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Michael Lingner

Konturen des Menschenbildes

Die neue Folge von «Kunst Aktuell»

Die bisherige Folge von «Kunst Aktuell», die sich mit den «Strategien ästhetischen Handelns» in der Gegenwartskunst auseinandergesetzt hat, ist mit dem Text über On Kawara in K+U 161 zu Ende gegangen. Zuvor gab es Beiträge über J. Beuys, L'art brut, Gilbert & George, F. E. Walther, Clegg & Guttmann, B. Prinz, H. Steinbach und S. Armajani, mit dem die Reihe in K+U l 52 eröffnet wurde.

Mit der Künstler- und Werkauswahl zugleich dem jeweiligen Heftthema und der Leitthematik von «Kunst Aktuell» gerecht zu werden, ist auch bei der neuen Folge beabsichtigt. In ihrem Mittelpunkt soll das Menschenbild stehen, wie es im künstlerischen Menschenbildnis sichtbar wird. Dieses soll mit möglichst kontrastierenden Beispielen der zeitgenössischen Kunst umrissen werden, um eine Art Typologie entstehen zu lassen. Während die Thematik der vorigen Folge ganz auf das Interesse des Herausgebers und auf eine nach seiner Überzeugung zentrale künstlerische Problematik zugeschnitten war, ist die Entscheidung für das «Menschenbild» besonders im Hinblick auf die Leser in den neuen Bundesländern getroffen worden, von denen wir uns umsomehr Anregungen und Angebote zur Mitarbeit erhoffen.

Aufgrund der christlichen Lehre von der «Gottebenbildlichkeit» des Menschen war jede ihn zum Motiv machende Darstellung immer schon sehr bedeutungsgeladen. Daß sie besonders eklatant gegen das biblische Bilderverbot verstieß, machte sie darüberhinaus aber auch noch höchst problematisch: Um den Geltungsanspruch dessen, was abgebildet wurde, ist jahrhundertelang nicht nur mit äußerstem Scharfsinn, sondern auch mit Waffen gekämpft worden.

Gemäß der theologischen Auffassung, daß «die gesamte Schöpfung etwas vom göttlichen Sein abbildet» (Fries 1962, S. 160), wird im Bild des Menschen und erst recht im Bild von Christus, «der das Abbild Gottes ist» (Fries 1962, S. 161), «die abgebildete Person als im Bild anwesende vorgestellt» (Fries 1962, S. 162). Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, daß sich der im byzantinischen Reich entwickelte Kult um die Kaiserbilder, gegenüber denen sich die Untertanen genau so zu verhalten hatten als wäre der Herrscher leibhaftig anwesend, auf die religiösen Bilder übertragen konnte. Zu Zeiten des Kaisers Justinian (527 - 565) erreichte diese Tendenz einer Verlebendigung der religiösen Bilder ihren Höhepunkt. Ihnen wurden nicht nur menschliche Eigenschaften, wie etwa sprechen oder bluten zu können, sondern sogar solche übermenschlichen Fähigkeiten wie die des Wunderheilens zugeschrieben. Sie sind deswegen derart verehrt worden, daß sie gewaschen und gesalbt sowie nach Art einer kaiserlichen Parade im herrschaftlichen Wagen, versehen mit Zepter, Weihrauchfässern und Lichtern, feierlich durch das Land geschickt wurden.

Zur gleichen Zeit tritt verstärkt das Phänomen der «nicht von Menschenhand gemachten» (acheiropoietoi), sondern solcher von der Natur geschaffenen Bilder auf. Daß diese aus Erde oder Stein hervorgegangen oder aus dem Meer oder von Bäumen stammen, also von göttlicher Herkunft sein sollten, verstärkt den Glauben an ihre wundersame Lebendigkeit. Es kommt schließlich dazu, daß die Entdeckung eines an den Strand gespülten oder vom Himmel gefallenen Wunderbildes mit der Geburt Christi nicht nur parallel, sondern gleichgesetzt wird: Das Bildnis ist nun Christus. Dadurch haben die religiösen Bilder eine übermächtige Bedeutung erlangt, die mit den orthodoxen religiösen Auffassungen genausowenig verträglich war wie mit den weltlichen Herrschaftsansprüchen. Um diesen Konflikt geht es im byzantinischen Bilderkrieg (Bredekamp 1975).

Der im historischen Rückblick offenbar werdende Glaube an eine übermenschliche Bildentstehung macht bewußt, daß alle Bilder eigentlich Bilder von Menschen sind, insofern er sie gemacht hat. So verstanden wäre der Begriff des Menschenbildes völlig nichtssagend und überflüssig. Aber natürlich war diese - heute freilich überhaupt nicht mehr - selbstverständliche Tatsache der menschlichen Autorschaft auch nie mit der Rede vom «Menschenbild» gemeint. Im emphatischen Sinne erschien dieses vielmehr dafür prädestiniert, das Wesen des Menschen in seiner ganzen Tiefe erfassen und veranschaulichen zu können. Dabei ging es letztlich jeder Epoche um die künstlerische Lösung des existentiellen Rätsels, wie der Mensch seine beiden Seiten, mögen sie als Natur und Geist, Individualität und Sozialität, Emotionalität und Rationalität, Unbewußtes und Bewußtes oder als was auch immer begriffen worden sein, dennoch als Einheit zu leben vermag. Die Ungebrochenheit, die äußerlich gewahrte Integrität des Bildnisses, das dem Menschen von sich zu machen gelang, galt gleichsam als Bestätigung der Möglichkeit seiner durch die Schöpfung verbürgten humanen Ganzheit - aller Zerrissenheit zum Trotz.

Aus dieser traditionellen Sicht ist die seit Anfang unseres Jahrhunderts sich entwickelnde unfigurative, ungegenständliche Kunst im moralischen Sinne als unmenschlich qualifiziert worden. Die Auflösung und das Verschwinden des Menschenbildes wurde nicht nur als Ausdruck, sondern vor allem als eine Ursache des «die Enthumanisierung der Kunst» bedeutenden «Verlust(s) der Mitte» (Sedlmayr, 1948) angegriffen, aber zugleich und erst recht auch als Ausverkauf der Kunst bekämpft. Denn nur der Mensch und seine Darstellung war eines «Ideals der Schönheit (für) fähig» (Kant 1974, S. 74) gehalten worden, so daß mit dem Verzicht auf Menschendarstellungen die Kunst ihrer substantiellen Qualität: der Schönheit beraubt schien. Die sich infolgedessen vollziehende «Entkunstung» der Kunst wurde als Folge ihrer Entmenschlichung beurteilt.

Der bis heute andauernde, gleichsam entmilitarisierte Bilderkrieg um die abstrakte, menschenleere Avantgardekunst ist indes längst entschieden. Schon nach Hegels geschichtsphilosophischer Argumentation, ist das Menschenbild künstlerisch unglaubwürdig und in seiner historischen Form und Bedeutung zu einem Anachronismus geworden: Aufgrund der «die Flamme der Subjektivität entfachenden Selbstbewußtwerdens des Geistes dieser nun, daß seine Wahrheit nicht (mehr) darin besteht, sich in die Leiblichkeit zu versenken.» (Hegel 1970, S. 128f.) Dieses das Menschenbildnis unmöglich machende Bewußtsein hat sich durch die kunstimmanente, gesellschaftliche und technische Entwicklung in den vergangenen zweihundert Jahren allemal noch verschärft. Selbst wenn infolgedessen das Ende der «wahren» Kunst drohen oder schon eingetreten sein mag, wäre es durch eine Restauration des Menschenbildnisses nicht abwendbar oder rückgängig zu machen.

Gleichwohl bleibt die Thematik des Menschenbildes als Frage nach der möglichen Manifestation des Menschlichen in der gegenwärtigen Kunst akut. Sie gewinnt eine neue Brisanz, da bei der sich ständig erweiternden technischen Produktion von Bildern der Mensch sogar als deren Autor eliminiert wird - heute haben wir es tatsächlich mit «acheiropoietoi» zu tun. Zwar kehrt er als sein «getreues» Abbild durch die automatisch erzeugten fotografischen und elektronischen Bilder aus den Medien - auch in die Kunstwelt zurück. Aber machen nicht gerade die «fotorealistischen» Darstellungen den Menschen zum bloßen technisch reproduzierbaren Objekt und vernichten seine Subjektivität? Ist möglicherweise gerade die Kunst, die heute den Menschen im Bilde wiedergibt, im Sedlmayrschen Sinn «entmenschlicht»?

Insofern werden die Beiträge der neuen Folge von «Kunst Aktuell» zu untersuchen haben, ob und wie es auch jenseits der direkten Abbildung des Menschen eine transfigurative, in einem umfassenderen Sinn menschliche Kunst gibt. Der Blick für die humanistische Dimension der Kunst soll geschärft werden. Es geht darum, in der zeitgenössischen Kunst das Humane zu entdecken und dabei herauszufinden, was dieses heute überhaupt sein könnte.

Literatur

Bredekamp, H.: Kunst als Medium sozialer Konflikte. Frankfurt/M. 1975

Fries, H. (Hg.): Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. l München 1962

Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 2. Frankfurt 1970

Kant, I: Kritik der Urteilskraft. Hg. K. Vorländer. Hamburg 1974

Sedlmayr, H.: Verlust der Mitte. Salzburg 1948


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