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Michael Lingner

«Metaphorische Selbstverwaltung»

Strategien ästhetischen Handelns IV: Clegg & Guttmann

Die vielfältigen, in der Kunst der 60er Jahre erfolgten Grenzüberschreitungen haben auch vor dem Medium «Buch» nicht haltgemacht. Es ist zu einer eigenständigen, neuen künstlerischen Form entwickelt worden und figuriert nun selbst als ein Kunstobjekt, statt nurmehr im üblichen Sinn bibliophile Qualitäten zu haben. Im Unterschied zum herkömmlichen, bloß informativen Kunstbuch versteht sich ein Künstlerbuch selbst als eine künstlerische Arbeit und ist damit zugleich ein besonderer Ausstellungsort von Kunst. Bemerkenswerterweise erfolgte diese Aufwertung des Buches zu einem Ort authentischer ästhetischer Erfahrung gleichzeitig mit einer medientheoretischen Diskussion und radikalen Infragestellung der Existenzmöglichkeit des Buches etwa bei McLuhan (1968) oder Enzensberger (1970).

Die künstlerischen Bestrebungen, das Buch zu einem ästhetischen Objekt zu machen, waren nicht nur dem Verdacht der Antiquiertheit ausgesetzt, auch ökonomische Interessen wurden unterstellt. In Buchform konzipierte Ausstellungen, wie sie etwa von dem amerikanischen Kunsthändler S. Siegelaub (1968) mit Künstlern der conceptual art programmatisch betrieben wurden, erforderten einen vergleichsweise nur minimalen technischen und finanziellen Aufwand. Jedoch waren bei aller Plausibilität diese wirtschaftlichen genausowenig wie jene medienkritischen Überlegungen bestimmend für die eigentlich künstlerischen Entscheidungen.

Vielmehr haben maßgebliche Künstler der 60er Jahre das Buch für sich entdeckt, weil ihnen eine «Kunst der unmittelbaren Einbeziehung des Betrachters» vorschwebte, die «von (diesem) eine entwickelte, aktiv-beteiligte Arbeit fordert» (Celant, S. 81). Solchen Vorstellungen über eine neue, insbesondere demokratischere Weise der Kunstrezeption ist das Buch überaus entgegengekommen: Anders als das Tafelbild oder die Sockelplastik war es künstlerisch weitgehend unverbraucht, da sich mit ihm als «integrale(m) Bestandteil des alltäglichen Kommunikationssystems» noch keine «spezifisch ästhetische oder artistische Eigenschaft a priori» (Celant, S. 83) verknüpfte. Gleichwohl war es durchaus kulturell eingeführt als ein unprivilegiertes Arbeitsinstrument, das nach einer direkten haptischen und mentalen Betätigung des Rezipienten verlangt. Insofern darüberhinaus die Wahrnehmung bei einem Buch unweigerlich verzeitlicht wird, war dieses Medium für den intendierten ästhetischen Handlungs-Prozeß des Rezipienten besonders förderlich.

Von den beiden jungen (*1957) amerikanischen Künstlern Michael Clegg und Martin Guttmann, die seit 1980 zusammenarbeiten und mit ambivalent inszenierten Portraitfotos bekannt geworden sind, wird das «Buch» erneut in den Mittelpunkt künstlerischer Arbeit gestellt. Zwar wollen sie ihr neuestes Projekt einer «Open-Air-Library» («Die offene Bibliothek») ausdrücklich «nicht als Wiederbelebung der (etwas naiven) Arbeiten der 60er Jahre» (C & G 1990) verstanden wissen. Dennoch spielt dabei das Handeln des Publikums eine zentrale Rolle - allerdings in einer ganz anderen Weise als damals. Freilich gab es auch schon seinerzeit ein von Joseph Kosuth (1967), dem Vordenker der Conceptual Art, initiiertes Ausstellungsprojekt, das in die Richtung der «offenen Bibliothek» weist: Kosuth hatte fünfzehn Konzeptkünstler aufgefordert, die von ihnen für wichtig erachteten und bevorzugten Bücher auszustellen. Ihm kam es darauf an, bereits den elementaren Akt der Auswahl als eine persönliche Ausdrucksmöglichkeit und somit als konstitutives Moment jeder künstlerischen Arbeit zu thematisieren.

Auch Clegg & Guttmann geht es ganz wesentlich um die Bedeutsamkeit des Auswahlprozesses. Mit der Absicht, die überkommene Exklusivität des Künstlertums zu durchbrechen, stellen sie mit ihrer «Offenen Bibliothek» ein allgemein zugängliches System bereit, das die Präferenzbildungen eines jeden Beteiligten organisiert. Die von Clegg & Guttmann projektierte und erstmals (25.05.-25.08.91) in der ländlichen Peripherie von Graz realisierte Arbeit besteht aus insgesamt drei frei in der Natur aufgestellten Büchervitrinen. Jede dieser drei in die Landschaft eingefügten Bibliotheken ist schlicht-funktional aus Holz gebaut und mit einer Glastür versehen, wodurch die Bücher sichtbar bleiben, aber vor Witterungseinflüssen geschützt sind.

Die Bibliotheken müssen ohne Bibliothekare und ohne irgendeine Beaufsichtigung auskommen; es sind lediglich Hinweistafeln angebracht, auf denen die Bibliotheksordnung erläutert wird: Jeder kann aus dem Bestand, wann immer er mag, eine gewisse Anzahl von Büchern entleihen und ist gehalten, sie nach einer bestimmten Zeit zurückzustellen. Durch Tausch bzw. Schenkung können die Bibliotheken aber auch erweitert werden. Daß «die Findung und Ausübung von gewaltlosen Sanktionen gegen die Verletzung des richtigen Gebrauchs der Bibliothek ... zu einer Übung in metaphorischer Selbstverwaltung werden» (C & G 1990) kann, ist eine der wesentlichen Ideen von Clegg & Guttmann. Ihnen liegt an der «Herausbildung von Kommunikationsformen und Formen gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung ..., die auch in anderen Bereichen» (C & G 1990) anzuwenden wären. Als Institution könnte die «Offene Bibliothek» substantiell «zu einer Selbstdefinition der Gemeinschaft beitragen.» (C & G 1990)

Als sehr wichtige Komponente gehört zu dem Projekt von Clegg & Guttmann eine Dokumentation der erfolgten Bibliotheksnutzung. Eigens engagierte Mitarbeiter sollen darüber regelmäßige Berichte liefern, die zentral an einer öffentlich zugänglichen Stelle gesammelt werden. Hier (z. Z. im Grazer Kunstverein) findet der Besucher auch ein Modell der Bibliotheken, eine Karte mit deren Standorten und grundsätzliche Erläuterungen zu dem Projekt, so daß er mit Vorschlägen und Kritik darauf reagieren kann, was wiederum dokumentiert wird. Die Dokumentation, vor allem aber die Bibliotheken selbst, spiegeln die Auswahl- und Nutzungsweisen der Beteiligten wider, ihre Lesegewohnheiten sowie intellektuellen Vorlieben. Sie stellen somit «eine Art Porträt einer Gemeinschaft» (C & G 1990) dar. Einstige Funktionen von Malerei und Fotografie werden so mit anderen Mitteln wieder erfüllbar.

Im gegenwärtigen Stadium fassen Clegg & Guttmann ihr Projekt der «Offenen Bibliothek» modellhaft auf. Darum soll die Dokumentation nicht zuletzt auch als Bewertungsgrundlage für die tatsächliche Durchführbarkeit eines solchen Vorhabens dienen. Dem Modellcharakter entsprechend ist das Grazer Projekt als eine regelrechte Versuchsanordnung konzipiert, als deren Bestandteil auch die Benutzungsregeln der Bibliothek anzusehen sind. Vor allem aber ist jede der drei Bibliotheken mit einem unterschiedlichen Bücherbestand ausgestattet worden. In der Annahme, daß davon Auswahl- und Nutzungsweisen abhängig sind, ist die eine Bibliothek mit dem üblichen, repräsentativen Querschnitt, eine andere mit einer zufälligen Zusammenstellung von Büchern und die dritte nach den Wünschen der Bevölkerung bestückt worden. Dadurch haben Clegg & Guttmann ihr Projekt des Modells einer «Offenen Bibliothek» selbst zum Modell, zu einem Experimentierfeld für die Untersuchung sozialer Interaktionen und Kommunikationen gemacht. Gemäß der systemtheoretischen Kunstanalyse liegt bei ihrem Projekt «die Einheit des Kunstwerkes ... letztlich in seiner Funktion als Kommunikationsprogramm» (Luhmann, 1984). Kunst lebt heute nicht mehr in den Werken, sondern durch die Kommunikation über die Produktionen, die Werke genannt werden. Die künstlerische Qualität ist dann abhängig von der Qualität der Kommunikationen. Verantwortlich sind gerade Sie!

Anmerkungen

Celant, G.: Das Kunstwerk als Buch. In: Interfunktionen No. 11/1974

Clegg & Guttmann: Entwurf für eine «Open-Air» Bibliothek. In: Durch

6-7/1990, hrsg. v. Grazer Kunstverein

Weitere Publikationen zu C & G: Galerie Löhrl, Mönchengladbach 1985;

Galerie Kubinksi, Stuttgart 1987; «Collected Portraits»

Württembergischer Kunstverein 1988. Metropolis, Berlin 1991

Enzensberger, ., M.: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In:

Kursbuch 20, März 1970

Kosuth, J.: Non-Anthropomorphic Art. Lannis Museum. New York 1967

Luhmann, N.: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst

Delfin III/1984

McLuhan, M.: Gutenberg Galaxis. Düsseldorf 1968

Siegelaub, S. (ed.): The Xerox Book. New York 1968. (Contributions by

Andre, Barry, Kosuth, LeWitt, Morris, Weiner)


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