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Michael Lingner

Kunst als Kunstdefinition

Joseph Kosuth, 1945 in Toledo/Ohio geboren, ist einer der Hauptvertreter der analytischen Richtung der konzeptuellen Kunst. 1965 begann er mit Arbeiten, die vom Prinzip der Tautologie (Selbstbezüglichkeit) ausgingen. Vier an die Wand gelehnte Glasplatten versah er mit dem Text "Four Square Glass Leaning". Es folgten Werke, in denen er Objekt, Foto des Objekts und Lexikondefinition des Objekts nebeneinander präsentierte ("One and Three Chairs"). Hieraus entwickelten sich Arbeiten, die aus Definitionen aus Wörterbüchern bestanden. Kosuth untermauerte seinen Kunstbegriff durch zahlreiche Texte. In "Art after Philosophy" (1969) beschreibt er die Bedeutungskonstitution des Kunstwerks durch den Kontext, in den es eingefügt wird. Seit 1969 war er amerikanischer Editor der Publikation "Art - Language". Ab 1975 arbeitete er an "The Fox" mit, einer Zeitschrift, die die politische Dimension der konzeptuellen Kunst ins Zentrum rückte. Seine eigenen Werke griffen in den folgenden Jahren in raumfüllenden Wandinstallationen vor allem auf Texte von Sigmund Freud zurück, die sich mit dem Thema "Sprache" beschäftigen. Die Werke der Serie "Modus operandi", die Michael Lingner vorstellt, variieren den Tautologiegedanken, den Kosuth schon am Beginn seiner Arbeit formuliert hatte.

Wer heute schon ein abschließendes Urteil wagen will, der wird Joseph Kosuth sicher zu den Klassikern konzeptueller Kunst zählen. Diese Mitte der 60er Jahre zuerst in den angelsächsischen Ländern entstandene Kunstrichtung ist eine sehr theoretisch, zumeist mit Sprache als künstlerischem Material operierende Kunst, die selbst bei vielen Interessierten bis heute auf weitgehendes Unverständnis stößt.

Die konzeptuelle Kunst hat im Verlauf ihrer Entwicklung vielfältige Ausprägungen erfahren, die sich aber im wesentlichen nach zwei Grundrichtungen unterscheiden lassen: Bei der einen ist der Begriff "Konzept" in der Bedeutung von PLAN zu verstehen, insofern hier die künstlerischen Arbeiten aus einer vorab entwickelten, sehr strengen, in sich logischen und konsequent angewendeten Methode bestehen und entstehen. Sol LeWitt ist dafür mit Arbeiten wie "Plan für eine Wandzeichnung" (1969) oder "Plan für ein Konzept Kunst Buch" (1970) ein typisches Beispiel. Da diese Arbeiten keinen anderen Inhalt haben als eben die ihre Form völlig definierende Methode, fallen in ihnen Form und Inhalt zusammen - soweit diese überkommene Unterscheidung dann überhaupt noch sinnvoll ist. Derart mit sich selbst identisch, erreichen die Arbeiten einen Grad an Autonomie, bei dem sie durch nichts anderes künstlerisch bestimmt werden als durch die an ihnen rational nachvollziehbare Methode ihrer Hervorbringung.

Steigerung der künstlerischen Autonomie ist ebenso die Absicht des anderen Grundtypus konzeptueller Kunst, für den die eigentliche Bedeutung des Worts "concept" bezeichnend ist, das im Englischen für BEGRIFF steht. Die Conceptual Art ist insofern eine begriffliche Kunst, als sie weniger einer bild- als vielmehr einer wortsprachlichen Logik folgt und sich ganz darauf konzentriert, am Begriff, nicht an der materialen Ausformung von Kunst zu arbeiten. Denn sie geht davon aus, daß etwas letztlich durch begriffliche Bestimmungen und nicht aufgrund formaler Eigenschaften zur Kunst wird. Konsequenterweise überläßt sie darum die Begriffsbildung nicht mehr den Kritikern, sondern betreibt selbst die Bildung ihres eigenen Begriffs von Kunst, damit nichts Außerkünstlerisches, weder psychische Motivationen noch materialästhetische Anmutungen über ihre Existenzform als Kunst entscheiden. Für diese Spielart von Konzeptkunst sind die theoretischen Überlegungen und künstlerischen Beispiele von Joseph Kosuth prototypisch.

In ihren beiden Grundformen ist die Konzeptkunst - soweit sich absehen läßt - die letzte Kunstrichtung, die sich noch völlig bruchlos in die Entwicklungsgeschichte der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts einfügt. Von allen früheren Kunstepochen unterscheidet sich die Avantgardekunst vor allem dadurch, daß mit ihren Formerfindungen immer auch die Definition eines neuen Kunstbegriffs einhergeht. Avantgardistischer Kunst geht es letztlich um den fortwährenden Versuch der Neudefinition von Kunst. In der Fortführung dieser Tradition ist es dann nur konsequent, wenn schließlich nicht mehr das Medium der Malerei oder Skulptur für die Selbstdefinition der Kunst prädestiniert erscheint. Denn das dazu sehr viel geeignetere Mittel ist die Sprache mit ihrer Begrifflichkeit, die darum von der Konzeptkunst als Medium bevorzugt wird. Sie bedient sich in bewußt "unkünstlerischer" funktionaler Weise dieses Mediums, um jenseits jeder Materialsprachlichkeit sich rein begrifflich selbst als Kunst zu definieren. Statt auf mehr oder minder ausgeprägte morphologische Ähnlichkeiten mit konventionellen Kunstformen zurückzugreifen, zielt die Konzeptkunst ursprünglich auf eine materialästhetisch indifferente, rein wortsprachlich fundierte Definition von Kunst. Für die heutigen neokonzeptualistischen Künstler steht dagegen die Reflexion der materialästhetischen Seite ihrer Arbeiten im Vordergrund, wobei sie sich mit einer Art Vermeidungsstrategie zwischen allen inner- oder außerkünstlerisch bereits eindeutig zu bestimmenden und zuzuordnenden Formerfindungen und Anmutungsqualitäten hindurchbewegen. An dieser Entwicklung der 60er Jahre ist Kosuth wohl als der einzige Konzeptkünstler beteiligt, weil er spätestens seit seiner mit den 80er Jahren beginnenden Werkgruppe "Cathexis" immer stärker die bild- und wortsprachliche Dimension in seine Untersuchung einbezogen hat.

"Modus operandi", diese bereits vorher von Kosuth an verschiedenen Orten realisierte neue Arbeit, unterscheidet sich von seinen Untersuchungen aus den 60er Jahren in eben diesem Sinne, daß über die reine Begrifflichkeit hinaus nun auch ein bestimmter Modus der Materialität einer Kunstaussage mitreflektiert wird. Gleichwohl ist auch diese Arbeit als ein Versuch der Selbstdefinition und -begründung von Kunst zu sehen. Die Grundintention ist gleich geblieben, weil auch diese Arbeit von den Bedingungen der Möglichkeit handelt, wodurch sich etwas überhaupt als Kunst bestimmen läßt. Seit sich die Kunst aus ihren traditionellen Funktionszusammenhängen gelöst hat und nicht mehr AUCH als Altarbild oder Herrscherportrait, sondern nur ganz und gar autonom entweder als Kunst, oder aber überhaupt nicht funktionieren kann, bewegt sie dieses zur Überlebensfrage gewordene Problem der Selbstdefinition. So hat etwa Hölderlin bereits in den Anfängen der Kunstautonomisierung mit unvergleichlicher Gedankentiefe die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst aus der "Verfahrungsweise des poetischen Geistes" (in: F. Hölderlin: Sämtl. Werke, Bd. 14: Entwürfe zur Poetik, Frankfurt 1984) zu begründen gesucht. Im Hinblick auf dasselbe Problem kommt Kosuth zu einer zunächst frappierend ähnlichen Aussage, wenn er Kunst durch den "modus operandi", d.h. durch eine ihr eigene, spezifische "Verfahrensweise" definiert, die es zu erfinden gilt.

Worin diese "Verfahrensweise" nun aber tatsächlich besteht, diese Bestimmung nimmt Kosuth eben nicht mehr begrifflich vor. Es unterscheidet ihn von Hölderlin und seine heutige Arbeit von seiner früheren mit deren mehr kunsttheoretischen Orientierung, daß er auf jede weitere wortsprachliche und nähere inhaltliche Erläuterung der "Verfahrensweise" verzichtet, diese formal und material aber sehr wohl weitergehend bestimmt. Der Schriftzug "modus operandi" ist in Bremerhaven mit schwarzen Buchstaben einmal auf die Scheibe des Ausstellungsraumes gebracht worden und steht außerdem in gleicher Positionierung und Proportionierung weiß auf der dieser gegenüberliegenden schwarzen, durch einen Mauervorsprung unterbrochenen Rückwand des Raumes. Durch die Art der Anwendung der Aussage "modus operandi" auf sich selbst, d. h. durch die Weise, WIE mit ihr in dem gegebenen räumlichen und sozialen Zusammenhang als Textgestalt operiert wird, zeigt sich deutlich, worin die "Verfahrensweise" besteht. Durch ihren Wortlaut gibt diese Arbeit eine zunächst nur nominale und hypothetische Definition von Kunst, die sie in einer Weise REAL an sich selbst vollzieht, daß sich inhaltliche Aussage und formale Erscheinung wechselseitig erhellen und gegenseitig begründen: In der allgemeinen begrifflichen Definition von Kunst definiert sich zugleich auch die Arbeit in ihrer formalen Besonderheit als Kunst. Die extreme Selbstbezüglichkeit, durch welche die Kunst (im autopoietischen Sinn) zu einem sich selbst reproduzierenden System werden kann, macht diese Arbeit modellhaft.


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