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Michael Lingner

Haim Steinbach

Strategien ästhetischen Handelns II: Imaginärer Gebrauch

In den 60er Jahren, ausgehend von der Happening- und Fluxusbewegung, ist der Kunstbegriff mit der Absicht einer Integration von Kunst und Leben extrem erweitert worden. Zur Erreichung dieser Absicht gab es in der Folgezeit die unterschiedlichsten künstlerischen Anstrengungen, den bloßen Betrachter zu einem real Handelnden werden zu lassen. Von spielerischen -Angeboten bis hin zur emphatischen Übertragung der Autorenschaft des Werkes an den Rezipienten reichten die Versuche, diesen direkt am künstlerischen Prozeß zu beteiligen. Die angestrebte Demokratisierung der Kunst verlangte die Einbeziehung sowie Aktivierung aller Menschen und ihrer gesamten Sinnlichkeit. Mit einer nicht mehr rein retinal (auf das menschliche Auge) ausgerichteten Kunst sollte der «eindimensionale Mensch» (H. Marcuse) zumindest ästhetisch überwunden werden.

Alle diese Bemühungen sind faktisch mehr oder minder erfolglos geblieben, da das Publikum seine traditionelle passive Rolle (bis heute) nicht aufgegeben hat. Es war in der Kunst zum tatsächlichen Handeln, solange dies allein in ästhetischer Absicht erfolgen sollte, nicht zu bewegen. Allenfalls dort kam es zur Beteiligung, wo die künstlerischen Aktionen politischen oder therapeutischen Charakter zu haben schienen und etwa als oder (miß-)verstanden werden konnten. Doch da sich unter solchem Vorzeichen keine ästhetischen Erfahrungen machen lassen und die erhofften gesellschaftlichen oder persönlichen Veränderungen genausowenig zu erreichen waren, blieb nichts als völlige Ernüchterung übrig.

Dennoch, trotz des empirischen Scheiterns des aktionistischen Handlungskonzepts der 60er Jahre ist die Idee, die reduzierte Kunstbetrachtung durch das komplexe ästhetische Handeln zu ersetzen, als künstlerische Zielvorstellung virulent geblieben. Einer der wichtigen Versuche, daran heute erneut anzuknüpfen, ist in K+U 152 am Beispiel der Arbeiten von Siah Armajani vorgestellt worden. Indem sich seine Objekte auf bestimmte Situationen und durch diese definierte Tätigkeiten beziehen, denen dort ohnehin jeder nachgehen möchte oder muß, ergibt sich reales Handeln ganz organisch von selbst. Dabei kann durch die spezifischen Qualitäten der Objekte von Armajani das ursprünglich bloß zweckorientierte Handeln unmerklich eine ästhetische Dimension bekommen.

Auf eine völlig andere Weise verfolgt der (1944 nah bei Tel Aviv geborene und seit vielen Jahren in New York lebende) Künstler Haim Steinbach die Idee, den Rezipienten handelnd an der Werkentstehung zu beteiligen. Kompositorisch auf Rudimente der pop- und minimal-art zurückgreifend bedienen sich Steinbachs Arbeiten der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Präsentationsform von Objekten als Waren. Auf eigens entworfenen Regalelementen, werden zumeist mehr oder weniger nützliche Konsumartikel auf eine an Ausstellungs- oder Dekorationsgegenstände erinnernde Weise dargeboten. Ihre nach den Regeln der Waren-Ästhetik wirkungsvoll inszenierte «unmittelbare Zugänglichkeit» soll den Rezipienten als Konsumenten ansprechen und in ihm «eine Reihe bedingter Reflexe auslösen» (Steinbach 1988, S. 191). Der Betrachter wird zu dem archaischen Impuls animiert, die Dinge besitzen zu wollen, was ihm ein positives Gefühl vermittelt. Sein «Wohlgefallen» ist indes - in der Terminologie Kants - ganz und gar nicht «interesselos», sondern an das in ihm erweckte «Begehrungsvermögen» geknüpft.

Dennoch ist die Möglichkeit ästhetischer Erfahrung, die nach Kant auf einem «interesselosen Wohlgefallen» beruht, nicht ausgeschlossen. Denn gleichermaßen wie die Arbeiten den Betrachter zur Begehrlichkeit verführen, versagen sie ihm die Befriedigung des angeregten Besitztriebes sogleich auch wieder. Dabei sind es nicht nur Konventionen und Verbote, die einer handgreiflichen Aneignung der Objekte entgegenstehen. Vielmehr wird dieses Verlangen vor allem auch dadurch gehemmt, daß sich Objekte als Elemente in einem hermetisch geschlossenen, selbstbezüglichen System präsentieren, welches mit jedem Eingriff zerstört werden würde. Genau darin geht Steinbach über Marcel Duchamps «ready-mades» hinaus, daß er nicht nur Gebrauchsgegenstände zu Objekten ästhetischer Erfahrung macht, indem er sie aus der Alltagswelt in den Kunstunterricht überführt, sondern es dort unternimmt, die Ausstellung ausgestellter Objekte auszustellen.

Daß sich aufgrund dieses systematischen Charakters der Arbeiten ein direkter Zugriff auf die Objekte verbietet, steigert dieses Bedürfnis erst recht - die begehrtesten Artikel auf Messen sind bezeichnenderweise die (noch) nicht käuflichen. Der bedingte Reflex, die Dinge besitzen und über sie tatsächlich verfügen zu wollen, wird gleichsam kanalisiert in einen umso ausgeprägteren imaginären Umgang mit ihnen. Unwillkürlich beginnt der Betrachter, die im wahrsten Sinne seiner Hand entzogenen Objekte, zumindest in der Vorstellung zu berühren, zu verschieben, zu vertauschen, wegzunehmen oder sogar in Gebrauch zu nehmen. Insofern sind die Arbeiten von Steinbach, auch wenn sie so aussehen, gerade keine Stilleben. Vielmehr suggerieren sie Beweglichkeit und es ist erhellend, wenn Steinbach ein Spielbrett mit ihnen vergleicht, auf dem die freilich nicht tatsächlich ausgeführt, sondern nur imaginiert werden.

Die reflexhafte Auslösung des spielerisch-imaginären ästhetischen Handelns macht eine willentliche, d. h. bewußte Entscheidung des Rezipienten zu agieren, überflüssig. Damit entfällt ein wesentlicher Grund dafür, warum die Kunstpraxis der 60er Jahre an dem Versuch scheiterte, das Publikum zu ästhetischem Handeln zu bewegen. Steinbach begreift seine Arbeiten offenbar in der Tradition dieser Problematik als Lösung. Denn ausdrücklich erklärt er es zu seiner Absicht, die Objekte «dem Einfluß des Betrachters auszuliefern», indem seine Werke ihn «zum Spiel einladen», (Steinbach 1988, S. 193) dessen «Regeln» er aber «in seiner/ihrer Sphäre» und Verantwortung angesiedelt sehen will. Die Ideen der 60er Jahre wieder aufnehmend, soll das Spiel «eine Plattform der Gleichberechtigung zwischen dem Künstler, dem Werk und dem Betrachter» definieren (Steinbach 1988, S. 193). Es bestätigt «das Recht des Betrachters, am teilzunehmen. Der Betrachter hat die Möglichkeit, selbst Künstler zu sein» (Steinbach 1988, S. 193).

Anmerkungen

Steinbach, H.: Interview mit E. Sussmann in Ausstellungskatalog: The Binational. Amerikanische Kunst der späten 80er Jahre. Köln 1988 Zum ersten Mal war H. Steinbach in Deutschland zu sehen bei: New York in View. Kunstverein München 1988. Seitdem ist er in vielen wichtigen Ausstellungen europaweit vertreten.


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