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Michael Lingner

»Weiter gleitet die Feder...«

Adolf Hölzels »Theoretischer Nachlaß« - Vorbemerkungen zur geplanten Herausgabe

Wie kaum ein anderer hat Adolf Hölzel die Entwicklung der abstrakten Malerei in Deutschland mitgeprägt. Seine überragende Bedeutung als Akademielehrer (etwa von Baumeister, Itten, Meyer-Amden, Schlemmer) und als Künstler-Theoretiker (insbesondere aufgrund seiner Farb- und Kompositionslehre) ist unbestritten. Spätestens seit dem Erscheinen der ersten Monographie über Hölzel (von Wolfgang Venzmer (1) ist auch an dem gleichermaßen hohen Rang seiner künstlerischen Leistung nicht mehr zu zweifeln.

Hölzel selbst sah als den Mittelpunkt seines Schaffens allemal die künstlerische Praxis an. Dazu gehörte für ihn freilich auch die umfassende gedankliche Durchdringung dieser Praxis. Da ihn sein Hang zum Theoretisieren überaus beanspruchte, mag es zunächst erstaunen, daß Hölzel darüber hinaus auch noch die rein manuelle Seite der Kunstpraxis intensiv betrieb. Die Hand, als das eigentliche, dem Maler von der Natur verliehene Werkzeug, wollte er zu höchster Sensibilität und Leistungsfähigkeit ausbilden. So begann Hölzel über Jahrzehnte sein künstlerisches Tagewerk mit »handlichen Übungen«, den »täglichen tausend Strichen«, die von ihm mit den Fingerübungen eines Musikers verglichen wurden. Sie bildeten in vielfältiger Weise (2) die Grundlagen und gleichsam das Herzstück seiner Kunst, da dort sowohl seine praktische Arbeit als - erstaunlicherweise - auch sein Theoretisieren ihren gemeinsamen Ursprung haben.

Die anfänglich nur in der Absicht manueller Vervollkommnung betriebenen >Exerzitien< Hölzels bestanden aus gleichmäßigen parallelen, rhythmischen Schwingungen des Zeichenstifts. Daraus entstand seine »seit Jahren ... als wunderlich verschrieene Gewohnheit, beim Durchdenken einer Sache oder beim Versenken in einer Stimmung, den rhythmischen Vorgang in sich durch ... gezeichnete Linien zu begleiten«. (3) Dabei kam es ihm darauf an, daß sich die Bewegungen möglichst organisch aus der Übereinstimmung mit seiner Anatomie ergaben. Während sich die Hand zumeist zeilenweise über das Blatt bewegte, gingen die frei kreisenden Linienschwünge oft in eine regelrechte Schreibbewegung über, die sich aber auch wieder ins Zeichnerische auflösen konnte. Hölzels Beschreibung dieses Prozesses, in dem sich Buchstaben bildeten und sogar zu vollständigen zusammenhängenden Wörtern formierten, läßt bereits an das später von den Surrealisten sogenannte »automatische Schreiben« denken: »Weiter gleitet die Feder, nicht wie Du willst, sondern wie sie mag, oft weiter als Du es ahnst, und es entstehen ganze Wortgebilde, von denen Du nicht weißt, wer und was sie sind, bis ein Wort zündet und Deinen Geist leitet in andere Regionen ... So kann es dann sein, daß Sätze sich bilden ... Es ist eine Dichtung auch in der Prosa, die mehr dem Gefühl entspringt als verstandesmäßiger Überlegung.« (4)

So verfügt Hölzel mit den zeichnerischen Exerzitien über ein Medium, das ihm einen gleitenden Übergang zwischen der Poesie zeichnerischer Formung und der Prosa begrifflichen Denkens ermöglicht. Wie die »täglichen tausend Striche« so gehört es bald auch zu Hölzels künstlerischem Tagewerk, theoretische Überlegungen aufzuzeichnen, aus denen im wesentlichen sein »Theoretischer Nachlaß« besteht. Diese beiden einer Grundlegung des Künstlerischen dienenden Praktiken befördern sich wechselseitig und vereinigen sich in den »Zeichnungen mit Schriftsockel« sogar zu einer gelungenen Synthese. Darüber hinaus manifestiert sich die Untrennbarkeit von ästhetischer Theorie und Praxis besonders evident und authentisch in dem kalligraphischen Charakter von Hölzels Handschrift. Auch dort, wo er sich von vornherein darauf beschränkt, einen Text zu notieren, ist immer eine künstlerische Dimension der latenten Transformierbarkeit von Schrift- in Bildzeichen vorhanden.

Insofern handelt es sich trotz aller kunsttheoretischen Substanz bei Hölzels »Theoretischem Nachlaß« nicht um eine Theorie oder gar Lehre im herkömmlichen Sinn, sondern um eine ganz eigene, andersartige Ausformung künstlerischer Praxis. Gleichwohl wird es unvermeidlich sein, daß sich die Herausgabe des »Theoretischen Nachlasses« an wissenschaflichen Standards orientiert. Darum besteht die Gefahr, daß dessen ursprüngliche Entstehungsweise von einer >wissenschaftsförmigen< Rezeption außer acht gelassen wird. Das Bewußtsein für den eigentümlichen Quellgrund der Hölzelschen Textnotizen wachzuhalten, betrachte ich als eine meiner wesentlichen Aufgaben als Herausgeber. (5) - Es wäre indes verfrüht, darüber hinaus auf weitere Einzelheiten meines editorischen Vorgehens einzugehen. Aber über einige Ergebnisse der bisherigen Arbeit sei berichtet, um einen ersten Eindruck von dem Projekt zu vermitteln:

Das gesamte, von mir Ende 1983 übernommene, absolut chaotisch vorgefundene Nachlaß-Konvolut hat - soweit möglich - wieder die Ordnung, wie sie durch die Vorarbeiten der Hölzel-Schülerinnen Ida Kerkovius und Hildegard Kress bis 1941 entstanden war. Diese Reorganisation war aufgrund der vorhandenen Numerierungen der allermeisten Blätter und ihrer im Nachlaß aufgefundenen Auflistung und thematischen Zuordnung möglich. Trotz der weitgehenden Unbrauchbarkeit dieser inhaltlichen Vorstrukturierung, war es zunächst sinnvoll, sie zu übernehmen, um nicht aus dem Nichts ein möglicherweise noch willkürlicheres Ordnungssystem schaffen zu müssen.

Bei der Durchordnung des Nachlaß-Konvoluts, die von den beiden Hölzel-Schülerinnen für eine in der Nazizeit gescheiterte Vorveröffentlichung der geplanten dreibändigen Hölzel-Gesamtausgabe unternommen worden war, kamen sie auf einen Umfang von 8309 Blättern. Während meiner langwierigen Sicherung, Sortierung und Sichtung des Materials hat sich indes herausgestellt, daß der Nachlaß nun tatsächlich noch knapp dreitausend Nummern umfaßt. Die in der Nachlaß-Ordnung von 1941 unter der Rubrik »Freie Zeichnungen« aufgelisteten 2212 Blätter, die 2204 »Zeichnungen in einem Pappkarton« und die 912 »Zeichnungen mit Schrift«, deren künstlerischer Wert wohl augenscheinlich war, sind bis auf wenige mögliche Ausnahmen im Nachlaß-Konvolut nicht mehr vorhanden gewesen. Allein dadurch wird dessen Schrumpfung von etwa acht- auf dreitausend Blätter erklärlich, wobei immer noch eine Fülle von graphisch überaus reizvollen Blättern vorhanden sind. Es fehlen jedoch auch noch Komplexe anderer aufgelisteter Blätter ganz oder teilweise, während es umgekehrt auch eine Reihe nicht gekennzeichneter Blätter gibt und solche, deren Nummern in der Nachlaß-Ordnung nicht vorkommen.

Von allen Blättern liegen inzwischen Transskriptionen vor, die chronologisch und thematisch erneut geordnet werden. Dabei kommt es darauf an, die immense Fülle der zumeist kurzen, um immer wiederkehrende Thematiken kreisenden Aufzeichnungen Hölzels überschau- und unterscheidbar zu machen. Nur so kann eine begründete, kritisch-analytische Auswahl getroffen und eine sinnvolle Gliederung des Materials vorgenommen werden, von der die Qualität der Herausgabe letztlich abhängen wird. In jedem Fall läßt sich bereits aufgrund des gegenwärtigen Arbeitsstandes die Aussage verantworten, daß trotz des Fehlens der ca. fünftausend künstlerisch interessanten Blätter, der kunsttheoretisch wesentliche Kern des Nachlasses zugänglich gemacht werden kann: Vom Konvolut der 520 als »Theorie« rubrizierten Blätter sind beispielsweise fast alle und von den 1000 theoretisch ergiebigen Blättern mit »Betrachtungen und Selbstgesprächen« noch die allermeisten vorhanden. Allein schon deswegen läßt sich das vorliegende Konvolut der Hölzel-Blätter mit Recht als der »Theoretische Nachlaß« bezeichnen, auf dessen Publikation mit gutem Grund in absehbarer Zeit gehofft werden darf. (6)

(1) Venzmer, Wolfgang: Adolf Hölzel. Stuttgart 1982.

(2) Auf die vielfältigen Funktionen der »handlichen Übungen« für Hölzels Kunst geht ein M. Lingner: Zwischen Theorie und Praxis. In: Con-Texte. Materialien zur Lehre an den Kunsthochschulen. 2. Auflage. Hochschule für bildende Künste, Hamburg 1991.

(3) A. Roeßler: Das abstrakte Ornament mit gleichzeitiger Verwertung simultaner Farbkontraste. In: Adolf Hölzel. Bilder, Pastelle, Zeichnungen, Collagen. Ausstellungskatalog der Kestner-Gesellschaft Hannover 1982. S. 79.

(4) Venzmer, Wolfgang: Adolf Hölzel, Stuttgart 1982, S. 94.

(5) Ergänzungen zur Vorgeschichte der Herausgabe des Nachlasses finden sich im Katalog: Hölzel, Pastelle und Zeichnungen, Galerie Römer, Zürich 1988.

(6) Abgesehen von einigen später noch zu nennenden Förderern wäre insbesondere ohne die Unterstützung von Wolfgang Venzmer und das große Vertrauen der Erbin Frau Dieckmann-Hölzel an das Projekt der Herausgabe gar nicht zu denken gewesen.


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