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Michael Lingner

Künstlerische Mäeutik

Strategien ästhetischen Handelns VII: L'art brut

Um 1920 hat erstmals Hans Prinzhorn auf überzeugende Weise für den Kunstwert der zuvor bloß als pathologisch klassifizierten «Bildnereien der Geisteskranken» (1) argumentiert. Seitdem haben sich die Grenzen zwischen solchen zustandsgebundenen und den geschichts- sowie kulturgebundenen Ausdrucksformen professioneller Künstler immer weiter verwischt. Bereits um 1945 hat der Künstler Jean Dubuffet die psychotischen Bildnereien als «L'art brut» sogar zu einer eigenen Kunstrichtung erklärt. Daß sich ihre künstlerische Gleichrangigkeit durchsetzen konnte, ist generell vom Bedeutungsverlust naturalistischer Kunst und speziell von solchen Kunstkonzeptionen wie Surrealismus, Informel und besonders dem Expressionismus befördert worden. Gerade bei expressiver Kunst zeigt sich sogar die eigentliche Überlegenheit der von Geisteskranken geschaffenen Bildnereien.

Da der Expressionismus die «malerische Instinkthandlung» (2), also Unmittelbarkeit und Spontaneität, zum Programm und damit in die Bewußtheit erhebt, muß der expressionistische Künstler unmittelbar und spontan sein wollen. Dazu kann indes selbst die größte Willensanstrengung nicht verhelfen, so daß der bewußt gesuchte Selbstausdruck unvermeidlich zur Selbststilisierung des Künstlers gerät. Das typisch Expressionistische, das allerdings den besten Bildern dieser Stilrichtung am wenigsten eignet, zeigt nicht den unmittelbaren Ausdruck der Emotionalität, sondern verbildlicht vor allem den puren Ausdruckswillen, dem aber jede wirkliche Notwendigkeit fehlt.

Wer den expressionistischen Kunstbegriff ernst nimmt und den direkten spontanen Selbstausdruck für das Höchste der Kunst hält, dem müssen die «Kleinmeister des Irrsinns» (J. Cocteau) als die wahren künstlerischen Großmeister erscheinen. Denn aufgrund seines Selbstverständnisses und Talentes vermag der geschichts- und kulturgebundene Künstler die bildnerischen Mittel nur so zu gebrauchen, daß diese vor allem dem Kunstwollen und nicht dem Selbstausdruck dienen. Dagegen gibt es bei psychiatrischen Patienten völlig von Emotionen beherrschte Zustände, in denen Malerei einzig und allein als gleichsam natürliches Organ des Ausagierens fungiert, wobei bildhafte Spuren entstehen. Da «Freude ... gegen allen Ausdruck sich spröde gezeigt (hat) ... und Seligkeit ... ausdruckslos(wäre)» (3), läßt eine derart absolute Expressivität kaum anders sich vorstellen als durch Leiden verursacht. Sie hat höchste Notwendigkeit, Intensität und Unmittelbarkeit allein bei jenen Menschen, die ihr lebensgeschichtlich erlittenes Leid überwältigt. Nur dort, wo Erlebnisse zu unverwindbaren emotionalen Kränkungen geführt haben, ist ein wahrer und künstlerisch relevanter Expressionismus noch möglich: Die Ausdruckskunst der Gegenwart wird nicht in den Ateliers geschaffen, sondern kommt aus den Psychiatrien oder auch Gefängnissen. Insofern sich fortwährend Menschen in zwanghaften Zu- und Umständen befinden, mit denen ein starker Ausdruckszwang einhergeht, entstehen ständig neue Zeugnisse zustandsgebundener Kunst. Darum gehören diese - obwohl ohne Zeitbezug hervorgebracht, sondern in wenigen wiederkehrenden Grundmustern sich erschöpfend -, zweifellos zur aktuellen Kunst. Um den heute unter der Wirkung von Psychopharmaka sedierten Ausdruckszwang der psychiatrischen Patienten wirklich freizusetzen, genügen herkömmliche therapeutische, etwa beschäftigungstherapeutische, Anstrengungen nicht mehr. Daß der Patient gerade nicht als Objekt psychiatrischer Dienstleistung behandelt, sondern als Mensch akzeptiert wird, macht bestimmte therapeutische Erfolge - sei es im herkömmlichen, oder in einem neu zu definierenden Verständnis - jedoch nicht unmöglich, sondern sehr viel wahrscheinlicher. Dazu bedarf es einer künstlerisch inspirierten, konsequenten Nicht-Therapie, die auf einer gleichsam mäeutischen Methode basieren muß.

In zahlreichen Projekten (4) hat sich gezeigt, daß die um ihre Verantwortung wissenden professionellen Künstler am ehesten dazu in der Lage sind, dem latenten Ausdruckszwang der Patienten einen Impuls zu geben. Indem sie ihnen den Gebrauch eines künstlerischen Mediums eröffnen und aufgrund ihrer eigenen Überzeugung davon ausgehen, daß es allein um die Teilnahme an einem künstlerischen Prozeß geht, sind sie auf quasi natürliche Weise gegen die typische Therapeutenrolle gefeit. Das ist deshalb so wichtig, weil ein möglicher therapeutischer Erfolg solch einer Kunst-«Therapie» wesentlich davon abhängt, daß die Therapieabsicht als solche nie vom Künstler intendiert und dem Patienten bewußt werden darf.

Auch die Erfahrung ihrer eigenen psychischen Gefährdung prädestiniert Künstler zu dieser Strategie ästhetischen Handelns. Vor allem aber können sie durch den künstlerischen Prozeß auch ohne Täuschung des Patienten einen möglichen therapeutischen Effekt erzielen, da es zumindest in einer Hinsicht eine tatsächliche Ebenbürtigkeit zwischen ihnen und den Patienten gibt: Wenn diese ihren Emotionen Ausdruck geben, handelt es sich zweifellos gleichfalls um einen kreativen, von dem professioneller Künstler nicht prinzipiell verschiedenen Prozeß. Um sich in den Dienst der Ausdrucksmöglichkeiten anderer zu stellen, muß der professionelle Künstler auf seinen eigenen bildnerischen Selbstausdruck aus der Einsicht verzichten, daß dieser ihm heute künstlerisch unmöglich ist. Das gehört zu den Grundbedingungen, die alle im Psychiatriebereich mäeutisch arbeitenden professionellen Künstler erfüllen müssen. Die ihnen eigenen Möglichkeiten, künstlerische und ggf. therapeutisch fruchtbare Prozesse zu initiieren, sind nur unter zumindest zwei weiteren Voraussetzungen im Sinne der Patienten auszuschöpfen:

Die kunsttherapeutisch tätigen professionellen Künstler müssen sich davor hüten, ihrer Bewunderung für das Ausdruckspotential der Patienten zu erliegen und sie als Personen zu Künstlern zu stilisieren, auch wenn die Qualität der Ergebnisse dies nahelegen mag. Aber die allermeisten Patienten bekämen als Künstler nicht nur einen ebenso falschen wie fragwürdigen sozialen Status, sondern ihre Hervorbringungen würden zudem in eine Perspektive gerückt, die für sie irrelevant ist. Wesentlich wichtiger als die Kunstfrage ist ihnen die Möglichkeit, sich frei auszuagieren, ohne sofort unliebsam negiert zu werden. Für sie zählt die Qualität des Prozesses, nicht des Ergebnisses.

Eine doppelte, die psychiatrischen Patienten wie die professionellen Künstler gleichermaßen bedrohende Gefahr besteht darin, daß von ihnen die Ergebnisse des kunst-«therapeutischen» Prozesses als ihre eigene und eigentliche künstlerische Praxis aufgefaßt wird. Darum dürfen die Künstler nie ihre eigene Identität mit der der Patienten verwechseln. Denn dann würden die Patienten von Objekten psychiatrischer Dienstleistung letztlich zum bloßen künstlerischen Material degradiert. Nur wenn die Künstler die Unterscheidung zwischen sich und den Patienten aufrechterhalten, obgleich ihnen der Drang zur kreativen Überschreitung des Selbst gemeinsam ist, kann eine sympathetische Wechselbeziehung entstehen. Sie verdiente den Namen «Heilkunst» und bedeutete die Möglichkeit einer menschlichen, d. h. einer auf den gegenwärtigen Zu- bzw. Umstand des Menschen gerichteten «Medizin», die sich gerade nicht, um einer vermeintlich besseren Zukunft willen, gegen seine Vergangenheit richtet.

Anmerkungen

(1) Prinzhorn, H.: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopatologie der Gestaltung. Berlin 1922.

Der Begriff «Bildnerei» wird trotz seines abwertenden Klanges verwendet, weil er keine Vorentscheidung über den Kunstwert des so bezeichneten Tuns impliziert. Der Begriff «Geisteskranke» wird nicht im Sinne einer scheinbar objektiven medizinischen Klassifizierung gebraucht.

(2) Hofmann, E.: Grundlagen der modernen Kunst. Stuttgart 1978, S. 248

(3) Adorno, T. W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1970, S. 169

(4) Als Hamburger Beispiele seien hier genannt: Inselbegegnungen. Kreative Wege zur Befreiung aus der Isolation ... Patienten arbeiten mit Künstlern. Zwei Kunstprojekte aus Psychiatrien in Hamburg und Florenz. Hrsg. von der Kulturbehörde Hamburg 1985. Dort ist auch erhältlich: Hammer, Meißel, Phantasie. Hrsg. von der «Steinmetzgruppe» von Santa Fu, Hamburg 1986

(5) Navratil, L.: Krankheitsverlauf und Zeichnung. In: Confin. Psychiat. 12/69


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