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Michael Lingner

Strategien ästhetischen Handelns

Wie in meinem Konzept erläutert (s. K+U 151), soll eine Reihe von Beiträgen jeweils um eine bestimmte künstlerische Problemstellung zentriert werden. Die konkreten Werkbeispiele sind dann als spezielle Formulierungen und dieser Problematik zu verstehen und in ihren Konsequenzen für Kunst und Gesellschaft zu betrachten.

Im Zentrum der ersten Beitragsfolge steht das ästhetische Handeln, dessen vielfältige Erscheinungsformen in der zeitgenössischen Kunst vorgestellt werden. Der folgende Einführungstext verdeutlicht die historischen Zusammenhänge, in denen das ästhetische Handeln als künstlerisches Problem entstanden ist. Dabei sollte bewußt bleiben, daß dies nur ein möglicher, wenn auch wesentlicher Zugang ist. Es gilt, an den Werken Weiteres zu entdecken, um sie in größtmöglicher Komplexität zu erfahren. Doch damit sie überhaupt erst einmal zu verstehen sind, ist die Konzentration auf einen einzigen Aspekt sinnvoll.

Besonders aufschlußreich und mit den Intentionen der Künstler übereinstimmend ist es, die Entwicklung der modernen Kunst als Prozeß ihrer zunehmenden Autonomisierung aufzufassen. Dieser beginnt mit der Französischen Revolution, welche die Befreiung der Kunst von klerikalen und feudalen Fesseln ermöglicht hat. Doch die aus politischen Veränderungen hervorgegangene gesellschaftliche Autonomie, d. h. die ideologische, institutionelle, ökonomische, ... Unabhängigkeit der Kunst, bringt für sie auch ein hohes Maß an Bestimmungslosigkeit mit sich. Die Kunst muß die ihr zugefallene formelle und zunächst nur abstrakte Freiheit nun auch inhaltlich ausfüllen und sich von den in ästhetischer Hinsicht nach wie vor an sie gerichteten gesellschaftlichen Ansprüchen und Erwartungen emanzipieren. In diesem Zwang zur ästhetischen Autonomie ist zugleich die Notwendigkeit zu deren ständiger Steigerung angelegt. Infolgedessen stellt sich dem Künstler der Moderne das Problem, die außerkünstlerischen, allgemeingesellschaftlichen Einflüsse auf seine kunstpraktischen Entscheidungen immer differenzierter zu reflektieren und sie möglichst weitgehend zu reduzieren. Die daraus resultierende Erweiterung der künstlerischen Selbstbestimmung geschieht um der Eigengesetzlichkeit des Werkes willen.

Trotz der Vielfalt unterschiedlichster Strategien der Autonomisierung lassen sich auch durchgängige Tendenzen ausmachen. Einer, aufgrund ihrer Radikalität besonders wichtigen, wenn auch paradox erscheinenden, Strömung liegt die zunächst latente, doch schon bald evidente und bewußte Absicht zugrunde, die Autonomisierung so weit zu treiben, bis das Werk schließlich sogar dem Künstler gegenüber selbständig wird. Schon in der Frühphase autonomer Kunst werden durch die gewollte Vieldeutigkeit des Sinns (wie etwa bei P. O. Runges romantischem Meisterwerk der «Vier Zeiten») sowie die beabsichtigten Unbestimmtheits- und Leerstellen (wie in den Aquarellen Cezannes) die Werke von den psychischen und physischen Bedingungen der Rezeption abhängig. Die damit einhergehende semantische und syntaktische Offenheit der Werke führt dazu, daß deren Entstehungs- und Erscheinungsweise nicht mehr ausschließlich durch den Künstler bestimmt ist.

Erst recht weisen spätere explizite Überlegungen von Künstlern auf die Relativierung ihres Anspruches hin, alleinige Schöpfer des Werkes zu sein. Was gemeint war, wenn besonders im Umkreis des Bauhauses etwa vom «Eigenleben der Farbe», von «Funktionalität» oder «Materialgerechtigkeit» die Rede war, hat Kandinsky auf den Punkt gebracht: «Nicht der Künstler, sondern sein Instrument und sein Material sollen das Bild bestimmen» (Hahl-Koch 1989, S. 419). Noch entschiedener und folgenreicher ist der Verzicht auf die Formung des Werkes, wenn Duchamp mit seinen «ready-mades» die Organisation, bzw. Breton die surrealistische Stimulation des Zufalls durch den «reinen psychischen Automatismus» zum künstlerischen Produktionsprinzip erhebt. Ursprünglich in der Literatur entwickelt, hat diese Idee indes erst durch die informelle Malerei der 50er Jahre (exemplarisch bei Wols und Pollock) einen adäquaten bildnerischen Ausdruck gefunden.

Diese Tradition setzt sich mit der Prozeßkunst der 60er Jahre fort. Durch elementare Handlungen initiieren Künstler Materialprozesse, die sich gleichsam selbsttätig zu einer Werkgestalt ausformen (vgl. Szeemann 1969). Doch zeitgleich werden in der Happening- und Fluxusbewegung die in den Materialien liegenden, zwangsläufig begrenzten und bald erschöpften Formungsmöglichkeiten bereits durch die prinzipiell unendliche Selbsttätigkeit des zum ästhetischen Handeln autorisierten Rezipienten erweitert. Indem ästhetisches Handeln zum werkbildenden Faktor wird, gewinnt das Werk von den künstlerischen Entscheidungen eine zuvor unerreichte Unabhängigkeit und definiert sich neu. Nicht nur in semantischer und syntaktischer, sondern auch in pragmatischer Hinsicht ist nun berechtigterweise von einem «offenen Kunstwerk» zu sprechen. Trotz größter Autonomie verliert es als Handlungsobjekt seine frühere Hermetik, so daß sich Kunst und Leben einander nähern können.

Unter dieser Problemperspektive haben Künstler seit den 60er Jahren völlig unterschiedliche Konzeptionen entwickelt, um die Rolle des ästhetisch Handelnden an den Rezipienten zu delegieren. Die Untersuchung der wichtigsten an diesem Ziel orientierten Handlungskonzeptionen steht im Mittelpunkt der hiermit beginnenden Beitragsfolge.

Anmerkungen

Hahl-Koch, J.: W. Kandinsky. Die erste sowjetische Retrospektive. Kunstchronik 8/1989

Szeemann, H.: When attitudes become form. Bern 1969. Vgl. den Katalog zu dieser legendären Ausstellung, in dem sich dafür eine Fülle von Beispielen finden.


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