittel mutiert. In neueren Arbeiten etwa von P. Halley, I. Knoebel oder G. Richter fungiert Malerei zunehmend als ein Medium zur Selbstorganisation ästhetischer Präferenzbildungen der Rezipienten.

Deutliche Ansätze in dieser Richtung finden sich auch in der Ausstellung "Malwerke", besonders bei der Wiener Künstlerin Inge Dick und dem gebürtigen Linzer Josef Schwaiger. Auf exemplarische Weise bietet seine raum- und lichtbezogene Arbeit in Abhängigkeit von der Position des Betrachters und seinem Handeln je verschiedene Werkzustände dar. Kein einzelner von ihnen ist besonders gemeint, sondern ihre völlige künstlerische Gleichwertigkeit ist intendiert. Infolgedessen wird es für den Betrachter möglich, legitim und notwendig, über ihre Qualität nach seinen ästhetischen Vorlieben zu entscheiden - anhand von Kriterien, die er aus der Arbeit und seiner eigenen Disposition von Fall zu Fall entwickeln kann. Erst in einem solch elementaren Akt der Auswahl und den damit verbundenen kommunikativen Prozessen ereignet sich das eigentlich Künstlerische als Prozeß subjektiver Präferenzbildung. Die "Bilder" verlieren infolge des Mittelcharakters der Malerei zwar die Bestimmtheit einer eigenen ästhetischen Verfassung, aber keineswegs ihre künstlerische Funktion. Dieser kann auf mannigfaltige Weise entsprochen werden, so daß sich dem gemalten Bild - jenseits jeder "peinture" - eine Fülle neuer Möglichkeiten eröffnet.

Anmerkungen

* Katalog: beim Offenen Kulturhaus, Dametzstr. 30, A-4020 Linz, 0732-784178

(1) J.-F. Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur Heft 2, im März 1984 XXXVIII. Jahrgang., S. 152, 153

(2) Lyotard, ebenda, S. 153

(3) So der Titel einer von der Galerie Metropol 1991 in Wien veranstalteten Ausstellung

(4) J. Stüttgen, Der Keilrahmen des Imi Knoebel 1968/89, Köln 1991, S. 73

(5) P. 0. Runge, Hinterlassene Schriften, Göttingen 1965, Bd. II, S. 235

(6) R. Huch, Die Romantik, Leipzig 1920, Bd. 1, S. 345

(7) U. Wieczorek, Die Funktion der Sprache im Werk von F. E. Walther, in: M. Lingner (Hrsg.), Das Haus, in dem ich wohne, Klagenfurt 1990, S. 209

(8) J. Hahl-Koch, W. Kandinsky, Die erste sowjetische Retrospektive, in: Kunstchronik, Heft 8-89, S. 419

(9) M. Lingner / F. E. Walther, Zwischen Kern und Mantel, Klagenfurt 1985, S. 24

(10) H. Szeemann: When Attitudes become Form; Ausstellung Bern 1969


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