ask23 > Lingner: Die Instrumentierung der Imagination.

Michael Lingner

Die Instrumentierung der Imagination.

Der Betrachter wird zum Handelnden und mit dem WERK identisch: Er IST die Skulptur.

KUNST HEUTE

. . . auch wer den postmodernen Weg für verfehlt hält, auf dem die Kunst außer ihrer ästhetischen auch ihre gesellschaftliche Autonomie verliert, kann nicht davon absehen, daß die Argumentation für ihr bisheriges Autonomiestreben nicht mehr trägt. Statt sich weiter in Opposition, sei es gegen die Gesellschaft oder gegen die eigene Tradition der Autonomisierung zu üben, ist eine völlige Umorientierung vonnöten . . .

Damit die Kunst aus der negativen zu einer positiven Bestimmung ihrer selbst finden kann, bedarf es ihrer Finalisierung. Sie muß sich dazu außerhalb ihrer selbst liegende, heteronome Zwecke selbstbestimmt setzen . . . Die tatsächliche Bedeutung eines solchen als Paradigmenwechsel zu begreifenden Überganges von der Autonomisierung zur Finalisierung ist zwar nur sehr schwer einzuschätzen. In jedem Fall wird aber eine Konsequenz darin bestehen, daß sich der bestehende Werkbegriff grundlegend wandelt . . . Die Hervorbringung des Künstlers, sein 'Werk', wird den Status eines Instruments annehmen müssen . . .

DIE ARBEIT

Die "Sieben Orte ..." bestehen aus sieben l cm dicken quadratischen Stahlplatten, die eine auf die Körpergröße bezogene Seitenlänge von 180 cm haben. Die Platten sind an sieben verschiedenen Orten der Hamburger Innenstadt so ausgelegt, daß sie sich auf einem Höhenniveau mit ihrer jeweiligen Umgebung befinden. Auf Mitte dicht am Rand einer jeden Stahlplatte ist ein zentraler Begriff aus dem Werkzusammenhang Walthers in einer 7 cm hohen Antiqua-Schrift eingraviert.

Wenn der Betrachter die Stahlplatten als Standflächen benutzt, erhält er durch den Schriftzug eine bestimmte Ausrichtung: Um den Begriff im Blick zu haben, stellt sich der Betrachter an der gegenüberliegenden Seite jeder Platte in der Mitte auf. Keiner von diesen sieben Begriffen: ORT, RICHTUNG, KOERPER, INNEN-AUSSEN, BEWEGUNG, RAUM, ZEIT ist in irgendeiner Weise beschreibend gemeint . . .

DIE HANDLUNG

Beim ersten, fast kreisförmigen Rundgang, der neben der Kunsthalle beginnt und wenige hundert Meter weiter an der Lombardsbrücke endet, sollten alle sieben Orte in der von F. E. Walther konzipierten Reihenfolge aufgesucht werden. Nur so ist die aus einem bestimmten Rhythmus zwischen Gehen, Stehen und Schauen sowie einer Abfolge verschiedener Umgebungen bestehende Gesamtgestalt der Arbeit erfahrbar . . .

Der Blick des zum Handeln aufgeforderten Betrachters soll nicht in erster Linie der Arbeit als solcher gelten, sondern sich nach außen auf die umgebende Architektur und nach innen auf ihn selbst richten . . . Alles, was für den Handelnden beim Gebrauch der Arbeit wichtig ist: Seine Zeit, sein Denken, seine Wahrnehmungen, Phantasien, Emotionen, . . . kann als Gegenstand der Formung zum Material des immateriellen WERKES werden, das ein Werk seines Bewußtseins, also eine mentale Leistung ist.

DIE ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG

. . . Zu einer Architektur wird der uns umgebende Raum erst durch die gebaute Ausgrenzung bestimmter Räume. Dabei ist insbesondere die Gestaltung ihrer Grenzen wichtig, um Räume gestalthaft zu erfahren . . . Die dem Raum architektonische Gestalt gebende Begrenzung kann auch durch den bloßen Blick erfolgen, wie in der Fotografie durch die Ausschnittwahl etwas zum Bild wird.

Die "Sieben Orte ..." begrenzen den Blick in einer vom Künstler vor-gesehenen Weise, indem sie ihm eine besondere Richtung geben und ihn durch die Begriffe gleichsam unter ein bestimmtes Thema stellen . . . Die Wahrnehmungen des Handelnden bekommen eine ganz eigene Dimension . . . Als Inseln der Ruhe und Konzentration ermöglichen ihm die "Sieben Orte ..." den Aufbau einer subjektiven Beziehung zum Raum. Indem mit dieser Subjektivierung eine weitere Focussierung der Wahrnehmung einhergeht, kommt es zu einer skulpturähnlichen Raumformung, zu der die Person des Handelnden gehört, wenn er seine Körperlichkeit miteinbezieht.

WERKGESCHICHTLICHES

. . . Seit dem zwischen 1963 und 69 entstandenen "1. Werksatz" spricht F. E. Walther ausdrücklich vom instrumentalen Charakter seiner Arbeiten. Sein inzwischen weiterentwickelter, der Idee der Instrumentalisierung nach wie vor verpflichteter Kunstentwurf ist als ein frühes Beispiel finalisierter Kunst zu betrachten . . .

Mit der 1970, unmittelbar nach Beendigung des "1. Werksatzes" konzipierten, aber erst 1989 realisierten Arbeit "Sieben Orte für Hamburg" beginnt für Walther das, was er später seine "Wiederentdeckung des Optischen" genannt hat. Doch sind sowohl das Handlungsmoment als auch der damit direkt im Zusammenhang stehende andere Materialbegriff und Werkbegriff für die "Sieben Orte ..." gleichermaßen gültig. Sie funktionieren ausgesprochen instrumentell und tragen damit zur künstlerischen Überwindung der verabsolutierten Hermetik und Zweckfreiheit autonomer Kunst bei . . .

INNERE PLÄTZE

Sieben Orte für Hamburg von Franz Erhard Walther

I)

Am Anfang des 19. Jahrhunderts in der deutschen Frühromantik hat sich die Kunst aus ihren tradierten kirchlichen, ständischen und höfischen Funktionszusammenhängen gelöst. Die gesellschaftliche Autonomie der Kunst, d.h. ihre ökonomische, funktionale, institutionelle, ... Unabhängigkeit ist stets durch die politischen Verhältnisse in einer Gesellschaft begrenzt und kann vom Künstler allein durch direktes politisches Handeln gesteigert werden. Bestenfalls ist er imstande, die gesellschaftliche Autonomie bis an die Grenzen des je Möglichen individuell auszuschöpfen. Hingegen vermag er die ästhetische Autonomie der Kunst in dem Maße substantiell zu vergrößern, wie er die Bedingungen seiner Praxis durch die weitestgehende Reduktion der gesellschaftlichen Einflüsse auf seine künstlerischen Entscheidungen selbst zu bestimmen weiß. Welche gesellschaftlichen Ansprüche, Interessen und Erwartungen sich an die Kunst richteten und ihr derart zum Problem wurden, daß sie sich von ihnen unabhängig zu machen suchte, hat sich in den vergangenen 200 Jahren der Geschichte autonomer Kunst völlig verändert.

Ohne eine strenge Linearität oder gar einen Fortschritt zu behaupten, lassen sich in der Entwicklungsgeschichte der ästhetischen Autonomisierung verschiedene Phasen deutlich unterscheiden: Im Streben der Kunst nach funktionaler, inhaltlicher und nach formaler Unabhängigkeit von der Gesellschaft, liegen die drei thematischen Schwerpunkte der klassischen Moderne. (1) Auf die bereits von Duchamp durchgesetzte formale Autonomie, der sich über alle konventionellen Formund gesellschaftlich herrschenden Kunstvorstellungen hinwegsetzte, folgt eine völlig neue Stufe der Autonomisierung. So wie bisher gegenüber der Gesellschaft muß die Kunst nun ihre Unabhängigkeit auch gegenüber sich selbst durchsetzen, wenn sie die ihr eigenen Formen des Tafelbildes oder der Sockelplastik zu überschreiten sucht. Die Avantgardekunst ist zur andauernden Überwindung der eigenen Tradition und damit ihres Begriffs von sich selbst gezwungen. Dabei hebt sie nicht nur längst historisch gewordene, sondern ebenso die je gegenwärtigen künstlerischen Positionen in einem dialektischen Sinn auf, um sich von ihnen zu befreien.

Es gibt auch bei diesem Autonomisierungsprozeß, in dem die Kunst immer unabhängiger von sich selbst werden will, eine Aufeinanderfolge von mehr funktional, inhaltlich und formal orientierten Phasen, die jedoch zunehmend weniger scharf voneinander zu trennen sind. Denn um welchen Entwicklungsschritt der ästhetischen Autonomisierung es sich auch handelt, dem konzeptionellen Moment kommt immer die entscheidende Bedeutung zu, da jede avantgardistische Form- oder Inhaltsentscheidung mit der Reflexion und Umformulierung des Begriffs verbunden ist, den die Kunst von sich selbst hat. Dieser Prozess kulminiert in der conceptual art der 60er Jahre, von der die konzeptionelle Selbstreflexion verabsolutiert worden ist. Die Kunst hat seitdem von ihrem eigenen historischen Begriff eine solche Unabhängigkeit gewonnen, daß jede derart weiter betriebene Automatisierung nur Leerlauf bedeutet.

Autonom kann die Kunst schließlich nur noch gegenüber der Idee der Autonomisierung, gegenüber ihrem bis dahin geltenden Paradigma selbst, werden. Die sich als transavantgardistisch (2) und postmodern verstehende Kunst beugt sich nicht länger dem avantgardistischen Diktat, die Tradition überwinden zu müssen, sondern bedient sich 'unbekümmert' aller inhaltlichen, formalen und konzeptionellen Erfindungen der Kunstgeschichte. Daß sie durch ihre Geschichtslosigkeit autonom gegenüber dem bisherigen Paradigma der Kunstautonomie wird, eröffnet ihr zwar die Möglichkeit einer "neuen ästhetischen Autonomie" (3). Aber zugleich wird damit ein Schritt getan, der keine weitere ästhetische Autonomisierung mehr erlaubt. Denn nur um den Preis der Selbstaufhebung gibt es für die postmoderne Kunst noch eine Rückkehr zum Autonomieprinzip, nachdem sie es einmal negiert hat.

Aber auch wer den postmodernen Weg für verfehlt hält, auf dem die Kunst außer ihrer ästhetischen auch ihre gesellschaftliche Autonomie verliert, hat davon auszugehen, daß sich die ihr bisheriges Autonomiestreben bestimmenden Themen verbraucht haben. Statt weiter gegen etwas, sei es die Gesellschaft oder die eigene Tradition, nach Autonomie zu streben, bedarf es einer völligen Umorientierung. Damit die Kunst aus der negativen zu einer positiven Bestimmung ihrer selbst findet, bedarf sie außerhalb ihrer selbst liegender heteronomer Zwecke. Zu dieser als "Finalisierung" (4) der Kunst zu begreifenden Zwecksetzung kann die künstlerische Praxis kommen, indem sie Außenperspektiven einnimmt, um mögliche, künstlerisch zu erfüllende Funktionen von allgemeinem Interesse als heteronome Zwecke zu erfinden, oder bereits vorhandene sich anverwandelnd zu eigen macht. Insofern solche Zwecke heteronom sein können, da sie der Kunst nicht nur zur Selbstbestimmung dienen, aber andererseits auch autonomen Charakter haben, weil sie von ihr selbst bestimmt werden, ist die Struktur solcher künstlerischen Praxis im Schillerschen Sinn heautonom zu nennen. (5)

Es ist schwer absehbar, was der als Paradigmenwechsel zu begreifende Übergang von der Autonomisierung zur Finalisierung im einzelnen bedeutet und ob er gelingt. In jedem Fall wird sich der bestehende Werkbegriff grundlegend wandeln, wenn der Zweck der Kunst statt in ihrer weiteren Autonomisierung nun in der selbstbestimmten Setzung anderer Zwecke liegt. Die Ergebnisse künstlerischer Praxis können nicht mehr autonome Werke sein, deren Qualität sich trotz all ihrer Offenheit weiter daran bemißt, wie sehr sie sich selbst genügen. Vielmehr wird das, was der Künstler hervorbringt, den Status eines Instruments, eines Werk-Zeugs annehmen müssen, das im Dienste allgemeiner ästhetischer Zwecke steht und im Unterschied zum autonomen Kunstwerk nicht primär sich selbst zum ästhetischen Zweck macht. Darum kann im öffentlichen Raum überhaupt nur zur Finalisierung tendierende Kunst funktionieren, während für rein autonome Kunst jeder öffentliche Anspruch eine Zumutung und jede externe Zweckgerichtetheit von vornherein einen Widerspruch darstellt.

Zwar erfolgt die 'Instrumentalisierung' der Kunst, die mit der postulierten Finalisierung einhergeht, allein in ästhetischer Absicht. Aber gerade vor dem Hintergrund der pauschalen Vernunfts- und Rationalitätskritik des neo-strukturalistischen Denkens ist die von der Frankfurter Schule differenziert formulierte, geradezu leitmotivhafte Kritik (6) am "instrumenteilen Handeln" umso ernster zu nehmen. Gegen sie ist auch die Kunst nicht mehr ohne weiteres gefeit, wenn ihre Rezeption infolge der Instrumentalisierung eine Form der Arbeit (7) wird und nicht mehr auf der seit dem 19. Jahrhundert als Ideal angesehen "kongenialen Einfühlung" basiert. Der gegen das "instrumentale Handeln" als Form rein "zweckrationaler Herrschaft, sei es über die Natur oder die Gesellschaft" (8), erhobene Vorwurf trifft die Kunst dennoch nicht eigentlich. Im Unterschied zu anderen Gesellschaftsbereichen kann sich das in der Kunst praktizierte "instrumentelle Handeln" nämlich nicht nach "technischen Regeln, die auf empirischen Wissen beruhen" (9), d.h. nicht nach dem Geist der Berechenbarkeit vollziehen. Das sich an einem Instrumentarium entfaltende, aber nicht in ihm erschöpfende Handeln entspricht eher dem "kommunikativen Handeln" (10) im Habermasschen Sinn. Denn es dient gerade nicht der Steigerung von Herrschaft, sondern führt - wie im Ansatz bereits bei Walther - dazu, daß der Künstler sein Privileg auf Werkproduktion preisgibt: Der Laie wird autorisiert, den Prozess der eigentlichen Werkbildung selbst vorzunehmen und zu verantworten. Auf diese Weise mag es in der Kunst gelingen, einen Typus des "kommunikativen Handelns" zu entwickeln, das einen instrumentativen Kern enthält und darum nicht "historisch zum Untergang verurteilt" (11) ist wie alles, das "gegen das Bewegungsprinzip der sozialen Evolution": die "Selbsterhaltung durch rationales Handeln" (12) verstößt.

II.)

Seit dem zwischen 1963 und 1969 entstandenen "1. Werksatz" spricht Walther ausdrücklich vom instrumentalen Charakter seiner Arbeiten. Der von ihm inzwischen weiterentwickelte, der Idee der Instrumentalisierung verpflichtet bleibende Kunstentwurf, ist als ein frühes Beispiel finalisierter Kunst zu betrachten. Die ihm zunehmend zuteil werdende Aufmerksamkeit und Wertschätzung mag auch damit zusammenhängen, daß im Zeichen postmoderner Kunstvorstellungen die Notwendigkeit der Finalisierung und Walthers wichtige Rolle in der Vorgeschichte finalisierter Kunst bewußt werden. Wenn seine bislang beispiellose Konzeption der Instrumentalisierung auch aus begrifflichen Überlegungen entstanden ist, so liegt ihr doch keine theoretische Argumentation, wie die hier entwickelte, zugrunde. Sie folgt vielmehr einer künstlerisch-praktischen Konsequenz, die im Ergebnis mit dem vorab skizzierten theoretischen Gedankengang wesentlich übereinstimmt.

Walthers künstlerische Praxis geht von der am Informel gewonnenen Idee aus, daß die Kunst von ihrem Entstehungsprozeß her zu denken sei. Er sucht nach einer künstlerischen Möglichkeit, das zu seiner Studienzeit als Stilrichtung vorherrschende Informelle so zu radikalisieren, daß es tatsächlich "das Ungeformte" bedeutet, "das Zurückgehen an den Anfangspunkt, wo noch nichts geformt ist, wo es sich erst zu formen beginnt". (13) Hierin liegt der Grund, warum Walther in seinen Arbeiten am Anfang der 60er Jahre bestrebt war, all das zu vermeiden, was - wie etwa der illusionistische Gebrauch der Mittel - künstlerische Formentscheidungen erzwingt. Statt Papier nur als Grundfläche zur Erfindung subjektiver Formen zu verwenden, erkennt er dessen spezifische Qualitäten als quasi objektives Formpotential, das er auf elementare Weise etwa durch Klebungen, Abrisse und Durchtränkungen ausschöpft. Zwangsläufig entsteht dabei eine - wenn auch zunächst nur minimale reale Dreidimensionalität, die den Eigenwert des Materials als Gestaltungsmittel noch stärker ins Spiel bringt. Von der Notwendigkeit, künstlerische Formentscheidungen im konventionellen Sinn treffen zu müssen, wird Walther durch den Zufall befreit: Ein zur Beschwerung von Papierklebungen mit Wasser gefüllter Eimer war undicht und das durchfeuchtete Papier veränderte sich bei der Trocknung in verschiedenartigster Weise. Durch dieses Mißgeschick entdeckte Walther das Prinzip, bei Materialien selbsttätige Formungsprozesse herbeizuführen. Fortan hat er die Beschaffenheit des Papiers und die darauf einwirkenden Bearbeitungsweisen gezielt so ausgewählt, daß beide zusammen, aufeinander reagierend, selbst formbildend werden.

Diese bereits 1962 ins Werk gesetzten, von der späteren Prozeßkunst verabsolutierten Materialprozesse sprengen zunehmend die Form des Bildes und expandieren derart, daß dieses mehr und mehr zum Objekt wird. Im natürlichen Umgang mit diesen Objekten, der während und nach ihrer Entstehung nicht ausbleibt: im zunächst absichtslosen Stellen, Stapeln oder Legen entdeckt Walther bald eine ihnen angemessene Rezeptionsweise von allgemeiner Gültigkeit. Indem er seine Arbeiten zunehmend bewußt unter dem Aspekt einer möglichen Hantierung durch den Rezipienten konzipiert, wird ihr instrumentaler Charakter verstärkt. Damit entdeckt Walther nach den Materialprozessen nun als ein weiteres künstlerunabhängiges Formungsprinzip die Handlungsprozesse des Rezipienten. Dessen Aktivitäten müssen sich nun nicht mehr auf die Aneignung vorgegebener Werke beschränken.

In den benutzbaren Objekten des daraufhin entstandenen "1. Werksatzes" ersetzt Walther die naturgemäß begrenzte und bald erschöpfte Selbsttätigkeit der Materialprozesse durch die im Prinzip unendliche Selbsttätigkeit des Rezipienten. Daß mögliche Veränderungen, die seine Arbeiten im Prozeß ihrer Rezeption erfahren, beabsichtigt und akzeptiert werden, bedeutet freilich nicht, daß der künstlerische Formgedanke der Beliebigkeit geopfert wird. Ganz im Gegenteil erklärt Walther "Formung ..." zu einem der Begriffe, "um deren Verwirklichung sich (die) ganze Arbeit dreht". (14) Gerade wegen der zentralen Bedeutung, die er der Form beimißt, will er als Künstler nicht mehr geschlossene, autonome Formgebilde, sondern offene, funktionale Instrumente schaffen, die es dem Rezipienten ermöglichen, selbst Formungsprozesse zu vollziehen.

Indem F. E. Walther den Laien zum eigentlichen Subjekt der Formung macht, verändert er den traditionellen künstlerischen Material- und Werkbegriff in grundlegender Weise. Alles, was für den Handelnden beim Gebrauch der "Objekte" wichtig ist: seine Zeit, sein Denken, seine Wahrnehmungen, Phantasien, Emotionen, ... kann als Gegenstand der Formung zum Material seines letztlich allein mental existierenden WERKES (15) werden. Da die 'Materialien' eines derartigen WERKES zwar überaus real für den Handelnden, nicht aber von stofflicher Beschaffenheit sind, kann es nicht mehr im klassischen Sinn als unauflösliche Einheit von "dinglichem Unterbau" und "ästhetischem Oberbau" (16) begriffen werden. Die einstige Werkeinheit ist zerfallen in einem vom Künstler hervorgebrachten dinglich-materialen Teil, der für das WERK 'nur' instrumentale Funktionen hat, und einen vom Rezipienten gedanklich auszuformenden mental-immateriellen Teil, dem das eigentlich Ästhetische, nämlich die Werkhaftigkeit zukommt. Das der Avantgardekunst vor allem als Mittel für ihre Autonomisierung dienende Werk, ist nunmehr an den Rezipienten als Aufgabe delegiert und damit zu einem heautonomen Zweck der finalisierten Kunst geworden.

Keinesfalls haben also die "Objekte" selbst Werkcharakter, sondern sie sind gleichsam Werk-Zeuge, deren gesamte Materialität funktional auf Benutzbarkeit hin organisiert ist und selbst keine beabsichtigten ästhetischen oder werkhaften Qualitäten aufweist. Sie sind nicht zum bloßen Anschauen gemacht, sondern zum haptischen Handeln, bei dem das Sehen nur sekundär ist. Der visuellen Wahrnehmung kommt bei diesen "Objekten" generell nur eine geringe Bedeutung zu: "Blindobjekt" beispielsweise ist der programmatische Titel einer wichtigen Arbeit aus dem "1. Werksatz", der insgesamt mit der überkommenen Fixierung und Reduzierung auf den Gesichtssinn als alleinigem Organ bildkünstlerischer Formerfahrung bricht. Nach dieser an Radikalität mit Duchamp vergleichbaren Überwindung des Retinalen in der Kunst vollzieht sich in Walthers Arbeitskomplexen der 70er Jahre: dem "2. Werksatz", den "Stand- und Schreitstücken", den "Sockeln" und vor allem bei der bislang unabgeschlossenen Werkgruppe der "Wandformationen", eine relativ abrupte Umorientierung.

III.)

Mit der 1970, also unmittelbar nach Beendigung des "1. Werksatzes" konzipierten, aber erst 1989 realisierten Arbeit "Sieben Orte für Hamburg", beginnt für Walther das, was er später seine "Wiederentdeckung des Optischen" (17) genannt hat, die ihm seitdem immer wichtiger geworden ist. Doch sind sowohl das Handlungsmoment als auch der damit direkt im Zusammenhang stehende andere Material- und Werkbegriff für die "Sieben Orte ..." gleichermaßen gültig wie für die früheren "Objekte". Es gibt im Prinzip keinen konzeptionellen Unterschied, da auch die "Sieben Orte ..." ausgesprochen instrumentell funktionieren und damit zur künstlerischen Überwindung der verabsolutierten Hermetik und Zweckfreiheit autonomer Kunst entscheidend beitragen, was die Arbeiten Walthers für den öffentlichen Raum geradezu prädestiniert. Auch schon im "1. Werksatz" sind nur die wenigsten der Objekte zur Benutzung in den geschlossenen Räumen etwa von Museen und Galerien geeignet, sondern funktionieren am besten im Außenraum. Doch die "Sieben Orte" sind die erste Arbeit Walthers, die eigens als "Kunst im öffentlichen Raum" gedacht ist und bei der es aus diesem Grund erstmals zu einer Veränderung des Materials und der beabsichtigten Handlungsprozesse gekommen ist: Im Gegensatz zu den transportablen und auseinanderfaltbaren "Objekten" aus Baumwollstoffen, sind die "Sieben Orte" aus Stahl und - was einen Vorgriff auf alle nach dem "2. Werksatz" entstandenen Arbeiten bedeutet - stationär konzipiert. Ohne die Erfüllung solcher behördlichen Mindestanforderungen hätte Walther weder die "Sieben Orte..." im Hamburger Innenstadtbereich, noch einen anderen Werkkomplex auf dem Oldenburger Universitätsgelände (18) realisieren können.

Die "Sieben Orte" eröffnen nicht nur innerhalb des Waltherschen Gesamtwerkes, sondern auch für die "Kunst im öffentlichen Raum" neue Möglichkeiten. Die Arbeit erfüllt bereits umfassend den von J.-C. Ammann erst zwei Jahrzehnte später formulierten Anspruch, daß "radikal gesehen ... ein im öffentlichen Raum arbeitender Künstler den Punkt anstreben (müßte), in welchem sein Werk als solches gar nicht mehr in Erscheinung tritt." (19) Da aufgrund des anderen Begriffs vom Werk dieses als Gegenstand überhaupt nicht mehr existent ist, aber auch durch die materiale Beschaffenheit der "Sieben Orte...", wird Walther diesem Postulat gerecht. Die Arbeit besteht aus sieben l cm dicken, quadratischen Stahlplatten, die eine auf die Körpergröße bezogene Seitenlänge von 180 cm haben. Die Platten sind an sieben verschiedenen Orten der Hamburger Innenstadt so ausgelegt worden, daß sie sich auf einem Höhenniveau mit der jeweiligen Umgebung befinden. In einem langwierigen Entscheidungsprozeß erfolgte die ein wesentliches Moment dieser Arbeit ausmachende Auswahl der sieben für Hamburg charakteristischen Orte. Sie erschließen sich in einem etwa einstündigen, fast kreisförmigen Rundgang, der neben der Kunsthalle beginnt und in nordwestlicher Richtung wenige hundert Meter entfernt an der Lombardsbrücke endet. Beim ersten Rundgang sollten alle sieben Orte in der von Walther vorgesehenen Reihenfolge aufgesucht werden, um die aus einem bestimmten Rhythmus zwischen Gehen, Stehen und Schauen, sowie einer Abfolge verschiedener Umgebungen bestehende Gesamtgestalt der Arbeit erfahren zu können. Erst wenn sie der Vorstellung vollständig präsent ist, kann es sinnvoll sein, sich jeweils an einzelne Orte zu begeben.

Auf Mitte, dicht am Rand einer jeden Stahlplatte ist ein zentraler Begriff aus dem Werkzusammenhang Walthers in einer 7 cm hohen Antiqua-Schrift eingraviert. Dieser Schriftzug gibt dem Betrachter, der die Stahlplatten als Standflächen benutzen soll, eine bestimmte Ausrichtung: Um den Begriff im Blick zu haben, stellt sich der Betrachter an der gegenüberliegenden Seite in der Mitte auf. Keiner der sieben Begriffe: ORT, RICHTUNG, KOERPER, INNEN-AUSSEN, BEWEGUNG, RAUM, ZEIT ist in irgendeiner Weise beschreibend gemeint, weder hinsichtlich der Umgebung noch des Handelnden oder gar der jeweiligen Platte. Vielmehr benennt jeder Begriff einen bestimmten Aspekt, den der Handelnde dort, wo er gerade Stellung bezogen hat, für sich thematisieren kann. Indem er seine Aufmerksamkeit vor allem auf einen dieser Aspekte konzentriert, bekommen seine Wahrnehmungen eine ganz eigene Dimension. Dem zufälligen Passanten dagegen wird die Arbeit wohl entweder ganz entgehen, oder in ihrer Bedeutung verschlossen bleiben.

Daß die "Sieben Orte..." nicht selbst als Gegenstand der ästhetischen Betrachtung gemeint sind, macht ihren instrumentalen Charakter aus. Der Blick des Handelnden soll nicht ihnen als Objekten gelten, sondern sich nach außen auf die umgebende Architektur und nach innen auf ihn selbst richten. Die Arbeit funktioniert wie ein Medium, da absichtlich keine werkhaften ästhetischen Reize dargeboten werden. Durch ihre Unscheinbarkeit löst sich bei den "Sieben Orten" zumindest eines der bisher unauflöslich scheinenden Probleme von "Kunst im öffentlichen Raum". Die Arbeit kann nicht in Konflikt mit der umgebenden Architektur geraten, weil sie keinen autonomen Werkanspruch verkörpert. Das Dilemma, das Werk und Architektur entweder harmonieren sollen und sich gegenseitig relativieren oder aber im Fall der Nicht-Integration künstlerisch gegeneinander konkurrieren und sich destruieren, entsteht hier gar nicht erst.

Zur Architektur wird der uns umgebende prinzipiell unendliche Raum erst durch die gebaute "Ausgrenzung bestimmter Räume" (20), wobei insbesondere die "Gestaltung ihrer Grenzen" (21) wichtig ist, um Räume gestalthaft zu erfahren. Diese Begrenzungen können baulich so beschaffen sein, daß die Architektur selbst mitsamt ihrer Raumumgebung "eine als Bild faßbare und einprägsame Eigentümlichkeit (22) bekommt, wie es sich etwa an gelungenen italienischen Plätzen eindrucksvoll zeigt. Die dem Raum architektonische Gestalt gebende Begrenzung kann aber auch durch den bloßen Blick erfolgen, so wie etwa in der Fotografie durch die Wahl eines bestimmten Ausschnittes irgendetwas zum Bild wird. In einer vom Künstler vor-gesehenen Weise begrenzen die "Sieben Orte..." den Blick, indem sie ihm eine besondere Richtung geben. Darüber hinaus bringen sie den Handelnden inmitten der Unrast des unterbrochenen Verkehrsflusses zum Innehalten. Als Inseln der Ruhe und Konzentration ermöglichen sie ihm den Aufbau einer subjektiven Beziehung zum architektonischen Raum. Indem mit dieser Subjektivierung eine weitere Focussierung der Wahrnehmung einhergeht, kommt es zu einer skulpturähnlichen Raumformung. Die Umgebung wird zum Gegenstand der ästhetischen Erfahrung.

Anstatt daß sich Architektur und Kunst gegenseitig zu instrumentalisieren drohen, dienen die "Sieben Orte..." der Imagination des Handelnden als Instrument zur gestalthaften Aneignung der architektonischen Umwelt. Eine derart skulpturale Vorstellung kann sich jedoch nur bilden, wenn sie tatsächlich intendiert wird. Ohne einen bewußten Bezug auf den Kunstzusammenhang sowie die spezifischen Begriffsbildungen und Problemstellungen im Bereich der Skulptur kann der Handelnde keine Vorstellungsfigur von solcher Plastizität entwickeln, die ihn den architektonischen Raum an jedem der "Sieben Orte" gleichsam als einen imaginären, inneren Platz erleben läßt. Der Autor dieses erst im Bewußtsein entstehenden WERKES, das der Architektur als stofflicher und des vom Künstler geschaffenen Instrumentariums als formaler Voraussetzung bedarf, ist der Handelnde. Gelingt es ihm im Idealfall, über die architektonische Räumlichkeit hinaus auch seine eigene Körperlichkeit als Formungsmoment miteinzubeziehen, wird er mit dem WERK identisch und er selbst ist die Skulptur.

Michael Lingner, geb. 1950

Professor für Kunsttheorie an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg

Anmerkungen:

(1) Zu der historischen Entwicklung genauer siehe M. Lingner: Zur Konzeption künftiger öffentlicher Kunst. In: V. Plagemann (Hrsg.): Kunst im öffentlichen Raum. Köln 1989; vor allem aber M. Lingner: Kunst als Projekt der Aufklärung jenseits reiner Vernunft. In: M. Lingner (Hrsg.): das Haus in dem ich wohne. Die Theorie zum Werkentwurf von Franz Erhard Walther. Klagenfurt 1990

(2) Der Begriff wurde von A. B. Olivia eingeführt.

(3) A. Wildermuth: Die neue ästhetische Autonomie. Reflexionen zu Mimmo Paladino. Im Katalog der Kestner-Gesellschaft. Hannover 1981. S. 21

(4) Zum Begriff der Finalisierung in der Kunst siehe: M. Lingner / R. Walther: Paradoxien künstlerischer Praxis. In Kunstforum International Bd. 76-1984 und eine überarbeitete Fassung in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Bd. 32-1987

(5) F. Schiller: Theoretische Schriften Bd. I. München 1966. S. 181.

(6) Vgl. H. Brunkhorst: Die Welt als Beute, Rationalisierung und Vernunft in der Geschichte. In: W. van Reijen / G. Schmid Noerr (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost. "Dialektik der Aufklärung" 1947-1987. Frankfurt 1987.

(7) Zur Bedeutung des Begriffs der "Arbeit" für die künstlerische Produktion und Rezeption siehe M. Lingner / R. Walther: Paradoxien künstlerischer Praxis, a.a.O. (s. Nr. 4)

(8) J. Habermas: "Technik und Wissenschaft als Ideologie". Frankfurt 1968. S. 49

89) J. Habermas a.a.O., S. 62

(10) Allein aus "der Intersubjektivität der Verständigung über Intentionen begründet" sich das kommunikative Handeln. J. Habermas a.a.O., S. 63

(11) Dieser Gedanke ist in jüngeren Forschungen zur Frankfurter Schule herausgearbeitet worden. Vgl. H. Brunkhorst: Die Welt als Beute, Rationalisierung und Vernunft in der Geschichte. In: W. van Reijen / G. Schmid Noerr (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost. "Dialektik der Aufklärung" 1947-1987. Frankfurt 1987. S. 181.

(12) H. Brunkhorst a.a.O., S. 181

(13) M. Lingner / F. E. Walther: Zwischen Kern und Mantel. Klagenfurt 1985. S. 24.

(14) M. Lingner / F. E. Walther a.a.O., S. 164

(15) Die Schreibweise "WERK" steht für das mentale, immaterielle Werk, dessen Begriff theoretisch eingeführt hat M. Lingner: Funktionen der Diagramme für das WERK. Kunstforum International Bd. 15-1976

(16) H.-G. Gadamer: Zur Einführung. In M. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1960. S. 114

(17) M. Lingner: Die Wiederentdeckung des Optischen. Gespräch mit F. E. Walther über seine "Sockel"-Arbeiten. Katalog F. E.Walther: 40 Sockel. Kunstraum München 1982. S. 7.

(18) Zum Oldenburger Projekt siehe POIESIS 4-1984. S. 9ff. Hier berichtet Rudolf zur Lippe ausführlich über die Schwierigkeiten, die Ausschreibungsbedingungen so umzuformulieren, daß das Walthersche Projekt auch rechtlich möglich wurde.

(19) J.-C. Ammann in PARKETT Nr. 2-1984. S. 9

(20) L. Gerdes: Zur Trialektik von Platz, Kunst und Öffentlichkeit. In Kunstforum International Bd. 81-1985. S. 134

(21) L. Gerdes a.a.O., S. 134

(22) L. Gerdes a.a.O., S. 134


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