ask23 > Lingner, Pompesius: Erkünstelte Primitivität

Michael Lingner, Iris Pompesius

Erkünstelte Primitivität

Zur Ausstellung "Jean Dubuffet. Ein revolutionärer Maler" im Kunstverein Hamburg

Das Lob "Leonardo da Vinci der Gegenwart" paßt auf Jean Dubuffet ebensowenig wie der Schmäh "Walt Disney der Avantgarde". Beide Einschätzungen verkennen Dubuffet, weil sie ihm Zeitgemäßheit unterstellen, obwohl er nicht nur in biographischer Hinsicht, sondern überhaupt ein verspäteter Künstler war. Denn ungeachtet dessen, daß die moderne Avantgarde-Kunst ihre vielfältigen und extremen Formen nur durch begriffliche Anstrengungen entwickelt hat, hängt Dubuffet noch der vor-romantischen Vorstellung nach, letztlich müsse ein Bild so unmittelbar und organisch wie ein Natur-Ereignis entstehen. Wegen dieser durch die Geschichte längst überholten Problemstellung dürfte Dubuffet nicht einmal mehr umstritten sein. Daß er es aber im Gegenteil sogar zu gewissem Ansehen im Kunst-System gebracht hat, wird einleuchtender, wenn man sich nicht auf die kunstimmanente Argumentation fixiert und in die Betrachtung die an Kunst gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen mit einbezieht. Dann zeigt sich nämlich, daß Dubuffet den Anschein zu erwecken versteht, als ob eine Synthese von künstlerischen und gesellschaftlichen Ansprüchen möglich wäre.

Künstlerisch verdankt sich das Phänomen Dubuffet seiner geradezu meisterlichen Nachahmungskunst - Nachahmung nicht als Mimesis, sondern als Mimikry verstanden. Ihm ist stets die Anverwandlung der jeweils gerade durchgesetzten Avantgarde-Kunst gelungen: In seiner frühen Phase entlehnt er die Mache dem Informel. In der mittleren Schaffensperiode greift er die Plakativität der Pop-Art auf. Zuletzt liebäugelt er mit dem Neo-Expressionismus. Diese Anpassungen können als Eigenheiten wirken, weil in seinen Arbeiten, die aus dem Bestreben entstanden sind, "die Dinge auf ihren Ursprung zurück(zu)führen" immer das Kunsthafte durch die bewußt unkünstlerische Stilisierung gebrochen wird. Genau diese vorgebliche Kunstferne ist der Grund dafür, warum Dubuffet eher als die eigentliche, in ihrer Autonomie sich verschließende Avantgarde-Kunst gesellschaftlich akzeptiert wird.

Das Interesse beruht darauf, daß Dubuffet auf das zutiefst unbefriedigte gesellschaftliche Bedürfnis nach Unmittelbarkeit eingeht. In dem Maße, wie alle Lebenszüge einer totalen Zweckrationalität unterworfen werden, ist die Forderung an die Kunst umso nachdrücklicher, doch die verdrängten Bedürfnisse nach Spielerischem, Spontanem und Authentischem zu kompensieren. Dubuffet kommt dem entgegen, wenn er sich inhaltlich und formal des archaisch anmutenden Ausdrucks von Geistesgestörten, Kindern und Naiven bedient. Aber Naivität läßt sich nicht wollen, und die natürliche Primitivität nicht erkünsteln. Daß dieser Versuch einer Quadratur des Kreises in Dubuffets Kunst akzeptiert wird, zeigt ihren symptomatischen Charakter für den Zustand dieser Gesellschaft und deren Erwartungen an Kunst. Doch für das System Kunst ist Dubuffet eher entbehrlich.


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