ask23 > Lingner, Pompesius: Die "Aufklärung" als Nullsummenspiel

Michael Lingner, Iris Pompesius

Die "Aufklärung" als Nullsummenspiel

Zur Ausstellung EUROPA 1789. AUFKLÄRUNG, VERKLÄRUNG, VERFALL Hamburger Kunsthalle, 15. September bis 19. November 1989.

Dürfen wir einer tonangebenden europäischen Kunstzeitschrift (Pan) glauben, so wird "einem breiteren Publikum ... allmählich klar: Ausstellungen zu konzipieren und zu realisieren ist eine eigenständige künstlerische Leistung." Diese Einschätzung macht es möglich, ja sogar notwendig, nicht mehr nur über die ausgestellte Kunst zu reflektieren, sondern gerade im Blick auf die zeitgenössische Kunst, die immer häufiger mit Strategien der Präsentation operiert, sich auch und vor allem mit der Kunst des Ausstellens auseinanderzusetzen. Dazu bietet die neueste und auch profilierteste Produktion vom Hamburger Kunsthallendirektor Werner Hofmann einen wichtigen Anlaß.

In der Hamburger Ausstellung zur Französischen Revolution hängen die Bilder dicht an dicht, über- und nebeneinander, fast wie in den vorrevolutionären Salons. Obwohl kleinformatige Stiche und Zeichnungen überwiegen, sind diese präsentiert, als ob es auf ihre Einzelheiten nicht besonders ankäme. Die Gruppierung, die sie bilden, werden von wenigen, exponiert plazierten Ölgemälden mit ihrer Farbigkeit und Größe beherrscht. Durch die Hängung werden diese als bloßer, zu oberflächlicher Betrachtung verleitender Blickfang eingesetzt. Darum können sich keine ästhetischen oder auf künstlerische Intentionen eingehende Dialoge zwischen den unterschiedlichen Arbeiten entwickeln, zumal sie rein rational nach ikonographischen Gesichtspunkten ausgewählt und geordnet sind. Weil die so entstandenen thematischen Komplexe zusätzlich mit formelhaften und didaktisierenden Titeln wie "Das Erwachen aus der Unmündigkeit" oder "Die Enthemmung der Sitten" etikettiert sind, erfährt jedes der Kunst eigentlich gemäße Anschauen und Deuten eine weitere begriffliche Einschränkung und Präformierung. Daß die Wahrnehmung derart gegängelt wird, verhindert die Möglichkeit, hier Kunst auch ästhetisch erfahren zu können.

Es ist die erklärte und in dieser Ausstellung überaus konsequent verfolgte Absicht von Werner Hofmann, sich der Bilder rein illustrativ zu bedienen. Er läßt sie nicht durch sich selbst argumentieren, sondern argumentiert mit ihnen als Belegmaterial zur Erläuterung eines eigentlich sich schon selbst genügenden wissenschaftlich erarbeiteten Konzepts, das im Katalog in einer umfassenden und differenzierten Weise entfaltet und begründet wird. Es beruht auf einem dualistischen Grundprinzip, das allerdings in der Ausstellung zu schlichten Kontrastierungen wie "Die vermessene Welt" - "Die maßlose Welt" und "Die neuen Tugenden" - "Die alten Ängste" vereinfacht wird. Solche Reduzierung auf wenige Polaritäten macht zwar die Auffindung und Zuordnung des Bildmaterials für den Ausstellungsmacher leichter. Aber nur um den Preis einer großen Beliebigkeit, so daß die Ausstellung im Unterschied zum Katalog kaum die Vielschichtigkeit jener geistigen und politischen Veränderungen zwischen 1751 und 1815 erfassen kann. Die Ausstellung, für die das eigentlich nur in begriffliche Diskurse umsetzbare wissenschaftliche Konzept auf seine Illlustrierbarkeit hin zurechtgestutzt wurde, kommt deswegen dem Interesse an theoretischem Erkenntnisgewinn ebensowenig entgegen wie dem Bedürfnis, ästhetische Erfahrungen zu machen.

Der bis heute unzweifelhaft wirksame aufklärerische Kern der Revolution wird auf der Streckbank der Polarisierungen, wie sie sich mit der Gegenüberstellung von "Verklärung" und "Verfall" im Ausstellungstitel schon ankündigen, bis zur Unkenntlichkeit relativiert. Durch die absolute Gleichsetzung all dessen, was an der Revolution als positiv bzw. negativ zu werten ist, erscheint das Projekt Aufklärung gleichsam als Nullsummenspiel der Geschichte. Wer die Vernunft zur neuen Religion macht und sich von der Durchsetzung des Vernunftprinzips den Anbruch des goldenen Zeitalters, also statt der jenseitigen nun die diesseitige Erlösung erhofft, kann letztlich nichts anderes als das Scheitern der Aufklärung in den Blick bekommen.

Daß die Ausstellung dennoch nicht nur akzeptiert, sondern von allen Kritikern überaus positiv besprochen wurde, mag mit ihrem epochalen Thema und mit der Ehrfurcht vor der unzweifelhaft großen wissenschaftlichen und organisatorischen Leistung Hofmanns und seiner Mitarbeiter zu tun haben. Aber es hängt sicher auch mit dem spektakulären Gesamteindruck der Ausstellung zusammen, der auf Hofmanns Entschluß zurückgeht, ganz bewußt "die thematische Gliederung inszenatorisch zu überhöhen". Die drei Ausstellungsbereiche: die der "Aufklärung" gewidmete Rotunde, die der "Verklärung" geweihte Kuppel und der den "Verfall" zelebrierende Napoleon-Saal sind jeweils wie Bühnenbilder inszeniert. Mit viel Aufwand in einer durchgängig mittenbetonten, symmetrischen Herrschaftsarchitektur gebaut, die nicht aus der Perspektive des wandernden Blicks, sondern 'von oben' entworfen wurde, kommen statt revolutionärer viel eher restaurative und sakrale Vorstellungen auf.

In diesem von Hofmann selbst so beschriebenen "pseudoreligiösen Pasticcio" herrscht überall eine weihevoll andächtige Atmosphäre, die im Napoleon-Saal eine schwülstige Überhöhung erfährt (Abb. 4b). Durch die rundum verbreitete gleiche Grundstimmung wird sogar die Unterscheidung der drei Hauptthemenbereiche erschwert und erst recht jede der begrifflich zugespitzten thematischen Polarisierungen emotional völlig verwischt. Daß diese in inhaltlicher und intellektueller Hinsicht nicht differenziert, sondern durch Entschärfung verflacht wurden, steigert die formale und ästhetische Wirkung der an Effekten reichen Ausstellungsarchitektur. Sie verselbständigt sich gegenüber den ausgestellten Objekten und operiert mit ihnen als attraktiven Details, um sich selbst zum Gesamtkunstwerk zu erhöhen. Die ausgestellte Kunst geht in die Ausstellungskunst ein, welche als ästhetizistische Makrostruktur die auf der Ebene der künstlerischen Mikrostruktur verlorengegebene Möglichkeit zur ästhetischen Erfahrung kompensieren soll.

Seit der Französischen Revolution und der von ihr gleichermaßen ermöglichten und erzwungenen künstlerischen Autonomie sagt Kunst in allererster Linie etwas über Kunst aus und ist nurmehr gebrochen durch diese Selbstreflexion auch auf anderes hin interpretierbar. Eine Kunst-Ausstellung zur Revolution von 1789 hätte deswegen vor allem "die ästhetische Revolution in der Kunst" zeigen müssen, wie sie F. Schlegel 1795 mit seiner für die Romantik programmatischen Schrift Über das Studium der griechischen Poesie gefordert und eingeleitet hat. Statt diesen Aspekt unter dem Motto "Das neue Selbstbewußsein der Künstler" hauptsächlich an Selbstporträts der Künstler lediglich zu illustrieren, wäre es dem Thema adäquater gewesen, die wesentlichen revolutionären Entwicklungsschritte der modernen Kunst anhand exemplarischer Werke bis in die Revolutionszeit zurückzuverfolgen.

Oder aber die Kunsthalle hätte es gewagt, anstatt ein Architekturbüro und "Studio Hamburg" für die Ausstellungsarchitektur zu engagieren, das gesamte zum jetzigen Anlaß zusammengetragene Bildmaterial an Künstler zu übergeben wie Siah Armajani, Christian Boltanski, Braco Dimitrijevic, Ludger Gerdes, Hans Haacke, Niek Kemps, Jeff Koons, Ange Leccia, Gerhard Merz, Reinhard Mucha, Bernhard Prinz oder etwa Haim Steinbach ... Sie sind auf eine je ganz unterschiedliche Weise Experten für die Erarbeitung von Präsentationsformen, die authentische Kunsterfahrung ermöglichen, so daß ihnen möglicherweise eine Ausstellung über die Revolution und zugleich das Beispiel einer revolutionären Ausstellungskunst hätte gelingen können.


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