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Michael Lingner

Ästhetisches Dasein

Die Arbeit von Maria Nordman hat den Titel »Für die Ankommenden; genannt/nicht genannt« und besteht aus einer containerartigen Haus-Struktur, die komplett wieder zerlegbar ist. Infolge der dadurch erreichten Mobilität kann und soll das Haus auf Reisen gehen und gleicht darin den Menschen, für die es gedacht ist. An der Peripherie des dem Hamburger Dammtorbahnhof unmittelbar benachbarten Parks »Planten und Blomen«, wo sich Stadt- und Naturlandschaft überschneiden, ist das Haus unmittelbar nach der Fertigstellung im Sommer 1991 zum bisher ersten und einzigen Mal in Deutschland aufgebaut worden. Im zerlegten Zustand war es als ein eigenständiges, aus seinen architektonischen Elementen gebildetes skulpturales Ensemble inzwischen schon mehrfach in deutschen Ausstellungshäusern zu sehen.

Das als ein Beitrag zur »Kunst im öffentlichen Raum« realisierte Haus hat zwei größere Räume mit einer Seitenlänge von ca. drei Metern und zwei kleinere, die etwa einhundertfünfzig Zentimeter messen, wobei alle quadratisch sind. Der eine größere Raum ist an den Außenseiten mit transparenten roten, grünen und blauen Scheiben verglast, die sich verschieben lassen. In der Deckenmitte des Raumes befindet sich eine quadratische Öffnung, die den Blick zum Himmel erlaubt. Eine gleich große quadratische und begehbare Glasplatte ist in die Bodenmitte des anderen größeren Raumes eingelassen, so daß hier die Erde unter dem auf Trägern stehenden Haus sichtbar wird. Da weiteres Licht bei diesem Raum nur noch durch je einen schmalen vertikalen Schlitz in den drei Außenwänden hereinfällt, bleibt er fast dunkel und lädt zum Rückzug und zur Ruhe ein.

Während die beiden größeren, sich wie Tag und Nacht voneinander unterscheidenden Räume als Aufenthaltsorte gedacht sind, haben die zwei dahinterliegenden kleineren Räume rein funktionellen Charakter. Der eine, als einziger von außen zugängliche Raum dient als Ein- und Durchgang. Von ihm aus ist ebenfalls der dahinterliegende Raum zugänglich, in dem eine Toilette untergebracht ist. Auch in anderer Hinsicht ist das Haus mit allem ausgestattet, was Menschen für einen vierundzwanzigstündigen Aufenthalt dringend benötigen. In dem farbig verglasten Raum ist entlang der Schiebefenster durchgehend eine etwa kniehohe hölzerne Kastenkonstruktion eingebaut, die auch als Bank benutzbar ist. Wird die Sitzfläche hochgeklappt, finden sich die verschiedensten nützlichen Utensilien: Von Nahrungsmitteln über Eßgeschirr und Decken ist das Notwendigste zur Benutzung bereitgestellt.

Zum tatsächlichen Gebrauch bestimmt

Die Gegenstände, mit denen das Haus ausgestattet ist, sind ebenso wie die gesamte Architektur zum tatsächlichen Gebrauch bestimmt. Es handelt sich nicht um ein für sich existierendes Kunstwerk, und es geht nicht um die Darstellung oder Symbolisierung verborgener Bedeutungen. Bei der bloßen Betrachtung bleibt das Haus als Kunst unkenntlich. Die angesichts der vielen mißglückten »Kunst am Bau«-Außenplastiken berechtigte Forderung, daß »ein im öffentlichen Raum arbeitender Künstler den Punkt anstreben (müßte), in welchem sein Werk als solches gar nicht mehr in Erscheinung tritt« (Ammann 1984, S. 9), wird so erfüllt. Daß diese Arbeit zudem temporär angelegt ist und jeder denkmalsartige Ewigkeitsanspruch von vornherein unterbleibt, macht sie zu einem exemplarischen Typus neuer Kunst im öffentlichen Raum. Maria Nordman erhofft sich davon sogar das »Modell für eine neue Stadt« (Nordman / Vischer 1991).

»Für die Ankommenden...« ist kein Ausstellungsstück, welches sich von anderen ästhetischen Objekten lediglich dadurch unterscheidet, daß es öffentlich präsentiert wird und benutzbar ist. Vielmehr kann durch den Gebrauchscharakter der Arbeit Kunst als Form des eigenen Daseins für den Kunstinteressierten erfahrbar werden. Wenn beispielsweise zu den im Haus Anwesenden ein Ankommender stößt, vermittelt sich ihm hier so etwas wie Fremdheit in einer realen, aber trotzdem offenen Situation als eigene Befindlichkeit und nicht nur in fiktiver Weise durch eine entsprechende bildkünstlerische Darstellung. Voraussetzung dafür ist allerdings eine über das Anschauen hinausgehende Beteiligung der Menschen: Eigentlich soll es »außer den Beteiligten ... (überhaupt) kein Publikum geben« (ABR 1992, in Erinnerung an einen berühmten Satz von Joseph Kosuth). Erst wenn sich jemand - wie immer dies geschehen mag - tatsächlich auf die verschiedenen Möglichkeiten einläßt, die das Haus bietet, entsteht die Notwendigkeit, sich zu verhalten und dabei bestimmte Entscheidungen zu fällen. Es wird Überlegungen geben, etwa ob, warum und wann man dieses Haus besucht, wie lange und vor allem in welcher Weise man dies tun wird. Die Besonderheit ist, daß alle diese Entscheidungen nicht aufgrund der üblichen Zwecke, Motive und Interessen getroffen werden können. Alle ökonomischen, moralischen, politischen und sonstigen alltäglichen Gesichtspunkte greifen an diesem sozial undefinierten Ort letztlich nicht. Sie verlieren ihre Orientierungsfunktion für das Verhalten, erweisen sich als unverbindlich und immer auch als ganz anders möglich. Um sich in diesem Freiraum dennoch verhalten und dem entstehenden Handlungsbedarf gerecht werden zu können, sieht sich jeder Beteiligte auf seine subjektiven Vorlieben einerseits zurückgeworfen, andererseits aber zu deren Ausbildung durch die spezifischen Qualitäten des Hauses veranlaßt.

Ästhetisches Verhalten

Insofern die persönlichen Präferenzen bestimmend werden, die sich nicht ohne die Anwendung und Reflexion ästhetischer Kriterien entwickeln lassen, bekommt das Verhalten selbst einen ästhetischen Charakter. Gleichwohl hat es nichts Artifizielles und bezieht sich eben nicht speziell auf die Kunst und ihre Welt. Vielmehr gehört es der Lebenswirklichkeit an und unterscheidet sich doch davon aufgrund seiner ästhetischen Eigenart. Daß das Dasein an diesem Ort eine ästhetische Form gewinnen kann, ist indes nicht nur das Ergebnis einsamer, kontemplativer Auseinandersetzung mit der Arbeit, sondern die meisten der zu treffenden Entscheidungen erfolgten auch im Hinblick auf andere Beteiligte.

Ob und in welcher Weise etwa die farbigen Scheiben verschoben werden, ist immer von den jeweils gerade Anwesenden und ihrer Kommunikation abhängig. Durch die Art der anfallenden Entscheidungen und insofern dieser Ort dafür prädestiniert ist, daß als Entscheidungskriterien vor allem die persönlichen Präferenzen der Beteiligten eine wichtige Rolle spielen, bekommt die Kommunikation selbst eine ästhetische Dimension. Kunst entsteht erst in Akten der prinzipiell freigestellten Wahl des Verhaltens und in den zugrundeliegenden Verständigungsprozessen als ein Modus der ästhetischen Beobachtung und Teilnahme an diesem Geschehen. Um die Besonderheit der Arbeit von Maria Nordman besser zu verstehen, kann sie systemtheoretisch als ein Kommunikationsprogramm begriffen werden, dem die Funktion zukommt, die Kommunikation in Gang zu bringen, zu halten und ihr einen gemeinsamen Bezugspunkt zu geben. Darüber hinaus organisiert die Arbeit die Beliebigkeit und reguliert die Erwartungen. Sie bildet den Rahmen für die von den Beteiligten präferierten Selektionen, mit denen diese ihre ästhetischen Kommunikations- und Daseinsweisen selbst bestimmen.

In traditioneller Terminologie ist nicht die Arbeit selbst als ein Werk aufzufassen, sondern dient als ein Medium für ästhetische Kommunikationsprozesse. Aber auch noch in einem anderen, weniger übertragenen Sinn hat das Haus eine mediale Funktion, da es durch die spezifische Gestaltung seiner verschiedenen Öffnungen in außerordentlicher Weise mit dem natürlichen Licht arbeitet. Während »wir bei allem, was wir sehen, nicht sehen, was es uns ermöglicht, etwas zu sehen« (Baecker 1990, S. 88), werden wir durch Maria Nordmans Arbeit der Voraussetzung jeglicher Sichtbarkeit gewahr: Es ist »das Licht, das es uns (überhaupt) ermöglicht ... zu sehen« (Baecker 1990, S. 92). Wie in der romantischen Landschaftsmalerei wird das Licht zugleich als ein wesentlicher Stimmungs- und Empfindungsträger einbezogen. Es erscheint, etwa im Wechsel der Tageszeiten, als das Phänomen, an dem selbst der moderne Mensch das Prinzip der äußeren und seiner inneren Natur, das Werden und Vergehen, noch unmittelbar anschaulich erfahren kann.

Nachwort in kulturpolitischer Absicht

Alles, was Maria Nordmans Projekt künstlerisch auszeichnet und dazu beiträgt, daß es exemplarisch für einen neuen Typus von Kunst im öffentlichen Raum ist, scheint es für die behördlichen Instanzen zu einem Problem zu machen. Dort scheut man die aufwendige Betreuung, welche notwendig ist, wenn die auf Mobilität und Benutzung angelegte Architektur tatsächlich in Gebrauch genommen wird. Dabei wäre ja durchaus eine Art Ausleihverkehr möglich, so daß Verantwortung und Kosten jeweils von den Stellen getragen würden, die sich an der Aufstellung der Arbeit interessiert zeigten. Doch wenn sich niemand fände, der als Besitzer gleichsam die Patenschaft für die Arbeit übernimmt, droht ihr das Schicksal, daß sie auf ihren rein skulpturalen Charakter reduziert oder einfach nur im zerlegten Zustand eingelagert wird.

Statt als wirkliches Bau-Werk, das sein ästhetisches Potential allein in der direkten Nutzung durch Menschen entfalten kann, hätte die Arbeit dann bloß als Konzept einen Wert. Es konterkarierte den Sinn sämtlicher künstlerischer Anstrengungen und theoretischen Überlegungen, die in den vergangenen Jahren der Kunst im Außenraum gegolten haben, wenn ein wegen seines kommunikativen Charakters für die Öffentlichkeit prädestiniertes Projekt lediglich durch Fotos und Texte dokumentiert indirekt zugänglich wäre. Dies bedeutete die Re-Musealisierung, ja Eliminierung ausdrücklich nicht museal gemeinter Kunst.

Dabei gibt es in diesem Fall keine finanziellen Gründe, die es notwendig machten, die Arbeit ihrer öffentlichen Verfügbarkeit und Funktion zu entziehen: Ohnehin sind bereits erhebliche Mittel von der Hamburger Kulturbehörde aufgewendet worden, um sowohl die über zweijährige Diskussions- und Entwicklungsphase sowie die vergleichsweise kostspielige Produktion der Arbeit zu finanzieren. Nachdem diese dann trotz des von allen Seiten geleisteten Aufwands bisher bloß ein einziges Mal Ende Juni 1991 für vierzehn Tage im Park «Planten und Blomen« zu sehen war, geht es jetzt nur noch darum, das Honorar zum endgültigen Erwerb der Arbeit zu investieren. Ob dieser Beitrag für den andernfalls nötigen Abtransport der Arbeit nach Amerika erheblich höher wäre, ist die Frage. Insofern ist die hoffentlich nicht endgültige negative Entscheidung der Hamburger »Kunstkommission« auch aus wirtschaftlicher Sicht unverständlich.

Selbstverschuldete Fehlinvestitionen sind in Zeiten sich weiter vermindernder Kulturetats um so bedauerlicher. Aber jede finanzielle Einbuße wiegt für die Perspektiven kommunikativer Kunst letztlich weniger schwer als die der Ablehnung zugrundeliegende behördliche Inkonsequenz. Denn gerade in Hamburg ist recht früh und ausgesprochen programmatisch von der antiquierten »Kunst am Bau«-Praxis Abschied genommen worden. Ohne zunächst überzeugende künstlerische Alternativen zu kennen, wollte man auf jeden Fall weg von den herkömmlichen, irgendwelchen Gebäuden applizierten Verlegenheitslösungen und hat dafür mit der »Kunst im öffentlichen Raum«-Regelung Anfang der 80er Jahre die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen geschaffen.

Etwa mit dem 1986 durchgeführten »Projekt Jenisch-Park Skulptur« oder auch durch das Unternehmen »Hamburg Projekt 1989« hat der damalige Referatsleiter Karl Weber unterschiedliche Ansätze institutsungebundener Kunst ambitioniert gefördert und mitkonzipiert. Nicht zuletzt solche Initiativen haben wesentlich zur Erarbeitung neuer gesellschaftsbezogener künstlerischer Ansätze beigetragen. Wenn diese Anstrengungen von seinem Nachfolger fortgesetzt werden und inzwischen u.a. Künstler wie Clegg & Guttmann oder eben Maria Nordman die Möglichkeit hatten, die Öffentlichkeit an ästhetischen Prozessen zu beteiligen, dann sollten die notwendigen weiteren Schritte nicht an bürokratischer Einfallslosigkeit, Bequemlichkeit oder Ignoranz scheitern. Selbst kontroverse Diskussionen bringen mehr als bloße Indifferenz.

Auf die für die skulpturalen Stadtmöblierungen übliche Weise läßt sich bei den auf tatsächliche Beteiligung angewiesenen Projekten jedenfalls nicht verfahren. Vielmehr käme es darauf an, daß die Verantwortlichen sich auf die spezifischen Erfordernisse dieser Kunst mit persönlichem Engagement und Phantasie einließen und bereit wären, bestimmte künstlerische Teilfunktionen zu übernehmen. Ohne entsprechende, weit über die einmalige Realisation und Ausstellung der Arbeit hinausgehende Anstrengungen lassen sich solche soziokulturellen Experimente nicht adäquat durch- und fortführen. Wer sonst als öffentliche Stellen sollte die Betreibung einer solchen Kunst ermöglichen, die sich nicht nur der theoretischen Idee, sondern der praktischen Erprobung ästhetischer Handlungs- und Kommunikationsformen verschreibt, ohne die es keine freie Öffentlichkeit gibt?

Literatur:

ABR Stuttgart, Zwischen Eis und Süden, St. Moritz 1992

Ammann, J.-C., in: Parkett Nr. 2, 1984

Baecker, D., Die Dekonstruktion in der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur, in:

Unbeobachtbare Welt, Bielefeld 1990

Nordman / Vischer, Wandernde Struktur / Haus der offenen Landschaft. Ein Gespräch

zwischen Maria Nordman und Theodora Vischer, in: Parkett Nr. 29, 1991


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