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Michael Lingner

Zur Konzeption künftiger öffentlicher Kunst

Argumente für eine Transformierung ästhetischer Autonomie

Zum Zeichen des kulturellen Neuanfangs sind bereits 1950 vom Bundestag die sogenannten »Kunst-am-Bau«-Richtlinien verabschiedet worden, um die im Dritten Reich geächtete und verfolgte moderne Kunst öffentlich zu rehabilitieren. Wo immer in der Bundesrepublik seither Werke des 20. Jahrhunderts nicht an ihren herkömmlichen Schauplätzen - den Museen, Kunstvereinen oder Galerien - zu sehen sind, handelt es sich zumeist um Ergebnisse solch staatlich geförderter »Maßnahmen zur künstlerischen Ausgestaltung öffentlicher Gebäude« (1). Obwohl diese Auftragswerke, gerade weil sie in und vor der Öffentlichkeit sich als Kunst zu beweisen haben, allzuoft von prätentiöser Penetranz sind, führen die meisten doch nur ein Schattendasein - jedenfalls was ihre gesellschaftliche Akzeptanz betrifft. Immer wieder wird solchen Projekten Verschandelung und Geldverschwendung vorgeworfen, was indes nur äußerst selten dazu geführt hat, daß die Entscheidungen der bestellten Experten revidiert und künstlerische Arbeiten wieder aus der Öffentlichkeit entfernt wurden.

Daß ihre Gegner sich meistens nicht durchsetzen konnten, ist vor allem wohl dem Nimbus von Progressivität zu verdanken, der die moderne Kunst besonders in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg umgeben hat. Zwar wurde sie deswegen noch längst nicht allgemein akzeptiert, zumindest aber doch - wie widerwillig auch immer - respektiert. Spätestens seit im Zeichen der Postmoderne die Fortschrittsideologie mit massiver Kritik bedacht wird, ist dieser Nimbus jedoch stark verblaßt. Der ohnehin schon durch die dauernden avantgardistischen Erweiterungen und Infragestellungen des Kunstbegriffs gefährdete Respekt vor der modernen Kunst - sei es ein richtig oder ein falsch verstandener - scheint nunmehr gänzlich zu schwinden. Vandalistisches Verhalten gegenüber den der Öffentlichkeit ausgesetzten Werken wird um so häufiger, je weniger diese auch nur rein äußerlich noch konkurrieren können mit dem Prunk und Protz der attraktiven Architekturen und faszinierenden Inszenierungen, mit denen viele Innenstädte im letzten Jahrzehnt mehr und mehr zu umsatzoptimierenden Verkaufslandschaften durchgestylt worden sind.

Ohne daraus etwaige Maßstäbe künstlerischer Qualität ableiten zu wollen, läßt sich angesichts der Realität dieses perfekt funktionierenden Warenästhetizismus nicht leugnen, daß es im Unterschied dazu den allermeisten Kunstwerken der Moderne bisher im Außenraum nicht gelungen ist, Öffentlichkeit zu schaffen oder irgendwelche anderen öffentlichen Funktionen zu entfalten.

I.

In der deutschen Frühromantik am Anfang des 19. Jahrhunderts suchte die Kunst sich endgültig aus ihren traditionellen höfischen, kirchlichen und ständischen Funktionszusammenhängen zu befreien. Ausgehend von diesen Anfängen ökonomischer und institutioneller Unabhängigkeit, hat sich die Entwicklung der modernen Avantgardekunst als Prozeß immer weitergehender Autonomisierung vollzogen. Aufgrund dieses unumkehrbaren historischen Verlaufs kann Kunst nicht mehr zugleich auch als Altarbild oder Herrscherporträt, sondern nur noch ganz und gar als Kunst existieren oder aber macht überhaupt keinen Sinn mehr. Um weiterbestehen zu können, muß sie sich deshalb ganz auf die Selbstdefinition und höchste Steigerung ihrer künstlerischen Qualitäten konzentrieren.

Dazu ist es erforderlich, daß sich die Kunst von allen äußeren, kunstfremden Zwecken freihält und nur mehr - so Kants klassische Formulierung - einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« (2) gehorcht. Ihre Zweckmäßigkeit kann dann nur noch darin bestehen, die Möglichkeiten ihrer eigengesetzlichen Entwicklung zu wahren und zu erweitern. Strebt die Kunst danach, möglichst von nichts Außerkünstlerischem mehr bestimmt zu werden, so kann sie sich freilich nicht länger vorgegebener Inhalte und Formen bedienen, sondern muß diese erst selber hervorbringen. Weil es hierzu der höchst individuellen und zunächst rein persönlichen Erfindung des Künstlers bedarf, wird die um der »unendlichen Potenzierung« (3) ihrer künstlerischen Kräfte willen sich als Selbstzweck setzende autonome Kunst zu einem »Medium der Selbstbestimmung und Selbstfindung freier Subjekte« (4).

Autonome Kunst, die aus der notwendig hermetischen Wechselbeziehung zwischen ihrer Eigengesetzlichkeit und der Subjektivität des Künstlers lebt, ist in Produktion und Rezeption auf den Freiraum der Privatheit angewiesen. Obwohl sie selber immer wieder versucht, ihre autonom entwickelten künstlerischen Qualitäten möglichst auch gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, ist gleichwohl jeder von außen kommende »öffentliche Anspruch an das (autonome) Kunstwerk eine Zumutung« (3), weil er letztlich zur Selbstaufgabe auffordert. Umgekehrt ist die moderne Kunst bis auf wenige Ausnahmen - zu denken ist beispielsweise an die Gruppe »De Stijl«, an Matisse, Le Corbusier, Matare - freilich auch eine Zumutung für die Öffentlichkeit geworden, wenn sie sich dennoch auf außerkünstlerische Ansprüche eingelassen hat. Insofern gibt es eigentlich - wie Martin Warnke konstatiert - »weder von Seiten der Kunst [...] noch von Seiten [...] des Publikums [...] einen substantiellen Bedarf nach einer Kunst im öffentlichen Raum« (6). Ohnehin sei es aus »historischer Sicht [...] undenkbar, daß der öffentliche Raum [...] von einer subjektiven, allein vom Künstler verantworteten Kunst bestückt sein könnte« (7).

Darüber hinaus befindet sich die autonome Kunst im Außenraum sogar unter günstigsten Voraussetzungen in einem unauflöslichen künstlerischen Dilemma. Gerade wenn sowohl das öffentlich plazierte Kunstwerk wie die es umgebende Architektur zu den besten Beispielen ihres Praxisbereiches gehören, werden sich ihre ästhetischen Qualitäten jeweils nur in äußerster Autonomie entfalten können und erfahren lassen. Eben deshalb sind nicht nur »beide nicht aufeinander angewiesen« (8), sondern relativieren einander künstlerisch um so mehr, je »besser« es gelingt, sie zu integrieren. Unterbleibt aber eine solche den bisherigen »Kunst-am-Bau«-Bestrebungen als Ideal erscheinende Integration zwischen Kunst und Architektur, so muß es aufgrund ihres je eigenen Anspruchs auf ästhetische Absolutheit zu einer künstlerisch destruktiven Konkurrenz zwischen ihnen kommen. Daß es trotz ständiger Beschwörungen »einer stärkeren Integration von Kunst- und Bauwerk schon im Planungsstadium« (9) kaum eine tatsächliche Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Architekten gibt, ist ein Indiz für die strukturelle Unmöglichkeit, autonome Kunst und Architektur auf irgendeine künstlerisch überzeugende Weise in Beziehung zu setzen.

Da Kunst im öffentlichen Raum jedoch ohne architektonischen Bezug schlechthin unvorstellbar ist, kann dort das Problem der Unvereinbarkeit von Kunst und Architektur nicht wirklich gelöst, sondern höchstens auf eine unschöne Weise entschärft und verschleiert werden: Nur durch die Verringerung der künstlerischen Qualität der Kunst- und/oder Bauwerke, die einhergeht mit der Schwächung ihres Autonomieanspruchs, ist es erreichbar, daß die künstlerische Unvereinbarkeit weniger eklatant erscheint. Hierin liegt ein Grund dafür, daß sich ein ganz eigener Typus von »Kunst-am-Bau«-Künstlern herausbilden konnte, der nichts anderes als die epigonale Adaption und Verwertung fremder Formerfindungen betreibt. Die Folge ist, daß »die Geschichte derjenigen Kunst, die für den öffentlichen Raum gemacht worden ist, [...] besonders geringen, oder gar keinen oder ganz verzwickt widersprüchlichen Einfluß auf das ästhetische Selbstverständnis der modernen Kunst gehabt« (10) hat.

Da die bisherige »Kunst-am-Bau«-Konzeption weder für die Öffentlichkeit noch für die Kunst in irgendeiner Weise produktiv ist, muß sie insgesamt als völlig verfehlt gelten. Ihr Scheitern ist ein typisches Beispiel für die fatalen Folgen, die sich aus jeder Einmischung politischer Interessen in die Kunst ergeben. Es können dabei nichts anderes als »furchtbare Bastarde« (11) herauskommen, weil gesellschaftliche Probleme sich keinesfalls künstlerisch lösen lassen. Das trifft auch und erst recht auf politisch unbewältigte Probleme zu, wie es sie nach dem Krieg etwa aufgrund der Schuldgefühle gegenüber der modernen Kunst oder wegen der katastrophalen Wiederaufbauarchitektur gab: Denn statt Rehabilitierung erfuhr die Moderne als »Kunst am Bau« erneut eine Diskreditierung, und die Scheußlichkeiten der Nachkriegsarchitektur wurden nicht revidiert, sondern allenfalls ästhetisch kaschiert. Ihrem Wesen nach Formung, ist Kunst gerade nicht »Phantasie im Rohzustand« (12) und daher kein bloßes Mittel, dessen sich Politik oder Wirtschaft für außerkünstlerische, vermeintlich höhere soziale oder ökonomische Zwecke nach Bedarf bedienen dürfen. Vielmehr kann Kunst, solange sie in ihrer großen Tradition als »freie« Kunst steht, direkt »nur« künstlerischen Zwecken dienen und intentional allein das Bewußtsein über Kunst verändern. Jedenfalls ist sie zur Veränderung des wirklichen Daseins nur indirekt und manchmal, aber immer auf eine vom Künstler letztlich unbestimmbare Weise imstande.

Natürlich hat es von Anbeginn erhebliche künstlerische Vorbehalte gegen das bestehende »Kunst-am-Bau«-Programm gegeben. Aber die Bedenken richteten sich mehr gegen die künstlerische Qualität einzelner Projekte und haben sich nicht - wie es hier versucht wird - zur Formulierung einer prinzipiellen Position gegen »Kunst am Bau« verdichtet. Wenn schon die grundlegenden Konflikte zwischen Öffentlichkeit und autonomer Kunst zwar stets latent, aber ohne programmatische Folgen blieben, so hätte doch zumindest die frustrierende öffentliche Funktionslosigkeit längst zu tiefgreifenden konzeptionellen und praktischen Konsequenzen für die »Kunst am Bau« führen müssen. Daß es dazu bisher nicht gekommen ist, hängt eng mit der besonderen Bedeutung zusammen, die diese Funktionslosigkeit für die Entwicklung autonomer Kunst hat: Nicht zuletzt wegen der politischen Folgen der Französischen Revolution von 1789 ist die Kunst »aus dem Kreis der >nützlichen Künste< ausgeschieden« (13), weil sie sich der klerikalen und feudalen Fesseln entledigte und nicht mehr als Vermittlerin der göttlichen Sinnordnung oder des herrschaftlichen Ordnungssinns fungieren wollte und konnte. (14) »Wie andere Handwerke auch hätte die Kunst daraufhin aussterben können« (15), wenn sie nicht entdeckt hätte, daß gerade diese Funktionslosigkeit es ihr ermöglicht, unabhängig von den Ansprüchen der äußeren Realität, allein aus sich selbst, das Künstlerische viel reiner hervorzubringen. Um dieser Steigerung der künstlerischen Qualität willen hat sich die Avantgardekunst nicht gescheut, die Funktionslosigkeit zu ihrem wahren Wert und ihrer eigentlichen Funktion zu erklären.

Solange dieses Autonomieverständnis vorherrscht, gilt darum die Funktionslosigkeit als das entscheidende Kriterium für die künstlerische Qualität. Daß jedoch die Werke, gerade wenn sie diesem kunstimmanenten Maßstab genügen, im Außenraum scheitern müssen, darin besteht die unauflösliche Paradoxie der Kunst im öffentlichen Raum. Dabei ist dieses Scheitern an der Funktionslosigkeit, jedenfalls vom Standpunkt des Künstlerischen, gar kein Scheitern, sondern nichts anderes als die Notwendigkeit autonomer Kunst, sich kunstfremder Zweckbestimmung zu verweigern. Indem aber dieses »Scheitern« im öffentlichen Raum als künstlerisch notwendig apostrophiert wird, werden selbst die künstlerisch fragwürdigsten Gebilde allzuleicht gerechtfertigt und bis heute jeder kategorischen Kritik entzogen. (16)

Weil die autonome Kunst ihr gesellschaftliches Scheitern also nicht nur in Kauf nimmt, sondern darin geradezu ihre Selbstbestätigung findet, gerät sie zwangsläufig in Gegensatz zur Gesellschaft: »Nur noch einem selbstbestimmten, kunstimmanenten Wertmaßstab ausgesetzt [...] finden sich die Künste grundsätzlich in Opposition [...] gegenüber [...] der Gesellschaft.« (17) Denn die nach äußerster Zweckrationalität strebende bürgerliche Gesellschaft muß jede sich als Selbstzweck begreifende Betätigung wie einen Angriff auf ihre Ideale, ja ihre Existenz erleben. Wegen dieses Grundwiderspruchs kommt die Kunst gar nicht umhin, ihre Autonomie als etwas gegen die Gesellschaft Gerichtetes aufzufassen. Deswegen hat es ihr auch bislang genügen können, sich hinsichtlich ihrer Funktion in der Gesellschaft ausschließlich negativ, nämlich durch ihre gesellschaftliche Zwecklosigkeit zu definieren.

Selbst und gerade auch da, wo die autonome Avantgardekunst positive Utopien entwickelt, ja Gesamtkunstwerksvisionen zur Verbesserung der Welt verfolgt, handelt es sich allemal um Gegenentwürfe zur bestehenden Gesellschaft, welche die realen gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen ihre Verwirklichung überhaupt möglich wäre, negieren. Soweit sie nicht von vornherein als Omnipotenzphantasien gedacht sind, entstammen sie alle einer Einstellung des »Dennoch«; eines »Dennoch - bis zur heroischen Lächerlichkeit«, eines »Dennoch - bis zum anmaßenden Selbstopfer«. »Mit jeder pathetischen Geste des Dennoch« (18) »kritisiert [Kunst] die Gesellschaft durch ihr bloßes Dasein« (19). Nach dem zum Verzicht umgewerteten Verlust ihrer Brauchbarkeit hat sich die autonome Kunst in dieser Funktion »als eine Art kritische Außenstelle der Gesellschaft halten können« (20) und leistet in solcher »rigiden Distanz [...] vielleicht ihren wichtigsten gesellschaftlichen Beitrag« (21).

Andererseits hat diese Distanz, auch wenn sie im permanenten Protest gegen die Gesellschaft entstanden ist, für die autonome Kunstpraxis fatalerweise zur Folge, daß sie »die Gesellschaft, vor der ihr schaudert, auch unbehelligt« (22) läßt. Der theoretische Einwand gegen diesen »affirmativen Charakter« (23) der bürgerlichen Kultur, den vor allem Marcuse erhoben hat, ist von der gesellschaftlichen Praxis nur allzusehr bestätigt worden. Autonome Kunst vermag darum gerade nicht als kritische Instanz der Gesellschaft zu fungieren, was ihrem notorischen Widerspruchsgeist am ehesten entspräche und ihre einzig effektive Aufgabe im öffentlichen Raum sein könnte. Statt dessen ist auch unter dieser Perspektive zu konstatieren, daß »das traditionelle Konzept eigengesetzlicher Kunstproduktion [...] nicht geeignet ist für die generativen Kräfte der Kunst im öffentlichen Raum« (24).

II.

Freilich bedeutet die Durchsetzung des Autonomiegedankens in der Kunst seit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht die Aufhebung jeglicher Abhängigkeiten. Denn die politische Autonomie der Kunst, das heißt ihre ökonomische, funktionale, institutionelle Unabhängigkeit von der Gesellschaft, ist lediglich relativ (25), weil ihre Durchsetzung immer auch von der Persönlichkeit des Künstlers, insbesondere seiner Willenskraft, abhängt und seine Kunst in ihren generellen »Möglichkeiten stets vom System gesellschaftlicher Praxis« (26) begrenzt ist. Aus denselben Gründen ist auch die ästhetische Autonomie, das heißt die inhaltliche, formale, konzeptionelle Unabhängigkeit von der Gesellschaft, grundsätzlich nur relativ. Trotzdem ist die historisch tatsächlich erlangte politische und ästhetische Autonomie überhaupt nicht zu unterschätzen. Immerhin besteht sie in der Möglichkeit, aber auch der Verpflichtung des Künstlers, sich die politische und geistige Freiheit zur individuellen Aufhebung derjenigen soziokulturellen Bedingungen zu nehmen, die seine Kunst reglementieren oder korrumpieren könnten. Die durch den Gebrauch dieser Freiheit ermöglichte Autonomisierung hat jedenfalls zu einem fundamentalen Umbruch in der Kunst geführt.

In der Entstehungsphase der Kunstautonomie waren das Streben nach politischer und das nach ästhetischer Autonomie noch nicht geschieden, sondern haben sich in unauflöslicher Wechselseitigkeit ermöglicht und erzwungen. Die analytische Unterscheidbarkeit einer politischen und einer ästhetischen Komponente der Kunstautonomie hat sich erst aus der weiteren Entwicklung ergeben: Der zu erreichende Grad an politischer Autonomie ist weitgehend von der politischen Verfassung der Gesellschaft vorbestimmt. Sofern der Künstler nicht zum direkt politisch Handelnden werden will, kann er künstlerisch nur innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen agieren, was indirekt zu deren Veränderung beitragen mag. Während die politische Autonomie der Kunst sich durch die künstlerische Praxis mithin nicht prinzipiell ausweiten läßt, sondern bestenfalls bis an die Grenzen des je Möglichen individuell ausgeschöpft werden kann (27), ist die ästhetische Autonomie auf künstlerische Weise substantiell erweiterbar und hat sich denn auch seit ihren Anfängen dauernd gesteigert.

Die Steigerung der ästhetischen Autonomie geschah durch die Reduzierung jener gesellschaftlichen Einflüsse, die nicht nur die Kunst generell, sondern die einzelnen künstlerischen Entscheidungen in inhaltlicher, formaler und konzeptioneller Hinsicht betreffen. Welche gesellschaftlichen Erwartungen an die Kunst gerichtet und welche für sie derart problematisch wurden, daß sie sich von ihnen unabhängig zu machen suchte, das hat sich in den vergangenen zweihundert Jahren der Geschichte autonomer Kunst völlig verändert. Auch wenn in diesem Prozeß durchaus eine Logik und Fortschritte zu größerer Autonomie erkennbar sind, gibt es in seinem tatsächlichen Verlauf doch Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten, Vorgriffe und Rückbezüge auf frühere Stufen der Autonomisierung, ohne daß dieser Fortschritt die Kunst auf eine höhere Stufe geführt hätte als die der Möglichkeit ihrer Weiterexistenz. Zur Bestimmung des tatsächlichen gegenwärtigen Standes der Autonomisierung ist es erforderlich, einige ihrer wichtigsten Entwicklungsstufen idealtypisch zu skizzieren.

Am Anfang ist das künstlerische Autonomiestreben vor allem darauf gerichtet, die kirchlichen, höfischen und ständischen Vorschriften über die der Kunst geziemenden Zwecke und Inhalte aufzuheben. In der Malerei der Romantik gelingt es beispielsweise Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge, die Natur, wie sie sich in der »schönen Landschaft« offenbart, als neuen Inhalt der Kunst zu entdecken, der allein dem jenseits aller Nützlichkeit liegenden rein ästhetischen Zweck dient, »die Empfindung unserer selbst im Zusammenhang mit dem Ganzen« (28) zu erwecken. Zugleich aber wendet sich die romantische Kunsttheorie auch schon gegen die herrschenden gesellschaftlichen Geschmacksvorstellungen, wenn etwa Friedrich Schlegel die Berechtigung des Häßlichen in der Kunst damit begründet, daß »selbst in der höchsten Stufe der Häßlichkeit [...] noch etwas Schönes enthalten« (29) sei. Wirklich folgenreich für die bildenden Künste wird diese theoretische Argumentation dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um im 20. Jahrhundert in der Praxis durch bestimmte Kunstrichtungen, die sich des Häßlichen immer hemmungsloser bedienen, sogar weit übertroffen zu werden.

Gleich zu Beginn des Jahrhunderts ist es der Kubismus, der sich von der naiven Vitalität der Primitiven stark inspiriert zeigt. Jeder Gegenstand des kubistischen Bildes wird durch abstrahierende Darstellung so deformiert, daß er seine eigentliche Identität verliert, »um nur des Kunstwerks urinnerstem Einheitswillen [noch] zu gehorchen« (30). Was die kubistische Kunst zu ihrem Inhalt macht, existiert deshalb erst durch die künstlerische Umformung und kommt in der allgemeinen gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht vor. Insofern lebt das Kunstwerk nicht länger aus dem mimetischen Rückbezug auf die Realität, sondern kann den Anspruch erheben, eine davon unabhängige, eigene Wirklichkeit für sich zu sein, die anders als alle anderen Wirklichkeitsbereiche wesentlich ästhetisch organisiert ist. Um die Autonomie des Werkes gegenüber dem gesellschaftlich als wirklich Geltenden weiter zu steigern, ist es daher konsequent, wenn in der Folge der Konstruktivismus über die kubistischen Deformationen hinaus die Gegenstände der Außenwelt so stark geometrisiert, daß sie sich in reine Formen und Farben auflösen. Die damit erreichte Ungegenständlichkeit der Kunst bedeutet ihre absolute Befreiung von kunstexternen inhaltlichen Bestimmungen.

Die Kunst ist nun, nachdem der Konstruktivismus die alltäglichen Erscheinungen auf ihre gestalterischen Grundelemente reduziert hat, auch in formaler Hinsicht nicht mehr durch die Alltagswelt bestimmt. Selbst bei völliger Ungegenständlichkeit eines Werkes können die formal-künstlerischen Entscheidungen dennoch nicht in absoluter ästhetischer Autonomie getroffen werden. Da nämlich gesellschaftlich als Kunst nur das anerkannt wird, was gewisse morphologische Merkmale mit früheren Kunstformen gemeinsam hat, ist von diesen - ob bewußt oder unbewußt - letztlich jede subjektive formal-künstlerische Entscheidung abhängig. Erst seit Duchamp mit seinen Ready-mades exemplarisch gezeigt hat, daß sich als Kunst auch etwas behaupten und anschauen läßt, was nicht die Form des Tafelbildes oder der Sockelplastik hat, bilden diese traditionellen Grundformen der Kunst nicht mehr den obligatorischen Rahmen, in dem sich alle künstlerischen Entscheidungen zu bewegen haben. Vielmehr kann nun völlig frei entschieden werden, welche Formen als Kunst möglich sind.

Zwangsläufig haben solche Formentscheidungen sehr viel grundsätzlichere und weitreichendere Bedeutung als alle bisherigen, da sie das Kunstwerk nicht mehr bloß in seiner Erscheinungsweise betreffen. Denn wenn ein Objekt durch keinerlei morphologische Ähnlichkeiten mit traditionellen ästhetischen Gebilden sich noch als Kunstwerk ausweist, muß mit der Entscheidung über seine Form überhaupt erst seine Seinsweise als Werk der Kunst definiert werden. Dies aber geht über rein formalästhetische Erwägungen weit hinaus und ist nicht ohne konzeptionelle Überlegungen möglich, die grundsätzlich nach dem Wesen, der Idee oder dem Begriff von Kunst fragen. Daß sich die Kunst bei diesen Grundentscheidungen von den herrschenden gesellschaftlichen Kunstvorstellungen, -meinungen und -urteilen nicht einengen läßt, das macht ihre konzeptionelle Autonomie aus. Doch solange diese Autonomie nur in der Abwehr kunstexterner Beeinflussungen besteht, ist sie freilich eingeschränkt. Die Periode, in der die Kunst nach der inhaltlichen (Picasso) und formalen (Mondrian) diese konzeptionelle (Duchamp) Unabhängigkeit von der Gesellschaft gewinnt, wird gemeinhin als klassische Moderne bezeichnet. (31)

Da sich die Kunst in ihrem Streben nach konzeptioneller Autonomie immer auch selbst thematisieren muß, kann sie deren absolute Verwirklichung nur dadurch erreichen, daß sie ihren Anspruch auf Eigengesetzlichkeit nicht mehr nur gegen die Gesellschaft, sondern ebenso gegen sich selbst richtet. Will sie der Entwicklungslogik ihrer Autonomisierung weiter folgen und die absolute konzeptionelle Autonomie erlangen, muß sich die Kunst notwendig von ihrer Fixierung auf die Gesellschaft als bislang einzigen Widerpart ihres Autonomiestrebens lösen. Dieser neue Abschnitt der Autonomisierung ist durch die Paradoxie gekennzeichnet, daß die Kunst ihre Unabhängigkeit so wie bisher gegenüber der Gesellschaft nun gegenüber sich selbst durchzusetzen hat.

Die aus diesem Zwang zum Selbstwiderspruch entstehende Avantgardekunst reagiert mit dem Versuch einer andauernden Überwindung der eigenen Tradition. Nicht nur längst historisch gewordene künstlerische Positionen, sondern gerade die gegenwärtigen werden radikal in Frage gestellt, um sich von ihnen zu befreien. Dabei wird Geschichte nicht einfach negiert, sondern im dialektischen Sinne aufgehoben, nämlich bewahrt und überwunden zugleich, ohne daß dieser Entwicklungsprozeß, trotz immanenter Linearität und Logik, einen Fortschritt der Kunst bedeutete. Die zu immer weiterer Autonomisierung verdammte Avantgardekunst flieht ihre Geschichte ohne Ziel, wenn nicht diese Flucht selbst ihr Ziel und Zweck ist. Sie gleicht dem Herrn in Kafkas Erzählung »Der Aufbruch« (1922), welcher auf die Frage des Knechts, wohin er reite, antwortet: »Ich weiß es nicht, ... nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen«, und als der Knecht sagt: »Du kennst also dein Ziel«, nur zu erwidern weiß: »Ich sagte es doch: Weg von hier, das ist mein Ziel.«

Wie bei der vorangegangenen ästhetischen Autonomisierung der Kunst gegenüber der Gesellschaft, so gibt es im Prinzip auch bei diesem Prozeß, in dem die Avantgardekunst immer unabhängiger von sich selbst und ihrer Tradition wird, die Aufeinanderfolge inhaltlicher, formaler und konzeptioneller Phasen, die aber noch weniger als zuvor scharf voneinander zu trennen sind. Sie gehen nicht nur ineinander über, sondern verlaufen mit wechselnder Dominanz synchron, ohne wirklich zu alternieren. Aber um welchen Entwicklungsschritt in der Autonomisierung es sich auch handelt, immer hat das konzeptionelle Moment dabei eine entscheidende Bedeutung, weil jede avantgardistische Formentscheidung untrennbar mit der Reflexion und Umformulierung des Kunstbegriffs verbunden ist. Die autonome Avantgardekunst ist im Sinne Gehlens wesentlich »conceptuelle«, weil »der Begriff [...] im Nerv der malerischen Konzeption [...] sitzt«, so daß »die Reflexion, und zwar in ihrer begrifflichen, systematischen Form, bereits als Bestandteil des schöpferischen Prozesses zu gelten hat« (32).

Die aus solcher Selbstreflexion sich zunehmend ausbildende Selbstbezüglichkeit und Selbstgesetzlichkeit der Kunst hat diese dazu gebracht, ihre Inhalte, Formen und Ideen immer ausschließlicher aus sich selbst zu schöpfen. Als Momente einer Praxis, die sich zur »Kunst über Kunst« (33) und »Kunst aus Kunst« (34) entwickelt hat, formulieren sich künstlerische Aussagen über Mensch und Welt nur noch gebrochen durch die Selbstreflexion der Kunst. Aus dieser extremen ästhetischen Autonomisierung ergibt sich zwangsläufig, daß die Kunst nicht mehr nur für einzelne ihrer spezifischen Leistungen und Qualitäten, sondern auch für das, was sie sozial als »Ganzes« ist, selbst verantwortlich wird. Die Kunst ist zu einer »Eigengesellschaft« (33) geworden, die nicht mehr gesamtgesellschaftlich bedingt ist, sondern deren Gesellschaftlichkeit erst durch die Gesamtheit derer konstituiert wird, die kunstbezogen agieren - mag dieses Handeln mehr oder weniger Konsequenzen haben und von größerer oder geringerer Verantwortlichkeit sein.

Die Ausdifferenzierung der Kunst zu einer »Eigengesellschaft« bedeutet, daß es nun auch in der Kunst selbst gesellschaftliche Faktoren, also ökonomische, politische, institutionelle Interessen, Ansprüche, Erwartungen gibt, die nicht notwendig mit denen der Gesamtgesellschaft (bzw. denen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme) identisch sind. Ob sich die künstlerische Praxis gegenüber diesen eigentlich kunstexternen Bestimmungen, die nunmehr von der Kunst gleichsam internalisiert worden sind, mit ihren bisherigen Strategien der Autonomisierung wird behaupten können, ist freilich die große Frage. Einerseits droht ein Gebaren, bei dem künstlerische Entscheidungen - zumal wenn sie nicht mehr ausschließlich von Künstlern, sondern beispielsweise auch von Ausstellungsmachern, Galeristen, Journalisten getroffen werden - immer stärker und ausschließlicher im »eigengesellschaftlichen« Sinn ökonomischen, politischen, institutionellen Motiven gehorchen. Andererseits sind auch die unter dem umgekehrten Vorzeichen stehenden Reaktionen des bloßen Dagegenseins genausowenig absolut künstlerisch motiviert und richten sich zudem gegen die »eigengesellschaftlichen« Strukturen der Kunst, so daß sie eine Gefahr für deren Bestand bedeuten.

III.

Was bisher kunstimmanent als zunehmende Autonomisierung der künstlerischen Entscheidungen betrachtet worden ist, analysiert Niklas Luhmann aus soziologischer Sicht im Rahmen seiner systemtheoretischen Gesellschaftstheorie (36) als einen Prozeß, in dem die Kunst sich zu einem »autopoietischen Funktionssystem« (37) entwickelt hat. Damit wird der Kunst eine Form der Selbstorganisation attestiert, die ihr eine »autopoietische Selbstreproduktion« ermöglicht. Dieser Begriff (griech. poiesis = das Verfertigen, das Machen), der ursprünglich aus der Biologie stammt, wird auf soziale Systeme angewendet, wenn in ihnen »alles, was im System als Einheit funktioniert, [...] seine Einheit durch das System selbst [erhält]« (38). Dabei sind für Luhmann die Einheiten, aus denen das Kunstsystem besteht, spezifische Kommunikationsweisen - und nicht etwa die Werke, deren Einheit letztlich nur in ihrer »Funktion als Kommunikationsprogramm« (39) liegt. Während bisher »die Fortsetzbarkeit der Kunst in die Gesellschaftsstruktur eingehängt und dadurch garantiert war« (40), muß die Kunst ihr Überleben allein aus sich selbst heraus sichern, seitdem sie sich wie autopoietische, selbstreferentielle Systeme verhält, welche »die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen« (41) zu produzieren haben.

Über ihren rein theoretischen Gehalt hinaus verdeutlicht diese Formulierung die Zirkelhaftigkeit und damit den drohenden Leerlauf der Kunst auf der heutigen Höhe ihrer Autonomisierung. Zur Beschreibung dieses Zustandes hat Werner Hofmann an eine nicht speziell auf die Kunst bezogene Parabel Heisenbergs erinnert: »Mit der schier unbegrenzten Ausbreitung ihrer materiellen Macht kommt die Menschheit in die Lage eines Kapitäns, dessen Schiff so stark aus Stahl und Eisen gebaut ist, daß die Magnetnadel seines Kompasses nur noch auf die Eisenmasse des Schiffes zeigt, nicht mehr nach Norden. Mit einem solchen Schiff kann man kein Ziel mehr erreichen, es wird nur noch im Kreise gefahren ...« (42). Gut getroffen mit diesem Bild ist jedenfalls diejenige Kunst, die - auch nachdem sie ein autopoietisches System geworden ist - ihr bisheriges Bewegungsgesetz der Autonomisierung beibehält: Sich immer ausschließlicher »selbst als Medium verwenden[d]«, wird sie »in einer Art von logischem Kurzschluß kollabieren« (43). Denn zur autopoietischen »Eigengesellschaft« geworden, fehlt der von allen inhaltlichen und formalen Traditionen und sogar von ihrer eigenen konzeptionellen Selbstdefinition unabhängig gewordenen Kunst der notwendige externe Bezugspunkt zu ihrer weiteren Autonomisierung.

Autonom kann die Kunst dann lediglich noch gegenüber der von ihr bislang verfolgten Idee der Autonomisierung werden, wie es sich am Beispiel der als postmodern geltenden Kunst zeigt. Dem avantgardistischen Diktat, die Tradition innovativ überwinden zu müssen, beugt diese sich nicht, sondern bedient sich »unbekümmert« aller inhaltlichen, formalen und konzeptionellen Erfindungen der Kunstgeschichte, um »aus dem Konkurrenzkampf der Stile aus[zu]treten« (44). Durch Geschichtslosigkeit befreit sich die Postmoderne von dem der Autonomieidee innewohnenden Zwang, sich gegenüber den künstlerischen Entscheidungen und Werken der Vergangenheit autonom verhalten zu müssen. Doch indem sie autonom gegenüber dem bisherigen Konzept der Kunstautonomie wird, gewinnt sie zwar eine »neue ästhetische Autonomie« (45), bricht aber nicht grundsätzlich mit der Tradition der Moderne und ihrem Hang zur Autonomisierung.

Die postmoderne Kunst ist vielmehr als die letzte Stufe konzeptioneller Autonomie zu begreifen (46), nach der es keinen weiteren Schritt einer substantiellen Autonomisierung mehr gibt. Wenn nämlich die Kunst einmal autonom gegenüber ihrer ursprünglichen Idee der Autonomie geworden ist, dann macht jede darüber hinausgehende Autonomisierung (das heißt die Erlangung der Autonomie in bezug auf die gegenüber der Autonomieidee autonom gewordene Autonomie) keinen Sinn mehr. Indem mit der postmodernen Kunst die Negation des Autonomieprinzips erreicht ist, führt jede weitere Fortsetzung der Autonomisierung zur Negation der Negation und damit zwangsläufig zur Aufhebung dieses Prinzips. Die Kunst würde sich auf die Anwendung des immergleichen Prinzips ein für allemal fixieren und könnte aufgrund des verlorengegangenen Vermögens zur autonomen Selbstdefinition nur noch nach dem Mechanismus der Mode funktionieren und nicht mehr dem Gang des Geistes folgen. So gesehen ist das Ende des Prozesses der Autonomisierung der Kunst um der Erhaltung ihrer Autonomie willen notwendig.

Daß die Kunst mit der Durchsetzung und Ausschöpfung des Prinzips der Autonomisierung definitiv den ihre bisherige Entwicklung wesentlich bestimmenden Zweck erreicht hat, macht die tiefgreifende Krise ihrer Produktivität aus. Sie drückt sich sowohl in der Befürchtung Lyotards aus, daß in der Kunst womöglich »nichts [mehr] geschieht, daß es nicht mehr weitergeht, daß die Wörter, Farben, Töne fehlen« (47), als auch und vor allem in der Frage Luhmanns nach der »Fortsetzbarkeit von Kunst als eines sozialen Systems« (48). Es liegt nahe, die dieser Frage zugrundeliegende Argumentation für den Versuch eines theoretischen Ansatzes zur Begründung des möglichen Bewegungsprinzips der von mir postulierten postautonomen Kunst zu nutzen und im Zusammenhang mit den hier entwickelten Überlegungen weiterzudenken.

Wenn die Kunst, wie die moderne Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, als autopoietisches, selbstreferentielles System begriffen wird, ist das Verhältnis beider zueinander ganz anders als in der Vergangenheit aufzufassen. Während Adorno die Autonomie der Kunst noch als »Verselbständigung der Gesellschaft gegenüber« (49) beschrieben hat, wird sie von Luhmann als »Verselbständigung in der Gesellschaft« (50) verstanden. Kunst kann nun ihre spezifische Funktion »nur als Vollzug von Gesellschaft« (51) und nicht in einer »Gegenposition zur Gesellschaft« (52) erfüllen, weil sie »das Schicksal der modernen Gesellschaft gerade dadurch [teilt], daß sie als autonom gewordenes System zurechtzukommen sucht« (53). Integriert in die Gesellschaft, ist ihre »politische Funktion und Relevanz«, wie es in den 60er Jahren hieß, nicht länger danach zu bemessen, was sie für andere gesellschaftliche Bereiche zu leisten vermag, da es »gerade nicht die Funktion eines ausdifferenzierten Funktionssystems sein [kann], zu anderen Funktionsbereichen etwas beizusteuern« (54). Mit dem Status der Kunst als eines autopoietischen Systems ist es unvereinbar, daß sie ihr Selbstverständnis weiterhin im Blick auf andere gesellschaftliche Teilbereiche definiert. Darum kann sie sich prinzipiell weder durch die Negation gesellschaftlicher Ansprüche und Einflüsse noch durch eine negierende Haltung gegenüber ihrer eigenen Geschichte selbst bestimmen und autopoietisch reproduzieren. Denn nach der postmodernen Negation ihres bisherigen Autonomiestrebens führt eben jede weitere Negation zu nichts anderem mehr als zur Selbstaufhebung.

Ist die Kunst zur autopoietischen Selbstreproduktion verdammt, »weil sie sich anders nicht halten kann« (55), so steht sie vor der Notwendigkeit einer völligen Umorientierung im Sinne einer positiven Bestimmung ihrer selbst. Angesichts des mit diesem Perspektivwechsel verbundenen Risikos sind indes Zweifel angebracht, ob der Kunst »als Funktionsbereich die Ausdifferenzierung bekommt und ob ihm eine autopoietische Selbstreproduktion gelingen kann« (56). Dies wird wesentlich davon abhängig sein, ob sie einen anderen entwicklungsbestimmenden Zweck für sich zu finden weiß als den der Autonomisierung, der ihr immer nur eine negative Bestimmung auf die Gesellschaft und auf sich selbst hin erlaubt hat. Ist die Kunst im Prozeß der Autonomisierung an ein definitives Ende gekommen, so kann sie nicht mehr allein in ihrer eigengesetzlichen Entwicklung und in sich selbst ihren einzigen Zweck sehen. Vielmehr bedarf sie dann außerhalb ihrer selbst liegender heteronomer Zwecke, aus denen Bestimmungsgründe für ihre Fortexistenz und Weiterentwicklung zu gewinnen wären.

Aber auch nach dem Ende des Prozesses ästhetischer Autonomisierung ist die Autonomie der Kunst in dem Sinne zu wahren, daß die künstlerischen Entscheidungen prinzipiell in finanzieller, institutioneller und ideologischer Unabhängigkeit getroffen werden können. Die Kunst darf sich darum jene ihr nun unentbehrlichen heteronomen Zwecke nicht aufoktroyieren lassen, sondern muß sie aus sich selbst heraus autonom setzen. Auf den ihr nächstliegenden Zweck, die bloße Bestandserhaltung, sollte sie dabei freilich nicht verfallen, weil das Überleben um des Überlebens willen nichts als ein neuer und nicht einmal künstlerisch motivierter Selbstzweck wäre. Für die künstlerische Praxis bedeutet die Notwendigkeit der Zwecksetzung konkret, daß sie Außenperspektiven aufnimmt und mögliche, künstlerisch zu erfüllende Funktionen, die von allgemeinem Interesse sein können, als heteronome Zwecke erfindet oder bereits vorhandene sich zu eigen macht. Insofern diese Zwecke heteronom sind, weil sie der Kunst nicht nur zur Selbstbestimmung dienen, sondern auch autonomen Charakter haben, weil sie von ihr selbst bestimmt werden, ist die Struktur solcher künstlerischen Praxis durchaus im Schillerschen Sinn als heautonom zu begreifen. (57)

Die neuere Wissenschaftstheorie hat mit der Kategorie der »Finalisierung« (58) einen auf- und anschlußfähigen Terminus entwickelt, der auch auf die hier vorgeschlagene autonome Setzung heteronomer Zwecke anwendbar ist, da er einem vergleichbaren Problem entspringt: Die Kategorie der »Finalisierung« bezeichnet in der Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen einen bestimmten Entwicklungsschritt, von dem ab diese nicht mehr ausschließlich autonom den eigenen, immanenten Bedingungen folgen. Wenn sie aufgrund höchster Autonomie in ihrer Grundlagenforschung ein Stadium der »theoretischen Reife« erreicht haben, können und müssen sie sich zum Leitfaden ihrer weiteren Theoriebildung außerwissenschaftliche Zweckorientierungen wählen, »ohne [damit] doch mit der überkommenen Kategorie der angewandten Forschung< adäquat beschreibbar zu sein« (59). Auch die Kunst ist inzwischen zu einer umfassenden Selbstvergewisserung und Verfügbarkeit ihrer inhaltlichen, formalen und konzeptionellen Grundlagen gelangt. Dieses durch Erschöpfung ihres innovativen Potentials gezeichnete Stadium erlaubt es, der Kunst - analog zum Stand der Wissenschaft - grundlagenpraktische Reife als die Fähigkeit des Eingehens auf heteronome Zwecke zuzuerkennen. Ebenso wie die »Relativierung des Autonomieanspruchs« in der Wissenschaft keineswegs mit einem »Relativismus des Wahrheitsanspruchs« (60) einhergehen muß, ist auch das spezifisch Ästhetische einer durch heautonome Zwecksetzungen finalisierten Kunst nicht notwendig von geringerer Qualität.

IV.

Was für die Kunst der als Paradigmenwechsel zu begreifende Übergang von der Autonomisierung zur Finalisierung im einzelnen bedeutet, ist schwer absehbar. Ob er in der Praxis tatsächlich gelingt, das wird sich gerade auch an der Kunst im öffentlichen Raum zeigen, die in den vergangenen Jahren eine regelrechte Renaissance mit einer Fülle avantgardistisch ambitionierter Ausstellungsprojekte erlebt. Aufgrund der vorangegangenen Argumentation, daß die Kunst um so zwangsläufiger im öffentlichen Raum scheitert, je avantgardistischer und autonomer sie ist, müßten all diese Anstrengungen eigentlich als überflüssig und künstlerisch verfehlt abzutun sein. Überaus Fragwürdiges gibt es in der Tat zwar immer wieder zu sehen, was zur Kritik an den Künstlern oder Veranstaltern Anlaß bietet; und daß die Ausstellungsprojekte zur Kunst im öffentlichen Raum sich momentan derart häufen, hat sicher auch ganz pragmatische wirtschaftliche Gründe für die Kommunen wie für die Künstler. Aber daß solche Veranstaltungen gerade bei den Experten große Aufmerksamkeit erregen und interessante Diskussionen entfachen, erklärt sich allein daraus, daß dabei wider Erwarten viele der interessantesten gegenwärtigen künstlerischen Arbeiten entstanden sind.

Für deren Gelingen spielt es eine große Rolle, daß die Kunst geeignete »Strategien der Appropriation« (61) von gesellschaftlicher Realität und künstlerischer Tradition ausbildet. Wenn das Bewußtsein über die kritische Lage der Kunst und über deren geschichtliche Ursachen bei den Künstlern wächst und stärker ihre Praxis bestimmt, dann kann die Kunst im öffentlichen Raum »ein Katalysator zur Veränderung« (62) der gesamten künftigen Kunstentwicklung werden.

Anmerkungen

(1) Nach: Bau KUNST Verwaltung von H. Rave, hg. v. Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bonn o. J., S. 5.

(2) Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1974, S. 59.

(3) So die Diktion der deutschen Frühromantiker.

(4) Martin Warnke: »Kunst unter Verweigerungspflicht«, in: Skulpturenboulevard Kurfürstendamm Tauentzien, Kunst im öffentlichen Raum, Berlin 1987, S. 25.

(5) M. Warnke, a. a. O., S. 25.

(6) M. Warnke, a. a. O., S. 29.

(7) M. Warnke, a. a. O., S. 28.

(8) D. Honisch: »Das Zweckmäßige ist nicht das Signifikante«, in: R. Häusser / D. Honisch: Kunst Landschaft Architektur, 1983, S. 27.

(9) Bau KUNST Verwaltung [Anm. 1], S. 8.

(10) F. Barth / Raimund Kummer / Fritz Rahmann: REALRAUM.MONUMENT. Manuskript Berlin 1988, o. Pag.

(11) F. Barth / R. Kummer / F. Rahmann, a. a. O.

(12) So Adrienne Göhler, die im März 1989 designierte Präsidentin der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Zit. nach: A. Lenger: »Wer versteht hier etwas von Kunst?«, in: Hamburger Rundschau, Nr. 15/1989, S. 7.

(13) M. Warnke, a. a. O. [Anm. 4], S. 29.

(14) M. Warnke, a. a. O., S. 29: »Die Kunst ist nicht mehr dazu tauglich, im Dienste staatlicher oder kirchlicher Instanzen Botschaften, Sinnvorgaben und Wertvorstellungen an das Publikum zu adressieren.«

(15) M. Warnke, a. a. O., S. 29.

(16) In neuerer Zeit kommt das Verdienst der ersten kategorischen Kritik wohl Martin Warnke zu (s. Anm. 4).

(17) M. Warnke, a. a. O. [Anm. 4], S. 29.

(18) Bazon Brock: »Der Hang zum Gesamtkunstwerk«, in: Kat. Der Hang zum Gesamtkunstwerk, hg. v. Harald Szeemann, Zürich 1983.

(19) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 335.

(20) Martin Warnke: »Fluchtpunkt Gemütlichkeit. Die Kunstgeschichte nach dem Ende der Avantgarden«, in: FAZ, 28. September 1988, S. 35.

(21) M. Warnke, a. a. O. [Anm. 4], S. 29.

(22) Th. W. Adorno, a. a. O. [Anm. 19], S. 335.

(23) Herbert Marcuse: »Über den affirmativen Charakter der Kultur«. In: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 56 ff.

(24) Siah Armajani, in Kat. Skulptur Projekte in Münster 1987, hg. v. Klaus Bußmann / Kasper König, Köln: DuMont 1987, S. 34.

(25) Vgl. B. J. Warneken: »Autonomie und Indienstnahme. Zu ihrer Beziehung in der Literatur der bürgerlichen Gesellschaft«, in: Rhetorik, Ästhetik, Ideologie, Stuttgart 1973, S. 79.

(26) B. J. Warneken, a. a. O., S. 79.

(27) Vor allem durch Verzicht, etwa von Geld, Macht, Unsterblichkeit (Bazon Brock).

(28) Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften I, S. 13.

(29) Friedrich Schlegel: Schriften zur Literatur, München 1972, S. 159.

(30) Daniel-Henri Kahnweiler: Der Gegenstand der Ästhetik, München 1971, S. 58.

(31) Statt Picasso wird Kandinsky von Werner Hofmann zu den »Wegbereitern« der Avantgarde gezählt. W. Hofmann: Grundlagen der modernen Kunst, Stuttgart 1978, S. 6.

(32) Arnold Gehlen: Zeitbilder, Frankfurt 1965, S. 74.

(33) Vgl. Gerd de Vries (Hg.): Über Kunst. Texte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, Köln 1974.

(34) Michael Lingner: »Kunst aus Kunst«, in: Wolkenkratzer Art Journal, Bd. 5/1988, S. 30 ff.

(35) H. S. Stoltenberg in den Verhandlungen des 7. Deutschen Soziologentages 1930, Tübingen 1931, S. 170. Unter dem Gesichtspunkt des Spannungsverhältnisses zwischen schöpferischer Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Fremdbestimmung wird dieser Begriff näher expliziert in: Michael Lingner / R. Walther: »Paradoxien künstlerischer Praxis«, in: Kunstforum International, Bd. 76/1984, S. 60 ff.

(36) Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt 1984.

(37) Niklas Luhmann: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«, in: Delfin, III/1984, S. 52.

(38) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 36], S. 51.

(39) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 36], S. 53. Dagegen Adorno, a. a. O. [Anm. 19], S. 336 f.: »Was sie [die Kunst] zur Gesellschaft beiträgt, ist nicht Kommunikation mit jener, sondern ein sehr Mittelbares, Widerstand [...].«

(40) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 36], S. 57.

(41) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 36], S. 51.

(42) Zit. von W. Hofmann: »Die Kunst des Verlernens«, in: Die Zeit, Nr. 7, 10. Februar 1989. S. 53.

(43) N. Luhmann: »Das Medium der Kunst«, in: Delfin, VII/1986, S. 11.

(44) A. Wildermuth: »Die neue ästhetische Autonomie. Reflexionen zu Mimmo Paladino«, in: Katalog der Kestner-Gesellschaft, Hannover 1981, S. 21.

(45) A. Wildermuth, a. a. O., S. 21.

(46) Auf diesem Hintergrund macht Jiri Dokoupils wohl eher ironisch gemeinte Behauptung, daß Salome »von 1978 bis 1982 der beste konzeptuelle Künstler Deutschlands war«, etwas Sinn.

(47) J. Lyotard: »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: Merkur, 2/1984. S. 153.

(48) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 43], S. 11.

(49) Theodor W. Adorno, a. a. O. [Anm. 19], S. 334.

(50) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 37], S. 52.

(51) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 37], S. 52.

(52) Theodor W. Adorno, a. a. O. [Anm. 19], S. 335.

(53) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 37], S. 52.

(54) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 37], S. 69.

(55) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 37], S. 63.

(56) N. Luhmann, a. a. O. [Anm. 37], S. 69.

(57) Friedrich Schiller: Theoretische Schriften I, München 1966, S. 181.

(58) G. Böhme / W. v. d. Daele / W. Krohn: »Die Finalisierung der Wissenschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie, 2/ 1973, S. 128 ff. Siehe auch: M. Lingner / R. Walther: »Paradoxien künstlerischer Praxis. Die Aufhebung der Autonomie des Ästhetischen durch die Finalisierung der Kunst«, in: Kunstforum International, Bd. 76, 1984, S. 60-113.

(59) G. Böhme / W. v. d. Daele / R. Hohlfeld: »Finalisierung revisited«, in: Starnberger Studien: Die gesellschaftliche Orientierung des wissenschaftlichen Fortschritts, hg. v. G. Böhme et al., Frankfurt a. M. 1978, S. 129.

(60) G. Böhme / W. v. d. Daele / R. Hohlfeld, a. a. O., S. 24.

(61) Vgl. entsprechende Tendenzen in der neueren amerikanischen Kunst und z. B. ein Gespräch von Wolfgang Max Faust mit Dan Cameron in: Wolkenkratzer Art Journal, 1/1988, S. 20 ff.

(62) Stephan Schmidt-Wulffen: »En passant«, in: Kat. Jenisch-Park Skulptur, Hamburg 1986, o. Pag.

Dank an Volker Krappen und Rainer Walther für Hilfe beim Redigieren.


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