ask23 > Lingner: KUNST ALS KUNSTDEFINITION

Michael Lingner

KUNST ALS KUNSTDEFINITION

Joseph Kosuth im Kabinett für aktuelle Kunst

Wer schon heute ein abschließendes Urteil wagen will, der wird Joseph Kosuth sicher zu den Klassikern einer Kunstrichtung zählen, die Mitte der sechziger Jahre als concept-art bekannt geworden ist. Die in den angelsächsischen Ländern entstandene concept-art ist eine sehr theoretisch argumentierende und häufig mit Sprache als künstlerischem Material operierende Kunst, die darum als recht schwierig gilt. Um so mehr ist es ein Verdienst des Kabinetts für aktuelle Kunst, fast alle wichtigen Künstler der concept-art nicht nur in exemplarischer Weise, sondern auch sehr frühzeitig vorgestellt zu haben -bis auf Joseph Kosuth. Von ihm zeigt das Kabinett im Zeichen der gegenwärtigen Rückschau auf Positionen konzeptueller Kunst zum ersten Mal eine Arbeit. Die concept-art ist - soweit sich absehen läßt - die letzte Kunstrichtung, die sich noch völlig bruchlos in die Entwicklungsgeschichte der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts einfügt. Von allen früheren Kunstepochen unterscheidet sich die Avantgardekunst vor allem dadurch, daß mit ihren Formerfindungen immer auch die Definition eines neuen Kunstbegriffs einhergeht. Avantgardistische Kunst geht es letztlich um den fortwährenden Versuch der Definition von Kunst. In der Verfolgung dieser Absicht ist es dann nur konsequent, wenn sich Kunst schließlich nicht mehr im Medium der Malerei oder Plastik zu definieren sucht. Dann das dazu sehr viel geeignetere Medium ist die Sprache mit ihrer Begrifflichkeit, die darum von der concept-art als Medium bevorzugt wird. Sie bedient sich in bewußt "unkünstlerischer", funktionaler Weise dieses Mediums und macht damit ihre Kunsthaftigkeit allein abhängig von der eigenen Definition ihrer selbst als Kunst. Statt mehr oder minder ausgeprägte morphologische Ähnlichkeiten mit konventionellen Kunstformen wie Malerei oder Plastik zu suchen, zielt die concept-art auf eine materialästhetisch indifferente, wortsprachlich fundierte Definition von Kunst. "Modus Operandi", diese bereits an vielen verschiedenen Orten von Kosuth realisierte Arbeit, ist als ein derartiger Definitionsversuch von Kunst zu verstehen. Konkreter bedeutet dies, daß die Arbeit von den Bedingungen der Möglichkeit handelt, wodurch sich etwas überhaupt als Kunst bestimmen läßt. Diese Frage ist an sich freilich keineswegs neu, sondern beschäftigt die Kunst, seit sie sich aus ihren traditionellen Funktionszusammenhängen löste und nach Autonomie strebt. So hat etwa Hölderlin in unvergleichlicher Gedankentiefe die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst aus der "Verfahrensweise des poetischen Geistes" zu begründen gesucht. Im Hinblick auf das gleiche Problem kommt Kosuth heute zu einem inhaltlich durchaus vergleichbaren Ergebnis, wenn er Kunst durch den "modus operandi"", d. h. durch eine ihr eigene, spezifische "Verfahrensweise" definiert, die es zu erfinden gilt. Worin aber diese "Verfahrensweise" nun tatsächlich besteht, dazu macht Kosuth keine konkrete Aussage. Es unterscheidet ihn von Hölderlin und seine Arbeit von reiner Kunsttheorie, daß er auf jede weitere verbale und nähere inhaltliche Erläuterung der "Verfahrensweise" verzichtet, diese formal aber sehr wohl näher bestimmt. Denn durch die Art der Anwendung der Aussage "modus operandi" auf sich selbst, d. h. durch die Weise, wie mit dieser Aussage in einem bestimmten Kontext als Textgestalt operiert wird und wie sie dabei in Beziehung zu sich selbst gesetzt wird (s. Foto), zeigt sich anschaulich, worin die "Verfahrensweise" hier besteht. Die Identität der Wortbedeutung mit der Textgestalt des "modus operandi" wird so bewußt. Daß die Arbeit "modus operandi" diese zunächst nur nominale und hypothetische Definition von Kunst in einer Weise real an sich selbst vollzieht, die ihre inhaltliche Aussage und formale Erscheinung identisch werden läßt, dadurch definiert sie auch sich selbst als Kunst: in der Definition von Kunst definiert sich die Arbeit von Kosuth zugleich als Kunst. Die extreme Selbstbezüglichkeit, durch die die Kunst zu einem sich selbst reproduzierenden System werden kann, macht diese Arbeit modellhaft.


Alle Rechte vorbehalten.
URL dieser Ressource: http://ask23.de/resource/ml_publikationen/kt88-9
Das ist die Originalversion der Ressource: Verfügbar gemacht von ask23 am 2005-09-15, Hashwert 698945c99b025ac5dc25c059be69d53cc83890e4