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Michael Lingner

Kunst aus Kunst

Autopoiesis - die aktuelle Autonomieproblematik aus systemtheoretischer Perspektive

Ausgehend von Ausstellungen in Hamburg - "Wechsel. Im Konjunktiv" in der Galerie Vera Munro und "Neue Kunst in Hamburg 1988" in der Halle K 3 auf dem Kampnagelgelände - stellt Michael Lingner einen neuen Theorieansatz zur Debatte.

Spätestens seitdem die Kunst des amerikanischen "Neokonzeptualismus" in Europa bekannt geworden ist und die "Wilde Malerei" vollends verdrängt hat, ist Denken in der Kunst nicht nur wieder erlaubt, sondern gar gefragt. Es offenbart sich nun ein beträchtliches Theoriedefizit im Umgang mit Kunst, das in den vergangenen Jahren durch die postmodernen Träumereien von den Möglichkeiten einer "Theorie der Nichttheorie" nur kaschiert wurde. Die tendenzielle Literarisierung oder sogar Poetisierung des Theoretisierens hat fast in Vergessenheit geraten lassen, daß es keine überzeugenden Versuche gibt, eine Idee von dem, was Kunst in der Gegenwart ist, rational zu entwickeln. Nach wie vor haben die kunsttheoretischen Versuche, die im wissenschaftlichen Kontext entstehen und überhaupt ernst zu nehmen sind, ein großes Manko. Entweder bleiben sie zu sehr an ihrer jeweiligen Fachdisziplin orientiert und bekommen die Kunst gar nicht erst in den Blick. Oder sie erliegen der Faszination der Kunst und vergessen ihre wissenschaftliche Herkunft. Kunstferne und Verfallenheit an die Kunst führen gleichermaßen zu weitgehender theoretischer Unergiebigkeit, weil es einmal an der Nähe zu den tatsächlichen Problemstellungen und das andere Mal an der Distanz mangelt, um systematisch zu reflektieren. Die wichtigen kunsttheoretischen Überlegungen verdanken sich deshalb entweder einem so seltenen Glücksfall wie bei Adorno, bei dem Kunstverstand und Wissenschaftlichkeit vereint sind. Oder sie können nur aus einer theoretischen Position entstehen, die gleich weit von der Kunst, wie von wissenschaftlichen Einzeldisziplinen entfernt ist. So haben die Ästhetiken von Kant, Schelling oder Hegel immer noch paradigmatische Geltung, auch wenn sich manche Entwicklungen der modernen Kunst nur unzureichend mit ihnen begreifen lassen, weil sie einem übergeordneten, universalen Theoriezusammenhang entstammen. Dieser war durch ihre Erkenntnistheorien vorgegeben, aus denen sie ihre Aussagen zur Kunst systematisch abgeleitet haben. Wenn Kants, Schellings und Hegels Einsichten in das Rationale der Kunst auch in der Gegenwart noch als wesentlich gelten, dann allerdings nicht weil, sondern obwohl sie systematischer Natur sind. Unser Mißtrauen gegen gedankliche Systeme - während wir technischen ständig unsere Existenz anvertrauen - wird umso stärker, wenn heute eine Theorie mit universalem Anspruch auftritt, die zudem noch Systemtheorie heißt. Nur so ist es erklärlich, daß die kunsttheoretischen Überlegungen, die Niklas Luhmann aus seiner Systemtheorie abgeleitet hat, und die insofern gerade jene methodischen Vorzüge aufweisen, durch die sich auch die Theorien der Klassiker auszeichnen - in der eigentlichen Kunstdiskussion keine Rolle spielen. Deshalb sollen am Problem der Kunstautonomie einige Grundgedanken Luhmanns eingeführt und mit Beispielen aktuellster künstlerischer Praxis in Zusammenhang gebracht werden.

Daß es "Kunstwerke nur (gibt), wenn und soweit mit Möglichkeiten der Kommunikation über sie gerechnet werden kann" (N. Luhmann: Das Medium der Kunst; in: Delfin VII/1986, S. 12) und in der Kunst "nur noch Kommunikation funktionieren muß und alles weitere in den zweiten Rang einer dafür notwendigen Bedingung versetzt wird" (N. L.: Das Medium ..., S. 12), zu diesen Thesen kommt Niklas Luhmann, der große Antipode von Jürgen Habermas im Zusammenhang mit seiner Systemtheorie. Zunächst entsteht der Eindruck, als wolle er damit den gegenwärtigen Kunstbetrieb - auf eine durchaus zutreffende Weise - kritisch charakterisieren. Doch nichts liegt den Absichten Luhmanns ferner, der ganz im Gegenteil rein wissenschaftliche Interessen verfolgt und die in der Kunst verbreitete Annahme widerlegen will, die Grundelemente, aus denen das Kunstsystem bestehe, seien Kunstwerke.

In Analogie zum System der Gesamtgesellschaft und zu ihren Teilsystemen, wie z.B. dem der Wirtschaft, das nicht von Waren, sondern von Zahlungen lebt, oder dem Rechtssystem, das sich nicht auf Gerichte, sondern auf normative Erwartungen stützt, behauptet Luhmann, daß auch das Kunstsystem aus besonderen Kommunikationen besteht, die stets Ereignis-, nicht Objektcharakter haben. Dem Kunstwerk kommt dann nur noch die Funktion zu, Kommunikation zu provozieren, sie in Gang zu halten und durch den gemeinsamen Objektbezug zu vereinheitlichen. So organisiert das Werk die Beteiligung an der Kommunikation, reduziert deren Beliebigkeit und reguliert die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer: "Die Einheit des Kunstwerks liegt letztlich in seiner Funktion als Kommunikationsprogramm." (N. L.: Das Kunstwerk u. d. Selbstreproduktion der Kunst; in: Delfin III/1984, S. 53).

Auch wenn solche Aussagen provokant wirken mögen, sind sie doch nichts weiter als strikt logische Ableitungen aus der Theorie der sozialen Systeme, mit der Luhmann sich in den letzten zwei Jahrzehnten ein ebenso berühmtes wie berüchtigtes, in letzter Zeit zuweilen auch an der Kunst erprobtes Analysemodell geschaffen hat. Wählt er die Kunst zum Untersuchungsgegenstand, bedarf es ganz besonderer Überwindung, Luhmanns Argumentation zu folgen, weil die stoische Sterilität seiner Betrachtungsweise gegenüber dem Kunsthaften an der Kunst besonders unangemessen erscheint. Tatsächlich geht es jedoch auch Luhmann um das Spezifische der Kunst, wenn er die Frage nach der "Fortsetzbarkeit von Kunst als eines sozialen Systems" (N. L.: Das Medium ..., S. 11) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt.

Wie technokratisch Luhmanns Argumentation auch klingen mag, so ist es doch gerade seine entschiedene Nüchternheit, die ihn erkennen läßt, daß nicht mehr nur die heute noch bekannten Ausprägungen der Kunst, sondern ihr Fortbestand schlechthin gefährdet ist. Diese Gefährdung war solange nicht virulent, wie "die Fortsetzbarkeit der Kunst in die Gesellschaftsstruktur eingehängt und dadurch garantiert war" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 57). Wirklich akut wurde die Bestandsproblematik für die Kunst seit Beginn des 19. Jahrhunderts, da sie sich vollends aus den gesellschaftlichen Strukturen löste, durch die sie bis dahin ökonomisch und thematisch versorgt war. Als diese Autonomisierung der Kunst sich gerade durchgesetzt hatte und in ihren Konsequenzen abschätzbar wurde, war es als erster Hegel, der mit seiner - zumeist verkannten - These vom "Ende der Kunst" radikal in Frage stellte, ob diese als geistiges Projekt in der von uns heute so genannten Moderne fortexistieren werde. In vergleichbar fundierter Weise, aus der Logik einer universalen Theorie, befragt heute Luhmann die Kunst - gleichfalls ohne alle gegen sie gerichteten Aversionen und ohne jegliches kulturkritisches Lamentieren über ihren Niedergang oder Verfall. Umso mehr liefert er ein überzeugendes Indiz dafür, daß die Autonomisierung der Kunst mitsamt den ihr daraus erwachsenen Veränderungen und Gefährdungen eine neue, bisher unbekannte Qualität erreicht hat.

Interesse auch über die Wissenschaft hinaus vermag Luhmanns Analyse deswegen zu wecken, weil ihr ein heute sehr verbreitetes, latent zum postmodernen Bewußtsein gehörendes Endzeitgefühl entspricht. Von Lyotard ist es als die Befürchtung formuliert worden, daß womöglich "nichts (mehr) geschieht, daß es nicht mehr weitergeht, daß die Wörter, Farben oder Töne fehlen, daß der Satz der letzte sein wird, daß das Brot nicht täglich ist" (Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde; in: Merkur 2/1984, S. 153). Gleichwohl wird die Möglichkeit des Endes der Kunst von den Zeitgenossen genauso unaufhörlich und nachdrücklich verdrängt wie die Gewißheit des eigenen Todes. Dazu trägt nicht unerheblich die Zunft der doch im Gegenteil eigentlich zur Aufklärung verpflichteten Spezialisten bei - dort die Medizin, hier die Kunstkritik, die zusehends dazu verkommt, nur noch den 'Betrieb' zu bedienen (Ein Buch, das für diesen Typus von Kunstjournalismus exemplarisch ist, trägt bezeichnenderweise den Titel "Spielregeln" [von S. Schmidt-Wulffen]).

Bei seiner systemtheoretischen Betrachtung geht Luhmann von der Voraussetzung aus, daß die Kunst "in der modernen Gesellschaft ... als autopoietisches Funktionssystem ausdifferenziert ist" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 52). Im Verlauf ihrer Geschichte hat die Kunst einen Grad an Autonomie erreicht, der ihr eine "autopoietische Selbstreproduktion" ermöglicht. Mit diesem aus der Biologie stammenden Begriff können soziale Systeme bezeichnet werden, wenn sie "die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 51), produzieren. Es erhält "alles, was im System als Einheit funktioniert, ... seine Einheit durch das System selbst, und das gilt nicht nur für Strukturen und Prozesse, sondern auch für die einzelnen Elemente, die für das System selbst nicht weiter dekomponierbar sind" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 51). Dabei sichert die Autopoiesis "nur: daß überhaupt (weiterhin Kunst möglich ist), und sagt nicht; wie ..." (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 63).

Ebenfalls als ein autopoietisches, selbstreferentielles System wird die moderne Gesellschaft in ihrer Gesamtheit begriffen, in der die Kunst ein eigenes Subsystem bildet. Dessen hochgradige Autonomie unterscheidet sich wesentlich von der Situation autonomer Kunst in der Vergangenheit, die Adorno noch als "Verselbständigung der Gesellschaft gegenüber" (Adorno: Ästhetische Theorie 1970, S. 334) beschrieben hat, während sie nun einer "Verselbständigung in der Gesellschaft" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 52) entspricht. Doch obwohl Luhmann die Kunst damit für eine ganz spezifische Funktion freigesetzt sieht, folgert er nicht, daß die Kunst deshalb zwangsläufig gesellschaftsfern sein müsse. Ganz im Gegenteil: "Die Kunst teilt das Schicksal der modernen Gesellschaft gerade dadurch, daß (auch) sie als autonom gewordenes System zurechtzukommen sucht" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 52). So ist ihre Funktion in der Gesellschaft nicht länger danach zu bestimmen, was sie für andere Bereiche der Gesellschaft zu leisten vermag. Denn es "kann gerade nicht die Funktion eines ausdifferenzierten Funktionssystems sein, zu anderen Funktionsbereichen etwas beizusteuern" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 69).

Was Luhmanns Analyse für die gegenwärtige und zukünftige Kunst bedeuten kann, ist noch schwer abzuschätzen und bedarf ausführlicherer Erörterungen. Aber zumindest eine wichtige und prinzipielle Konsequenz ist bereits absehbar, selbst wenn man seine Überlegungen nur ansatzweise in eine Richtung weiterzudenken versucht. Aus Luhmanns Argumentation läßt sich folgern, daß die Kunst ihrer tatsächlich erreichten Autonomie nicht gerecht wird, wenn sie ihr Selbstverständnis weiterhin danach zu definieren sucht, welche Funktion sie für andere gesellschaftliche Teilbereiche - für "die Gesellschaft", wie vereinfachend gesagt wird - erfüllen könnte. Daß sich damit die alte Diskussion um die gesellschaftliche Funktion der Kunst erledigt, mag sie vielleicht von dem bisherigen Anspruch, sich gesellschaftlich zu legitimieren, aber keineswegs auch vom Zwang zur dauernden Selbstdefinition zu befreien. Denn bisher war es für die autonome Kunst, soweit sie sich selbst treu blieb, nicht nur durchaus noch hinreichend, sich und ihre Funktion gegenüber "der Gesellschaft" lediglich negativ, nämlich durch ihre gesellschaftliche Funktionslosigkeit, zu definieren, sondern sogar außerordentlich produktiv. Sobald die Kunst jedoch zur Einsicht gelangt, daß sie aufgrund ihres inzwischen wesentlich höheren Grades an Autonomie zur autopoietischen Selbstreproduktion einerseits befreit und andererseits verdammt ist, "weil sie sich anders nicht halten kann" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 63), sieht sie sich der ungleich schwierigeren Aufgabe gegenüber, eine allein auf sie selbst bezogene positive Bestimmung zu finden. Angesichts dieser Schwierigkeit sind denn Zweifel durchaus angebracht, ob der Kunst als "Funktionsbereich die Ausdifferenzierung bekommt und ob ihm eine autopoietische Selbstreproduktion gelingen kann" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 69).

Eine Voraussetzung solchen Gelingens wäre, daß die Kunst es schafft, ihre Perspektive derart zu wechseln, daß sie statt einer extern ausgerichteten negativen eine intern ausgerichtete positive Funktionsbestimmung ihrer selbst vorzunehmen vermag. Um nicht vorzeitig zu kapitulieren, indem sie sich mit einem Modus der Selbstorganisation bescheidet, der hinter den eigenen historischen Möglichkeiten und dem Entwicklungsstand der Gesellschaft zurückbleibt, muß sich die Kunst völlig umstellen: Ihr heute wohl dringlichstes Problem ist es, sich in keiner Hinsicht mehr über irgendwelche gesellschaftlich vorgegebenen Zwecke definieren zu können - auch nicht über den liberalistisch zugestandenen Zweck der Zwecklosigkeit, sondern ganz allein aus sich eine Zwecksetzung (= Finalisierung) für sich selber vorzunehmen. Wäre diese Notwendigkeit des Wechsels mit dem Gerede vom Ende der Avantgarde bzw. dem Beginn der Postmoderne tatsächlich gemeint, bekäme es endlich einen Sinn.

Der beste theoretische Ansatz gilt in der Kunst gemeinhin wenig, solange er nicht gleichsam empirisch an konkreten Beispielen überprüfbar ist. Tatsächlich aber ist es eine fatale Verkennung des Verhältnisses von Kunsttheorie und künstlerischer Praxis, wenn man meint, Theorien durch Werke oder Werke durch Theorien verifizieren oder falsifizieren zu können oder zu müssen: Falsche Theorien werden durch passende künstlerische Beispiele genausowenig richtiger, wie schlechte Arbeiten durch passende Theorien besser werden. Wenn hier trotzdem Arbeiten von Michael Dörner, Jörg Rode und Günther Rost, die jüngst bei der Galerie Vera Munro (Hamburg) zu sehen waren, durch Wort und Bild in einen Zusammenhang mit der These von der autopoietischen Selbstreproduktion der Kunst gebracht werden, dann geschieht dies in rein hypothetischer Absicht. Weder vermag die Theorie durch die Arbeiten als wahr noch vermögen die Arbeiten durch die Theorie als Kunst bewiesen zu werden, sondern sie können sich bestenfalls wechselseitig erhellen. Die Hoffnung, daß jede Arbeit zur Konkretisierung der Theorie und die Theorie zum Verständnis der Arbeiten beiträgt, kann sich indes nur auf die Spekulation gründen, daß tatsächlich ein innerer Zusammenhang zwischen den Arbeiten von Dörner, Rode und Rost und der gegenwärtigen Problemlage der Kunst besteht, wie sie sich aus der systemtheoretischen Analyse ergibt.

Obwohl die hier angestellte Spekulation mithin unbeweisbar ist und letztlich nur durch Evidenz zu überzeugen vermag, muß sie doch nicht gänzlich unbegründet bleiben. Die subjektive Begründung ist einfach und besteht darin, daß dem Autor zuerst an diesen Arbeiten - wahrscheinlich erleichtert durch ihre lange und genaue Kenntnis - das zuvor nur abstrakt verstandene Prinzip der autopoietischen Selbstreproduktion der Kunst als reale Möglichkeit klar geworden ist. Da sie insofern für ihn exemplarischen Charakter haben, hat er sie ausgewählt, obwohl nun, nachdem die zuvor blinden Begriffe durch Anschauungen einmal sehend geworden sind, das autopoietische Prinzip auch an anderen künstlerischen Hervorbringungen aus Vergangenheit und Gegenwart entdeckbar ist.

Abgesehen von dieser subjektiven Begründung lassen sich aber an den Arbeiten und Äußerungen der drei, so unterschiedlich sie im einzelnen auch sein mögen, durchaus auch objektivere Anzeichen für den Wechsel des Kunstsystems zur Selbstreproduktion im autopoietischen Sinn ausmachen. Was vor allem sofort auffällt und sich in der genaueren Formanalyse noch vertieft, ist die ausschließliche Art und Weise, in der hier die Kunst mit sich selbst beschäftigt ist. Diese extreme Selbstbezüglichkeit ist jedoch keinesfalls gleichzusetzen mit der Selbstreflexion, wie sie für die gesamte bisherige Avantgardekunst bestimmend war. Allen wichtigen, sie prägenden künstlerischen Entscheidungen, seien sie nun formal oder inhaltlich gewesen, hatte stets die Absicht einer Neu-, besser: Umdefinition des Kunstbegriffs zugrundegelegen. Die klassische Avantgarde reproduzierte sich als Kunst durch die Reflexion des Kunstbegriffs, und die logische Aufeinanderfolge der verschiedenen Kunstkonzeptionen konnte als Fortschritt interpretiert werden. Dabei richtete sich die Selbstreflexion immer weniger auf das Kunsthaft-Ästhetische, dagegen mehr und mehr auf das Begrifflich-Rationale, was zwangsläufig zu einer Entmaterialisierung und Intellektualisierung der Werke führte.

Dieser selbstreflexive Prozeß kulminierte schließlich in der Conceptual-Art der 60er Jahre. Unter der Voraussetzung, daß die künstlerische Praxis immer untrennbar mit der Definition eines Kunstbegriffs einherging, war es nur konsequent, wenn die Conceptual-Art auf jegliche Materialästhetik verzichten wollte und auf eine rein wortsprachliche Definition des Kunstbegriffs zielte. Aber auch diese Definition spielte sich immer noch auf dem zumeist als Negativfolie dienenden Hintergrund bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen über Kunst ab, obwohl sich die Conceptual-Art ausschließlich als ein Kommentar über Kunst verstand. Die Hermetik dieser rein kunstinternen Orientierung wird bei Dörner, Rode und Rost noch übertroffen, weil sie sich offenbar auf überhaupt keinen bestimmten, weder gesellschaftlich noch künstlerisch geprägten Kunstbegriff mehr beziehen. Nicht der Begriff, sondern die Kunst selbst bildet den ausschließlichen Bezugspunkt für ihre künstlerischen Entscheidungen. Von der begrifflichen Fixierung auf bestimmte historische Positionen befreit, versuchen sie über den gesamten Formenbestand der Kunstgeschichte zu verfügen. Indem sie vor allem ästhetisch auf die Kunst der Vergangenheit und Gegenwart reagieren, wird die formale und materiale Seite ihrer Arbeiten vorrangig.

Das entscheidende Kriterium dafür, was sie sich aus dem Fundus der Kunstgeschichte, aber auch aus Technik oder Wissenschaft formalästhetisch aneignen und wie sie beurteilen, ob die so entstandenen Arbeiten stimmig sind, besteht in deren möglichst absoluter Nicht-Übereinstimmung mit dem verwendeten Ausgangsmaterial. Aber im Unterschied zur klassischen Avantgardekunst wird das weniger durch die Erfindung neuer, als vielmehr durch die Vermeidung vorhandener Formen erreicht. Jede Arbeit - darin besteht die Strategie von Dörner, Rode und Rost -"vergleicht sich selbst mit vorausgegangener Kunst, sucht und gewinnt Abstand, zielt auf Differenz, schließt etwas aus, was als möglich schon vorhanden ist" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 61) und bildet so gleichsam eine negative Form zwischen den bereits bestehenden künstlerischen Ausformungen. Dabei soll die extreme Selbstbezüglichkeit dieser Kunst, anders als bei der am allgemeinen Kunstbegriff arbeitenden Conceptual-Art, zur Hervorbringung einzigartiger Werke führen. Sie gelten Luhmann als "die sicherste Garantie dafür, daß die Kunst immer Neues produziert" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 60). "Ohne Aussicht auf neue Kunstwerke" würde es "kein Sozialsystem Kunst" (N. L.: Das Kunstwerk ..., S. 54) mehr geben.

Andererseits besteht aber die Gefahr, daß eine solche hiermit Referentialismus getaufte Kunst, wenn sie sich immer ausschließlicher "auch selbst als Medium verwende(t) ... in einer Art von logischem Kurzschluß kollabier(t)" (N. L.: Das Medium ..., S. 11). Denn je absoluter die Kunst sich nur auf sich selbst bezieht, umso weniger wird sie mit bestimmten sozial konstituierten Erwartungen rechnen können, die an sie gerichtet werden. "Ohne Voraussetzung solcher Erwartungen" aber sähe Luhmann die Kunst "in den Alltag auslaufen und versickern" (N. L.: Das Medium ..., S. 11). Zugleich würde damit die spezifische, der Kunst als Kunst geltende Kommunikation aufhören, da diese der Differenzierung zwischen Künstlerischem und Alltäglichem bedarf. Die Auflösung des Kunstsystems würde freilich überhaupt nicht ausschließen, daß es weiterhin etwas gäbe, was Kunst heißt, mit ihr tatsächlich aber nichts anderes mehr als den Namen gemein hätte. Der Wandel würde vielleicht nicht einmal sonderlich auffallen, weil es ein allmählicher Prozeß wäre, wenn die inzwischen bereits zum wichtigen Wirtschaftsfaktor avancierte Kunst sich immer mehr den allgemein herrschenden Prinzipien auslieferte, d.h. nur noch ökonomisch und nicht mehr künstlerisch motiviert wäre und ausschließlich um des Überlebens willen überlebte. - Ist es bereits als Anzeichen für eine solche Entwicklung zu werten, wenn an den Akademien immer mehr Bewerber auftauchen, die Kunst studieren wollen "wie ein Teenager Gitarrenunterricht nimmt, nicht weil er musikalisch ist, sondern weil er ein Popstar werden will" (Wolfram Siebeck: Die frigiden Zungen; in: ZEITmagazin Nr. 15/88, S. 26)?


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