ask23 > Lingner: Malerei ist keine Kunst mehr, sondern deren Mittel

Michael Lingner

Malerei ist keine Kunst mehr, sondern deren Mittel

I. Nicht wenige Protagonisten wichtiger Entwicklungstendenzen der künstlerischen Moderne waren äußerst skeptisch, ob es überhaupt möglich sei, weiter "Kunst zu machen". Viele epochale Werke wurden im Bewußtsein des eigentlichen Endes der Kunst geschaffen. Das aus der Technik übertragene avantgardistische Ideal der Fortschrittlichkeit schien zwar prinzipiell dafür zu bürgen, daß nach einem bestimmten "bildnerischen Werk ... ein anderes notwendig, erlaubt oder untersagt" (1) sei. Aber andererseits behauptete jede Avantgarde die Unmöglichkeit der vorherigen Kunst und mußte daher mit demselben Schicksal rechnen - fraglich nur, ob es ihr erst in Zukunft oder bereits sofort beschieden sein würde. Avantgardistische Kunst unterlag der ständigen Bedrohung, "daß nichts geschieht, daß es nicht weitergeht, daß die Wörter, die Farben, die Formen oder die Töne fehlen, daß der Satz der letzte sein wird. (2)

Insbesondere die moderne Malerei stand unter dem permanenten Druck, daß es nach dem letzten Werk kein weiteres mehr geben könnte. Nicht nur wird der Maler angesichts der weißen Leinwand mit dieser Eventualität wieder und wieder überaus drastisch konfrontiert, sondern vor allem hat sich die Kunst im 20. Jahrhundert nicht selten ausdrücklich gegen die Malerei weiterentwickelt: Ihre einstige Vorherrschaft hat sie nach und nach an die sich immer mehr ausdifferenzierende Objektkunst verloren. Aufgrund dieser bilderfeindlichen äußeren Umstände, aber auch aus inneren Zweifeln war die Malerei oft genug so weit zu glauben, es sei nun endgültig das letzte mögliche Bild geschaffen worden. Diese Befürchtung wurde dadurch weiter genährt, daß angesichts der wachsenden Flut industriell und elektronisch produzierter Bilder deren künstlerische Erzeugung zunehmend antiquiert erschien.

Inzwischen haben wir im Zeichen der Postmoderne eine Renaissance der Malerei, jedenfalls eine starke Nachfrage, einen "Hunger nach Bildern" erlebt. Für einige Zeit galt das Malerische wieder als ein Wert an sich, und die Malerei wurde in alter Selbstverständlichkeit als besondere Gattung der Kunst gepflegt. Daß eine neoexpressionistische Malerei die Kunstszene der 80er Jahre beherrschen konnte, unterlag indes weniger streng künstlerischen, als vielmehr im System Kunst wirksam werdenden gesellschaftlichen Einflüssen, die zur Restaurierung eines überkommenen Kunstbegriffes führten. Dem egomanischen Zustand der Gesellschaft entsprach die Heroisierung des künstlerischen Selbstausdrucks. Der sich genialisch gebärdende Künstler wurde als Symbol des sonst allseits unterdrückten Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung ge- und verbraucht.

Doch haben die vor allem im Umkreis konzeptueller Kunst in den 60er Jahren formulierten Argumente und künstlerischen Positionen gegen die Malerei ihre Plausibilität überhaupt nicht eingebüßt. Ganz im Gegenteil gibt es mittlerweile keinen Zweifel mehr, daß die Möglichkeiten jener Malkunst, die inhaltlich vom Zeitgeist, formal von der Tradition und ökonomisch von einem Übermaß an Liquidität gelebt hat, in jeder Hinsicht erschöpft sind. Die andauernde Ausschlachtung traditioneller malerischer Qualitäten oder erst recht die sich weiterhin auf immanente Malereiprobleme kaprizierenden künstlerischen Versuche bestätigen die Richtigkeit der damaligen Behauptung: Der avantgardistische Kampf um das letzte Bild, um die Möglichkeit von Malerei als solcher, ist allemal vorüber. Schon längst haben wir es nur noch mit Bildern zu tun, die "nach dem letzten Bild" (3), d.h. nach dem eigentlichen Ende der Malerei gemalt worden sind.

Ganz offensichtlich bedeutet diese Diagnose aber weder das absolute Ende der Malerei, noch den Abbruch der künstlerischen Bildproduktion oder zwangsläufig das Ausbleiben guter Bilder. Wie Hegels berühmt-berüchtigte These vom "Ende der Kunst" sich nur in dem Sinne bewahrheitet hat, daß diese alles Klassische unwiederbringlich verloren hat, so wird auch die Malerei einem Wandel unterworfen, der sie und ihre Bilder zu etwas anderem macht. Worin dieses besteht, läßt sich bislang nur recht allgemein bestimmen. Statt jedenfalls wie bisher Zweck und sogar Inbegriff der Kunst zu sein, zeichnet es sich ab, daß die Malerei und ihre Bilder zu einem bloßen Mittel der Kunst werden. Sie sind nicht mehr selbst Kunst aufgrund bestimmter materialer Eigenschaften, die der Künstler ihnen verliehen hat. Vielmehr können sie als ein Medium fungieren, das die ästhetischen Präferenzbildungen der Rezipienten organisiert.

So gilt es etwa bei den Bildern des in dieser Ausstellung vertretenen Josef Schwaiger die je verschiedenen, in Abhängigkeit von der Betrachterposition sich darbietenden Werkzustände zu unterscheiden und darüber ästhetisch zu entscheiden - nach Kriterien, die der Laie von Fall zu Fall entwickelt. Erst im elementaren Akt der Auswahl und der verbundenen kommunikativen Prozesse ereignet sich das Künstlerische. Indem die Bilder infolge des Mittelcharakters der Malerei "die hohe Qualität des Dienenden" (4) gewinnen, büßen sie zwar ihre eigene ästhetische Verfassung ein, aber keineswegs ihre künstlerische Funktion. Dieser kann auf manigfaltige Weise entsprochen werden, so daß sich dem gemalten Bild - jenseits jeder peinture - eine Fülle neuer Möglichkeiten eröffnet.

Das hier weiter "Malerei" genannte Medium der Kunst wird auf ihren neuen Status umso produktiver reagieren können, desto entschiedener er angenommen und je genauer er begriffen wird. Dazu ist es erforderlich, daß die Malerei ihre Transformation vom Zweck zum Mittel nicht als absoluten Bruch, sondern durchaus als Fortsetzung der eigenen Tradition verstehen kann. Ihr droht kein Identitätsverlust, wenn sie sich einer bislang eher verborgenen historischen Entwicklungslinie der Malerei vergewissert. Denn die Tendenz zu immer größerer Unabhängigkeit der Werkgestalt von den direkten Entscheidungen des Künstlers und die damit verbundene Verlagerung des Künstlerischen in die Verantwortung des Rezipienten und sein ästhetisch-kommunikatives Handeln, ist nicht nur mit der Tradition des gemalten Bildes vereinbar, sondern geradezu in ihr angelegt. Soweit es dem folgenden, nur punktuellen historischen Rückblick gelingt, das rezeptionsästhetische Handlungsund Kommunikationskonzept nicht als eine Gegenposition zur Malerei, sondern als eine ihr eigene Drift zu beschreiben, umso plausibler wird zugleich die den vorangegangenen Überlegungen zugrundegelegte These.

II. Besonders aufschlußreich und mit den Intentionen der Künstler übereinstimmend ist es, die Geschichte der modernen Kunst als Prozeß ihrer zunehmenden Autonomisierung darzustellen. Diese reicht bis weit in die Renaissance zurück, gewinnt aber eine völlig neue Qualität, nachdem die Französische Revolution die Befreiung der Kunst von klerikalen und feudalen Fesseln ermöglicht hat. Die dadurch gewonnene gesellschaftliche, d.h. ideologische, institutionelle, ökonomische Unabhängigkeit der Kunst, bedeutet für sie andererseits ein hohes Maß an Bestimmungslosigkeit. Die Kunst muß die ihr zugefallene formelle und zunächst nur abstrakte Freiheit nun inhaltlich ausfüllen und sich von den - in ästhetischer Hinsicht nach wie vor an sie gerichteten - gesellschaftlichen Ansprüchen und Erwartungen emanzipieren. Dieser Zwang zur ästhetischen Autonomie bedingt die Notwendigkeit deren ständiger Steigerung.

Eine von der Malerei verfolgte Strategie der Autonomisierung ist aufgrund ihrer Radikalität besonders wichtig, auch wenn sie zunächst paradox erscheinen mag. Ihr liegt die immer deutlicher werdende Absicht zugrunde, die Autonomisierung so weit zu treiben, bis das Werk sogar dem Künstler gegenüber selbständig wird. Daß die Praxis des Künstlers mit dem Entstehungsprozeß des Werkes nicht mehr unbedingt identisch ist, findet sich bereits in der Frühphase autonomer Kunst am Anfang des 19. Jahrhunderts: Erinnert sei etwa an P. O. Runges Bildzyklus der "Vier Zeiten", zu denen Tieck wegen ihres "vieldeutigen Sinns" (5) mit Bedenken bemerkte, "welches Übergewicht hier die Betrachtung über die hervorbringende Kraft (des Künstlers) erlangt (6) habe. Dieses in der Romantik noch weitgehend Idee gebliebene Primat der Rezeption beginnt der Impressionismus ein halbes Jahrhundert später malerisch einzulösen. Dabei geht Cézanne so weit, daß er aus Zweifel an seinen künstlerischen Entscheidungen auf sie partiell zu verzichten wagt. Dadurch entstehen in seinen Bildern die berühmten, für das "offene Kunstwerk" (Eco) beispielhaften Leerstellen, die den Betrachter gleichsam "als Lehrstellen ... über seine bildschöpferischen Projektionskapazitäten aufklären". (7)

Nach dem wesentlich von Cézanne inspirierten Durchbruch zur Abstraktion und zur absoluten Malerei tritt verstärkt die Relativierung des Anspruches der Künstler auf, alleinige Schöpfer des Werkes zu sein. Was gemeint war, wenn besonders im Umkreis des Bauhauses etwa vom "Eigenleben der Farbe", von "Materialgerechtigkeit" oder von "Funktionalität" die Rede war, hat Kandinsky auf den Punkt gebracht: "Nicht der Künstler, sondern sein Instrument und sein Material sollen das Bild bestimmen." (8) Das hier noch eher nur Postulierte verwirklicht sich im Dadaismus und Surrealismus überaus konsequent durch die weitere radikale Reduzierung der das Werk betreffenden Gestaltungsentscheidungen des Künstlers. Wie die von Duchamp als künstlerisches Prinzip entdeckte Organisation des Zufalls, so hat auch der auf dessen Stimulation zielende "reine psychische Automatismus" Bretons das Werk immer mehr der Kontrolle des Künstlers entzogen. Doch ein malerischer Ausdruck, welcher der ursprünglich literarisch ambitionierten, surrealistischen Methode wirklich entspricht, ist trotz aller bildnerischen Experimentierfreudigkeit etwa eines Max Ernst, erst der informellen Kunst gelungen. In ihren frühesten, extremsten Bildern kommt es bei Pollock zu einer aktionistischen und bei Wols zu einer organischen Auflösung der bisherigen Bildeinheit durch die weitgehende Verweigerung von Formung.

Die Ende der 50er Jahre einsetzende gedankliche Auseinandersetzung mit dem Informel hat dazu geführt, Kunst - statt vom Ergebnis - zunehmend von ihrer Entstehung her zu denken. Das Informel ist als "Nullpunkt, ... als Zurückgehen an den Anfangspunkt" interpretiert worden, "wo noch nichts geformt ist, wo es sich erst zu formen beginnt" (9). In der dieser Auffassung entsprechenden Prozeßkunst initiieren Künstler durch elementare Handlungen Materialprozesse, die sich gleichsam selbsttätig zu einer Werkgestalt ausformen: "Attitudes become Form" (10). Zeitgleich werden in der Happening- und Fluxusbewegung sowie der Aktionskunst die in den Materialien liegenden, zwangsläufig begrenzten und bald erschöpften Formungsmöglichkeiten durch die prinzipielle Selbsttätigkeit des zum ästhetischen Handeln autorisierten Rezipienten erweitert. Das Bild verwandelt sich in ein Objekt, das wie etwa bei F. E. Walther oder J. Beuys auf die eine oder andere Weise einen instrumentalen Charakter hat und im Gebrauch eine kommunikative Funktion bekommt. Indem das ästhetisch-kommunikative Handeln des Laien zu einem konstitutiven Faktor von Kunst wird, gewinnt diese eine von den künstlerischen Entscheidungen zuvor nie erreichte Unabhängigkeit. Das, was wir "Werk" und "Kunst" nennen, muß sich völlig umdefinieren. Dabei wird sich die Malerei selbst aufheben, indem sie zum Mittel mutiert.

Anmerkungen

(1) J.- F. Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde. In: Merkur Heft 2, im März 1984, XXXVIII Jahrgang. S. 152, 153

(2) Lyotard, a.a.O., S. 153

(3) So der Titel einer von der Galerie Metropol 1991 in Wien veranstalteten Ausstellung

(4) J. Stüttgen: Der Keilrahmen des Imi Knoebel 1968/ 89, Köln 1991, S 73

(5) P.O. Runge: Hinterlassene Schriften. Göttingen 1965 Bd. II, S. 236

(6) R. Huch: Die Romantik. Leipzig 1920, Bd. l, S. 345

(7) U. Wieczorek: Die Funktion der Sprache im Werk von F. E. Walther. In: M. Lingner (Hg.): Das Haus in dem ich wohne, Klagenfurt 1990, S. 209

(8) J. Hahl-Koch: W. Kandinsky. Die erste sowjetische Retrospektive. In: Kunstchronik Heft 8-89. S. 419

(9) M. Lingner / F. E. Walther: Zwischen Kern und Mantel. Klagenfurt 1985, S. 24

(10) H. Szeemann: When Attitudes become Form. Ausstellung Bern 1969


Alle Rechte vorbehalten.
URL dieser Ressource: http://ask23.de/resource/ml_publikationen/kt92-9
Das ist die Originalversion der Ressource: Verfügbar gemacht von ask23 am 2003-02-18, Hashwert e027541648e208f2c31c115d4ebb04bd3943c754