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Michael Lingner

In einem Lande,.../ In einem Raum,... Texte zum Wandbild Mühlendamm 47

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„In einem Lande, wo man des Tages genießt, besonders aber des Abends sich erfreut, ist es höchst bedeutend, wenn die Nacht einbricht. Dann hört die Arbeit auf, dann kehrt der Spaziergänger zurück, der Vater will seine Tochter wieder zu Hause sehen, der Tag hat ein Ende.

Doch was der Tag sei, wissen wir Kimmerier kaum. In ewigem Nebel und Trübe ist es uns einerlei, ob es Tag oder Nacht ist, denn wieviel Zeit können wir uns unter freiem Himmel wahrhaft ergehen und ergötzen?

Wie hier die Nacht eintritt, ist der Tag entschieden vorbei, der aus Abend und Morgen bestand. Vierundzwanzig Stunden sind verlebt, eine neue Rechnung geht an, die Glocken läuten, der Rosenkranz wird gebetet, mit brennender Lampe tritt die Magd in das Zimmer und spricht: Felicissima notte!

Diese Epoche verändert sich mit jeder Jahreszeit, und der Mensch, der hier lebendig lebt, kann nicht irre werden, weil jeder Genuß seines Daseins sich nicht auf die Stunde, sondern auf die Tageszeit bezieht. Zwänge man dem Volke einen deutschen Zeiger auf, so würde man es verwirrt machen, denn der seinige ist innigst mit seiner Natur verwebt."

J. W. v. Goethe: Italienische Reise, Verona 17. 9. 1786

In einem Raum, wo die ersten und letzten wachen Blicke des Tages schweifen, hat es eine besondere Bewandtnis, wenn sich dort ein solches Bild befindet. Dann wird der Eindruck umso lebendiger, als ob sich die Wahrnehmung im Zeitlauf ständig neu organisiert, es nicht ein Bild gibt, sondern einen dauernden Übergang zu anderen Bildern.

Doch was es mit einem Bild zu leben heißt, wissen wir Ausstellungsbesucher kaum. In der vorübergehenden Begegnung mit beliebigen Bildern bleibt für uns folgenlos, ob diese oder jene ästhetischen Ideen und Werte es sind, die da repräsentiert werden. Welche Bedeutung sollten wir dem auch beimessen können, solange unsere lebensweltlichen Interessen, Motive und Bedürfnisse nicht berührt werden?

Wie sich hier das Bild auf die Alltäglichkeit des Ortes und seiner Bewohner einläßt, wird die Kunstwelt entschieden überschritten, die auf der absoluten Autonomie des Werkes besteht. Die Zeit der reinen Kunst ist vorbei, eine neue Epoche bricht an, die Werke werden Attraktoren, der Geschmack wird enttabuisiert, mit seinen individuellen Vorlieben tritt der Betrachter auf und bestimmt: Ich treffe die Wahl! Oder müssen ästhetisches Gefallen und die Erfahrung von Kunst weiter unvereinbar miteinander sein? Warum sollte nicht statt der Kunstwelt die Lebenswelt selbst zum Feld ästhetischer Bildung werden? Ist deren Scheitern in der Sphäre des von Notwendigkeiten regierten Lebens zwangsläufig?

Michael Lingner


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