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Michael Lingner

Expressionismus ist nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems

I. Selbstausdruck als neuer Akademismus. Kunstakademien und Kunst heute

"... Die Zeitspanne, die zwischen den künstlerischen Entscheidungen im freien Bereich draußen und dem Tag liegt, an dem innerhalb der Kunsthochschule darauf reagiert wird, ist überaus kurz geworden. Während sie vor einhundertfünfzig Jahren vielleicht noch dreißig Jahre betragen hat, es vor siebzig Jahren noch fünfzehn Jahre waren, so sind es heute allenfalls noch ein paar Monate, bis die ersten Auswirkungen sichtbar werden. Ich kann sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß das, was man normalerweise als 'akademisch' bezeichnet, ... sich heute genauso draußen als Kunstszene präsentiert. Das 'Akademische', die Akademie ist heute genauso 'draußen', wie die Kunstszene 'drinnen' in der Akademie ist." (1)

F. E. Walther konstatiert diese sehr weitgehende Indifferenz, fast eine Identität von beiden Bereichen, die erst in den 60er Jahren entstanden ist und mittlerweile als selbstverständlich empfunden wird. Sie hat ganz wesentlich dazu beigetragen, daß sich die Kunstakademien und die Art und Weise, Kunst zu studieren, seitdem völlig verändert haben. Obwohl die mit diesem Wandel zusammenhängenden Umstellungsprobleme schon lange unübersehbar sind, gibt es an den Kunstakademien bisher bis auf auffallende Ausnahmen (2) keine ernsthaften Bemühungen um eine Neubestimmung ihres Selbstverständnisses. Offenbar ist das Vertrauen in die Unerschütterlichkeit des öffentlichen Interesses am Fortbestehen unabhängiger künstlerischer Ausbildungsstätten sehr groß. (3) Ob dieses Vertrauen allerdings gerechtfertigt ist, scheint angesichts des wachsenden politischen Willens zur Entstaatlichung und einer damit bezweckten, sich auf die Kultur ausdehnenden Kommerzialisierung - Stichwort: Sponsoring - mehr als fraglich.

Die Probleme des Umbruchs, in dem sich die Kunsthochschulen befinden, erweisen sich sehr deutlich und als besonders folgenschwer in den ersten Semestern. Schon seit langem besteht in diesem Studienabschnitt nicht mehr die bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts von Hölzel geforderte, doch erst vom Bauhaus eingeführte Pflicht, daß die Studierenden eine "Grundlehre" absolvieren. An die Stelle dieser Einführung in all dasjenige Lehr- und Lernbare, was für das Studium des Künstlerischen als grundlegend gilt, ist unterdessen eine Orientierungsphase getreten, für die - wenn auch nicht überall im Gebrauch - der Name Anfänger-"Betreuung" (4) wohl der bezeichnendste ist. Doch diese Art der Einführung funktioniert bestenfalls als Initiationsritus für die schulische Sozialisation und dient kaum der eigentlichen künstlerischen Ausbildung. "Daß unsere gegenwärtige Situation diesbezüglich desolat, also unverantwortlich ist", darauf hat erstmals 1985 in einem offenen Brief zum "Thema Grundlehre" Carl Vogel, der Präsident der Hamburger Kunsthochschule hingewiesen und damit sicher nicht nur oder vor allem die Hamburger Verhältnisse gemeint.

Da die Hochschule mit ihrer Anfänger-Betreuung den Erstsemestern nur im Ausnahmefall mehr als die allgemeinsten Integrations- und Informationshilfen zu bieten hat, ist dieses Lehrangebot inhaltlich mindestens genauso unterbestimmt, wie es die im Laufe der Jahre immer stärker dem Formalismus verfallene traditionelle Grundlehre war. Der somit eher weiter zu- als abnehmende Mangel an konkreten Angeboten von Studieninhalten und -zielen innerhalb der Hochschule hat das ohnehin schon vorhandene Bedürfnis der Studierenden verstärkt, sich die maßgeblichen Orientierungen von Anfang an außerhalb, in der Gegenwartskunst, zu suchen. Eben dies hat wesentlich dazu beigetragen, daß Kunsthochschule und Kunstszene heute nahezu verwechselbar geworden sind. Die einst zu Recht als Akademismus beklagte Ferne der künstlerischen Ausbildungsstätten zur zeitgenössischen Kunst droht nun als modischer Konformismus sich ins Gegenteil einer allzu großen Nähe zum gerade aktuellen Kunsttrend zu verkehren.

Auch wenn bei allen Studenten das Kunstgeschehen im Mittelpunkt des Interesses steht und sie von Anfang an unbedingt 'Kunst machen' wollen, ist es erstaunlich, wie wenig individuell sie dabei vorgehen. Speziell bei den Studienanfängern, sofern sie nicht aufgrund verfehlter bzw. enttäuschter Erwartungen vorzeitig aufgeben, gibt es trotz aller Unterschiedlichkeit ihres Vorwissens, ihrer persönlichen Eigenart und der Intensität ihres Interesses im Prinzip nur zwei Weisen, wie sie sich auf das Kunststudium einlassen: Bislang noch eher die extreme Ausnahme bilden kleine Gruppen zumeist in der "Freien Kunst" eingeschriebener Studenten, die sich vor allem um die maßgeblich an der Gegenwartskunst beteiligten Lehrer scharen. (5) Schnell, spekulativ und mit oft erstaunlicher Perfektion reagieren diese Studenten sehr sensibel auf die aktuelle Kunstpraxis. Diese wird von ihnen aufgegriffen und in der Absicht fortgeführt, bereits während des Studiums vergleichbare oder noch bessere Ergebnisse vorweisen zu können und möglichst bald auszustellen, um so schon als Student zum Künstler zu avancieren.

Mit der dazu erforderlichen Risikobereitschaft und mit ihrem Durchsetzungswillen entziehen sich diese Studenten wo nur möglich den eigentlichen Erfordernissen des Studierens. Dennoch kann von ihnen eine ausgesprochen positive, stimulierende Wirkung ausgehen, solange sie Ausnahmeerscheinungen bleiben und sich als solche gegen die Hochschule behaupten müssen. Doch wenn diese Haltung durch bestimmte Umstände und Interessen innerhalb und außerhalb der Hochschule künstlich forciert oder sogar zum allgemeinen Maßstab des 'Studierens' gemacht wird, hat das fatale Folgen: Je mehr die Hochschulen so tun, als ob an ihnen bereits ausstellungsreife, substantielle künstlerische Leistungen zu erbringen wären, je mehr das Geniale also zum Normalfall gemacht wird, desto anfälliger werden sie für das Genialische, das heißt für die bloße Vortäuschung außergewöhnlicher Leistungen. Und da es gewiß am leichtesten und erfolgreichsten ist, künstlerische Novität und Qualität durch die Variation des gerade aktuellen Trends zu suggerieren, würde der Mechanismus der Mode auch an den Hochschulen vorherrschend werden. Damit verkäme künstlerische Autonomie zur Freiwilligkeit, sich dem kommerziellen Diktat kunstfremder Willkür zu unterwerfen. Diese würde wohl das eher noch übertreffen, was sich einst "Hofkünstler" (6) zumuten lassen mußten und zu verantworten hatten.

Anzeichen für eine solche Entwicklung sind unverkennbar, auch wenn es noch verhältnismäßig wenige 'Künstler-Studenten' sind, die sich derart extrem und unmittelbar an den Trends orientieren. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Studenten findet die Orientierung an der Gegenwartskunst bislang auf eine nicht so dramatische, eher mittelbare, aber darum nicht weniger problematische Weise statt. Zwar nehmen auch sie zugleich mit dem Kunststudium die Suche nach einem eigenen künstlerischen Ansatz auf. Aber in der Überzeugung, diesem am dichtesten dort auf der Spur zu sein, wo ihre Arbeiten am stärksten vom persönlichen Ausdruck geprägt sind, beschäftigen sie sich nicht primär mit der Kunst, sondern mit sich selbst. Da für sie der eigentliche Zweck der Kunst die durch Selbstausdruck zu erreichende Selbstverwirklichung ist, betrachten sie die künstlerischen Ausdrucks-formen als bloße Mittel, die verfügbar sind und nicht eigens entwickelt werden müssen. Gerade so, wie es die vom Zeitgeist beleuchtete Gegenwartskunst suggeriert, werden diese Formen mehr oder weniger unbewußt aus dem historischen Fundus entnommen und adaptiv benutzt. Zur postmodernen Strategie intellektuell verklärt und als "Wilde Malerei" mit Raffinesse kultiviert, hat diese neoexpressionistische Haltung in den vergangenen Jahren gleichermaßen das Geschehen an den Kunsthochschulen und in der Kunstszene beherrscht - ein Zustand, der sich fortzusetzen droht, weil Protagonisten des Neoexpressionismus inzwischen als Lehrer an die Hochschulen zurückkehren.

Der Satz: "Wir malen keine Bilder - wir studieren" (7), den Willi Baumeister für seine Studenten zur Maxime erhoben hat, bezeichnet genau das Problem, das sich den Akademien heute in einem ganz anderen Ausmaß als früher stellt. Vorschnell, das heißt weitgehend voraussetzungslos und ausschließlich fixieren sich die Studierenden auf die Kunst und auf das künstlerische Ergebnis, so daß ein eigentliches Studieren immer mehr unterbleibt. Zu diesem Urteil muß jeder kommen, der auch das Kunststudium als einen Prozeß versteht, in dem zunächst eine umfassende Aneignung und systematische Erprobung des Lehr- und Lernbaren erfolgen muß, bevor dessen Grenzen forschend und experimentierend überschritten werden können und etwas daraus entsteht, das dann nicht mehr nur als Lernschritt, sondern als eigenständiges künstlerisches Ergebnis Wert besitzt. (8) Wird aber der Bereich des Lernbaren als das Uneigentliche des Künstlerischen gar nicht erst zur Kenntnis genommen, sondern einfach übersprungen, weil letztlich jedes Arbeitsergebnis die Anerkennung als Künstler oder den Durchbruch zur Selbstverwirklichung, doch am besten beides zusammen erbringen soll, dann wird eben nicht wirklich studiert. Die Kunsthochschulen verlieren so ihre Funktion als Schule.

Selbst wenn noch weitgehend Einigkeit über diese generelle Einschätzung erzielt werden mag, beginnen doch die Differenzen spätestens bei der Diskussion über die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Ganz offenbar herrscht die der gängigen Praxis an den Akademien entsprechende Meinung vor, daß zugunsten des rein Künstlerischen selbst auf eine durchaus wohlverstandene schulische Funktion auch künftig weitgehend verzichtet werden sollte. Hierzu steht in absolutem Widerspruch die nach wie vor weithin ignorierte, exemplarisch vertretene Position von Fritz Seitz, der sich als einer der wenigen überhaupt und seit Jahren kontinuierlich zur Grundlehreproblematik theoretisch äußert. Seitz schlägt vor (9), das Künstlerische ganz aus dem als "Grundlagenbereich" umschriebenen Zweig der Hochschule herauszuhalten und sich in diesem ausschließlich auf den zweifellos lehr- und lernbaren Umgang mit den bildnerischen Mitteln zu beschränken. Durch den vorübergehenden Verzicht auf künstlerische Ansprüche, den unerläßlichen Rest des schulischen Charakters der Kunsthochschule zu retten - ein etwa in diese Richtung gehender Vorschlag wäre unter bestimmten Umständen durchaus als eine administrative Auflage denkbar, von der das Recht zur Kunsterzieherausbildung und damit der Fortbestand der staatlichen Verfassung von Kunsthochschulen abhängig gemacht werden könnte. (10)

Wenn die Kunsthochschulen nicht so weit gehen wollen, ihre Funktion als Schule um der Verabsolutierung der Kunst willen ganz aufzugeben, wird es unumgänglich für sie, dem Lehr- und Lernbaren wieder Geltung zu verschaffen. Zuallererst müßte dies im Bereich der Grundlehre geschehen, da das Lehr- und Lernbare den natürlichen Ausgangspunkt für ein sinnvolles, vom Lernen zum Forschen fortschreitendes Studium bildet. Um jedoch der Funktion als Schule nicht den Kern des Künstlerischen opfern zu müssen, darf das Lehr- und Lernbare nicht vom Künstlerischen losgelöst und etwa auf das Bildnerische reduziert werden. Ganz abgesehen davon, daß ein derartiges Lehrangebot gegen die herrschende Favorisierung des Künstlerischen praktisch kaum durchsetzbar wäre, ist es auch unvereinbar mit der großen, wesentlich von künstlerischem Selbstverständnis geprägten Tradition der "Grundlehre".

Die Wiedereinführung einer Grundlehre an Kunsthochschulen und damit die Rückgewinnung wohlverstandener schulischer Funktionen ist nur möglich, wenn die Grundlehre das zu thematisieren versucht, was aus heutiger Perspektive für lehr- und lernbar gehalten werden muß, und sich dabei insbesondere auf das konzentriert, was das rational Erfaßbare am Künstlerischen ausmacht! Freilich bedeutet dies nicht etwa, daß das Künstlerische an sich für rational gehalten wird, oder gar auf das Rationale reduziert werden soll. Vielmehr wird es darauf ankommen müssen, gerade auch die Grenzen dessen, was am Künstlerischen rational zugänglich ist und verfügbar gemacht werden kann, zu erforschen und zu vermitteln. Derart würde das rein subjektiv und intuitiv Künstlerische nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern allererst fundiert.

Gerade darin hätte die Eigenart des schulischen Charakters der Grundlehre zu bestehen, daß rational über das rational Lehrbare hinausgegangen und so ein sensus für die Grenzen der Rationalität und für jene Bereiche geweckt wird, in die überhaupt nur durch mimetisches Lernen eingedrungen werden kann. Damit soll freilich nicht das zu recht verpönte, überkommene Kopieren oder Imitieren meisterhafter Vorbilder wieder belebt werden. Sondern erfahrbar zu machen wäre, daß stattdessen eine andere Art der Nachahmung: die Nachfolge vorbildlicher Meister unentbehrlich ist, um die intuitive, vor allem aber die ethische Dimension der künstlerischen Praxis zu erschließen. "Nachfolge, die sich auf einen Vorgang bezieht, nicht Nachahmung ist der rechte Ausdruck für allen Einfluß, welchen Produkte eines exemplarischen Urhebers auf andere Personen haben können; welches nur soviel bedeutet, als: aus denselben Quellen schöpfen, woraus jener selbst schöpfte, und seinem Vorgänger nur die Art, sich dabei zu benehmen, ablernen." (11)

Die Forderung, daß es nach der Erschöpfung des Bildnerischen durch die absolute Kunst nun notwendig wäre, sich auf die für den heutigen Entwicklungsstand der Kunst konstitutiven rationalen Grundlagen zu besinnen, ist theoretisch wohl unabweisbar. Praktisch bleibt solche Einsicht aber folgenlos, solange ihr auch und gerade unter den meisten Studierenden ein ungebrochenes, sich ganz und gar irrational gebärdendes künstlerisches Produzieren entgegensteht. Diese Praxis operiert und argumentiert mit einem Begriff von Ausdruck, der gesellschaftlich wohl insofern zeitgemäß sein mag, als er einem heute offenbar zutiefst unbefriedigten Bedürfnis entspringt. Künstlerisch aber ist er antiquiert, da er sich durch nichts von der überkommenen expressionistischen Ausdruckskonzeption unterscheidet, die zu ihrer Zeit als künstlerische Reaktion durchaus logisch, als Konzeption jedoch auch damals schon nicht stimmig war. Eine solche irrationale Auffassung des künstlerischen Produzierens herrscht gegenwärtig vor. Wie historisch bedingt sie ist, machen sich ihre Anhänger oft entweder nicht bewußt, oder ignorieren das einfach. Manchmal verkennen sie gar solchen "Ausdruck" als anthropologische Konstante des Schöpferischen oder stilisieren ihn auch, ganz im Gegenteil, zum Signum der Postmoderne. Als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung zur Rückgewinnung des Rationalen in der Kunst hat darum die Kunsttheorie zunächst die Aufgabe einer Kritik und Revision der expressionistischen Ausdruckskonzeption zu erfüllen. (12)

II. Der verabsolutierte Ausdruck

Ursprünglich gehört der vom lateinischen expressio abgeleitete Begriff "Ausdruck" in den Zusammenhang der Rhetorik, wo er die Qualität einer Rede bezeichnet, durch bestimmte Kunstgriffe Gefühle und Affekte darzustellen und mitzuteilen. Erst im 18. Jahrhundert wird der außerdem im mystischen Schrifttum und in der Musiklehre bekannte Ausdrucksbegriff von der ästhetischen Theorie aufgegriffen und übertrifft dort bald den Begriff der Nachahmung an Wichtigkeit. Wenngleich sich die Bedeutung von "Ausdruck" im ästhetischen Kontext erweitert, bleibt doch zunächst der rhetorische Sinn gegenwärtig: Ausdruck wird nicht primär als Ausdruck eigener, subjektiver Empfindungen verstanden, sondern als äußeres Mittel, um Empfindungen anderer zu erregen. Ausdruck ist zunächst eine wirkungsästhetische Kategorie, da er ganz in den Dienst eines bestimmten Eindrucks gestellt wird.

Doch schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Sulzer, der sonst an der rhetorischen Tradition weiter festhält, kündigt sich eine Umdeutung des Ausdrucksbegriffs ins Subjektive an. Wenn Sulzers Polemik sich gegen einen Schauspieler richtet, weil dieser offenbar "die Kunst ... im Darstellen und nicht im Empfinden sieht" (13), wird damit die Echtheit und der Ausdruck der eigenen Empfindungen zum Kriterium des künstlerischen Ranges erhoben. Von dieser Auffassung ist es kein großer Schritt mehr zum Sturm und Drang, der nur noch die subjektive Seite des Ausdrucks sieht und vom Künstler fordert, er müsse "sich selbst den Gefühlen und Affekten hingeben, um ihnen Ausdruck geben zu können". (14)

Die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden expressionistischen Strömungen in der Malerei sind im Grunde nichts weiter als eine konsequente bildnerische Umsetzung dieser Forderung. Im Expressionismus der Brücke und des Blauen Reiters ist dann diese Forderung dadurch radikalisiert worden, daß nun auch das Expressive, nicht nur Farbe und Form, vom bloßen Mittel zum substantiellen Thema und Inhalt der Kunst verabsolutiert wurde. Da indes Ausdruck als solcher, ohne Ausdruck von 'etwas' zu sein, künstlerisch unmöglich schien, machten die Künstler sich selbst zum Gegenstand ihres Ausdrucks. Im Expressionismus verabsolutiert der Künstler sich selbst und seine Persönlichkeit (15) und beabsichtigt schließlich überhaupt nicht mehr, einem ihm Äußerlichen zu bestimmtem Ausdruck zu verhelfen. Ausschließlich sein Inneres, seine Empfindungen, Erlebnisse und Zustände will er noch zum Ausdruck bringen: "Der Künstler schafft nicht den Eindruck von außen, er schafft den Ausdruck von innen." (16)

Der einzige Inhalt der Kunst sind nun "die Gefühle des Künstlers, die er malerisch ausdrückt" (17), wobei für ihn alles, jedes "erlebte" Phänomen, zum Ausdrucksträger werden kann. Es kommt ihm allein auf eine möglichst weitgehende Entsprechung zwischen seinem Inneren und dessen malerischem Ausdruck an. Um solchen adäquaten Ausdruck ganz aus dem Selbst heraus zu erreichen, versuchen die Künstler, ganz unmittelbar zu reagieren, intuitiv vorzugehen und ihre Mittel improvisierend einzusetzen. Dazu ist es erforderlich, daß sie im Schaffensakt größte Natürlichkeit und höchste Spontaneität aufbringen und sich erhalten, da ihre Gefühle sonst in ihrer Intensität abgeschwächt oder in ihrer Eigenheit verfälscht werden könnten.

In dieser Voraussetzung für das künstlerische Tun liegt einer der beiden Hauptgründe, aus denen der Expressionismus, auch wenn wir ihm einige außerordentliche, vielleicht aber gerade nicht typisch expressionistische Bilder verdanken, als künstlerisches Konzept zum Scheitern verurteilt ist. Denn weil der Expressionismus die "malerische Instinkthandlung" (18), also Natürlichkeit und Spontaneität, zum Programm und damit in die Bewußtheit erhebt, muß der expressionistische Künstler natürlich und spontan sein wollen. Er liefert sich damit einem "Spontaneitätszwang" (19) aus, von dem es keine Befreiung geben kann, weil sich Natürlichkeit und Spontaneität auch und gerade durch die äußerste Willensanstrengung nicht erzwingen lassen. So gerät der bewußt gesuchte Selbstausdruck unvermeidlich zur Selbststilisierung des Künstlers, der statt des unmittelbaren Ausdrucks seiner Emotionalität nur den Willen zum Ausdruck zu verbildlichen vermag. Letztlich ist dieser sich selbst als natürlich und spontan verkennende Ausdruckswille und nicht die Emotionalität des Erlebens Quelle und zugleich Gegenstand der künstlerischen Praxis: "In die Bewußtheit erhoben, auf sich selbst zurückgebogen und selbstinduktorisch gesteigert, setzen schließlich Erlebnisse kein Leben mehr voraus, nicht einmal mehr Erleben; sie laufen als Eigenfiguren ab." (21)

Der Expressionismus vertraut aber nicht allein darauf, daß es unmittelbar lebendigen Selbstausdruck und somit eine Entsprechung oder gar Identität zwischen dem Inneren des Künstlers und seinem malerischen Ausdruck geben kann. Er geht ferner auch davon aus, daß der Ausdruck eines Gefühls möglichst dasselbe oder zumindest ein ähnliches Gefühl beim Rezipienten als Eindruck hinterläßt. Diese Annahme beruht auf der Überzeugung, "daß Ausdruck tief im Wesen unserer Seele begründet ist und ... keiner konventionellen Zeichen bedarf" (21), da es eine angeborene seelische Resonanz auf Linien und Farben gebe. "Der Künstler, ... den die ... Welt traurig stimmt, würde die entsprechende Nuance von Farbe oder Klang aus seinem Medium wählen und der Betrachter oder Hörer würde in genau dieselbe Gemütsstimmung versetzt werden, da er ja mit dem Künstler dasselbe naturgegebene System von Entsprechungen teilt." (22)

Diese hier vereinfacht wiedergegebene Grundüberzeugung der vor dem Ersten Weltkrieg lebhaft diskutierten Resonanz- beziehungsweise Einfühlungstheorie wird von Gombrich in Auseinandersetzung mit dem Expressionismus widerlegt. Mit zum Teil bekannten, teils aus der damaligen Diskussion aktualisierten Argumenten wird gezeigt, daß "der Künstler, der ein Gefühl ausdrücken oder mitteilen will, ... nicht einfach ein gottgegebenes natürliches Äquivalent unter den Tönen oder Formen" (23) vorfindet, sondern daß dort, wo die Gemeinsamkeit des vorausgegangenen Erlebnisses fehlt, der Ausdruck stets im Kontext bestimmter, ihm zugehöriger Strukturen oder Sinnzusammenhänge stehen muß, damit er mit dem Eindruck des Rezipienten korrespondieren kann und nicht nur überhaupt irgendeinen Eindruck hinterläßt.

Die Kritik an der Unzulänglichkeit der gedanklichen Voraussetzungen des Expressionismus ist weder neu noch widerlegt. Daß es überhaupt notwendig ist, die Gründe gegenwärtig zu halten, weshalb die künstlerische Produktion und die ästhetische Rezeption nach den Maximen des expressionistischen Programms eigentlich nicht funktionieren können, liegt an der paradigmatischen Geltung, die das Expressionistische bis heute hat: Nicht nur frönt die gegenwärtige Kunst des NeoExpressionismus in Stil und Haltung der Verabsolutierung des Ausdrucks, sondern fast noch stärker sind die allgemein vorherrschenden, dem egomanischen Zustand der Gesellschaft entsprechenden Kunstvorstellungen vom Ideal des Selbstausdrucks geprägt. Und selbst der wissenschaftliche Zugang zur Kunst ist vielfach der Vormeinung verhaftet, daß expressiver Ausdruck der Inbegriff des Künstlerischen sei.

Für die durchgängige und dauerhafte Favorisierung der Expressivität in der Kunst gibt es ganz unterschiedliche -geistesgeschichtliche, psychologische, politisch-ökonomische und nationale Gründe; aber auch solche, die in der expressionistischen Kunst selber liegen und daher einfacher zu erklären sind: Da offensichtlich auch die künstlerische Expressivität im Prinzip auf nichts anderem als der allgemein-menschlichen Emotionalität beruht und nur als graduelle, nicht substantielle beziehungsweise absolute Steigerung des bei jedermann vorhandenen Ausdrucksbedürfnisses empfunden wird, ist sie relativ leicht nachzuvollziehen. Und da der Wert einer zumal künstlerischen Befriedigung dieses elementaren Bedürfnisses unbestritten ist und überdies das, was der Expressionismus dem Namen nach will, und die Weise, wie er sich manifestiert, einander hochgradig und evident entsprechen, hat diese Kunst kaum Probleme, als künstlerisch anerkannt zu werden.

Vor allem aber profitiert die expressionistische Kunst, da der absolute Ausdruck der Emotionalität ein unendliches, weder sich wirklich weiterentwickelndes noch je zu vollendendes Programm ist, von einer merkwürdigen Faszination, die offenbar von Dingen ausgeht, wenn sie von einer Art Aura der Unvollendbarkeit umgeben werden. Für diesen fatalen Hang zur falschen Unendlichkeit hat Günter Anders jüngst ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich angeführt (24), indem er gerade in der Unabsehbarkeit und Unmöglichkeit des rüstungstechnischen Großprojektes SDI das Motiv für die Unerschütterlichkeit des Willens zu dessen politischer Durchsetzung sieht. Im Sinne eines solchen "Ewigkeitsauftrages" ist auch der Expressionismus - als Kehrseite seines dauernden Scheiterns - ewig. Nicht zufällig ist im Zeichen einer derartigen Zeitlosigkeit das Ende der ausgesprochen zeitbezogen sich definierenden Moderne proklamiert worden. Daß Ausdruck dennoch, zumindest in seiner vom Expressionismus subjektivistisch verabsolutierten Ausprägung, nicht zum Paradigma postmoderner Kunst taugt, wird deutlicher noch als durch die zuvor geübte immanente Kritik, wenn der expressionistische Ausdrucksbegriff aus der externen Perspektive der Psychiatrie kritisch betrachtet wird. Darüber hinaus lassen sich aus den therapeutischen Möglichkeiten der Kunst und den künstlerischen Qualitäten der Psychiatrie brauchbare Ansatzpunkte für die nötige Revision des verabsolutierten Ausdrucksbegriffs gewinnen.

III. Der psychotische Ausdruck

Die Beschäftigung mit der "Bildnerei der Geisteskranken" (25), der sich um 1920 H. Prinzhorn erstmals systematisch widmete, ging von der Frage aus, ob diese Bildnerei nicht wegen bestimmter Gestaltungsqualitäten als Kunst anzuerkennen sei. Prinzhorn kam aufgrund des Vergleichs zwischen der seinerzeit dominierenden Kunstrichtung des Expressionismus und zahlreichen, von ihm selbst gesammelten psychotisch geprägten Bildbeispielen zu dem Schluß, daß sehr viele von diesen durchaus der Kunst zuzurechnen seien. Diese Einschätzung ist durch den Surrealismus, wie er sich im Laufe der 20er Jahre entwickelt hat, nachdrücklich bestätigt worden. Nicht nur hat Breton die künstlerische Dimension bestimmter psychischer, zuvor schlechthin als pathologisch klassifizierter Zustände dem Denken erschlossen; vielmehr gibt es auch im Formalen bei surrealistischen Malern wie etwa Max Ernst Ähnlichkeiten mit psychotischen, insbesondere von Schizophrenen stammenden Bildausdrücken. Prinzhorns Hinweise auf den Kunstwert dieser Bilder haben seitdem noch an Überzeugungskraft gewonnen, da diejenigen seiner Beurteilungskriterien, die in den 20er Jahren noch an einer gegenständlich-naturalistischen Kunstauffassung orientiert waren, inzwischen durch die moderne Kunstentwicklung ihre Verbindlichkeit verloren haben. So kann etwa die "pointelose, keiner Gesamtheit untergeordnete Konsequenz, mit der ein Formelement, Motiv oder eine Ordnungsregel durchgeführt wird" (26), nicht mehr im Sinne von Prinzhorn als Kriterium für die nicht-künstlerische Qualität psychotischer Ausdrucksformen dienen. Mittlerweile ist die Grenze zwischen pathologischer und professionell arbeitender Kunst immer weiter verschwommen und beide Bereiche zu einer eigenen, als L'Art Brut bezeichneten Kunstrichtung verschmolzen. Diese Kunstrichtung wird, da heute ein "erweiterter", alle interessanten visuellen Phänomene umfassender Kunstbegriff vorherrscht, als eine unter vielen anderen ganz selbstverständlich akzeptiert.

Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Bildnereien der Geisteskranken als Kunst integriert werden, hat zunächst den Vorzug, daß unter dem Vorzeichen von Kunst die Diskriminierung und Isolierung der psychisch Kranken durchbrochen werden kann und ihren Bildnereien öffentliche Aufmerksamkeit in einem Maß zuteil wird, mit dem ihre Person darum aber noch längst nicht rechnen kann. So birgt diese selbstverständliche, naive Einvernahme der schizophrenen Bildnereien die neue Gefahr, daß über das Prädikat Kunst deren tatsächliche Entstehungsbedingungen vergessen werden: Während die Kunst der Moderne zwar nicht unbedingt immer mit der Intention, wohl aber mit dem Bewußtsein und in der Tradition von Kunst gemacht wird und scheinhaft insofern ist, als sie letztlich einer nur ihr selbst eigenen, gegenüber der Lebensrealität indes nur fiktiven Notwendigkeit gehorchen will, entstehen die Bildnereien der Geisteskranken unabhängig von jedem Kunstwollen und Kunstkontext als eine reale, existentielle Notwendigkeit, sich auszudrücken.

Dieser Druck freilich ist unter der Wirkung von Psychopharmaka heute selten noch so stark, daß ihm der Kranke spontan nachgeben könnte - insofern gehören die Exponate der Prinzhorn-Sammlung einer vergangenen Epoche an. Gelingt es jedoch, dem latent vorhandenen Ausdruckszwang der Patienten einen Impuls zu geben und sie - was verantwortungsvolle professionelle Künstler wohl noch am ehesten vermögen - in den Gebrauch eines künstlerischen Mediums hineinzuführen, dann bricht ein ungeahntes Ausdruckspotential auf. Äußerste Unmittelbarkeit, Intensität und Anstrengung der Patienten führen zu Ergebnissen, die nicht nur deren sonstiges Durchhalte- und Gestaltungsvermögen weit übersteigen, sondern in ihrer Wahrhaftigkeit sogar bestimmte allgemein anerkannte künstlerische Leistungen relativieren, da nichts Artifizielles, sondern ganz unbedingter, zum Extrem getriebener Ausdruck sie prägt: "Das von keinem Geschmack, keinem künstlerischen Verstand gebändigte Ausdrucksbedürfnis konvergiert mit der Nacktheit rationaler Objektivität." (27)

Wer an dem expressionistischen Kunstbegriff festhält und den direkten, spontanen Ausdruck der eigenen Emotionen für das Höchste der Kunst hält, dem müssen die "Kleinmeister des Irrsinns" (J. Cocteau) als die Großmeister des Ausdrucks erscheinen, an welche professionelle Künstler kaum heranzureichen vermögen. Denn während Selbstverständnis oder Talent es dem Künstler verwehren, die bildnerischen Mittel anders zu gebrauchen als so, daß diese immer auch dem Kunstwollen und nie nur ausschließlich dem Selbstausdruck dienen, gibt es bei psychiatrischen Patienten völlig von Emotionen beherrschte Zustände, in denen diese Mittel einzig und allein als ein gleichsam natürliches Organ des Ausagierens fungieren und dabei bildhafte Ausdrucksqualitäten hinterlassen. Da solcher Ausdruck kaum anders sich vorstellen läßt als durch Leiden verursacht. "Freude hat gegen allen Ausdruck sich spröde gezeigt ... und Seligkeit wäre ausdruckslos" (28), hat er die höchste Notwendigkeit, Intensität und Unmittelbarkeit bei jenen Menschen, die vom lebensgeschichtlich erlittenen oder selbstzugefügten Leid überwältigt sind. Trotzdem ist er oft viel mehr oder vertritt sogar das völlige Gegenteil des Ausdrucks von bloßem Leid. Da nur dort, wo Erlebnisse zu unverwindbaren emotionalen Kränkungen geführt haben, die Verabsolutierung des Ausdrucks noch möglich und wirklich notwendig ist, hat diese allemal als Therapie, aber eben nicht als Kunst eine Berechtigung.

Die Unterscheidung zwischen Kunst und Therapie wäre nur dann überflüssig, wenn man in der Kunst ohnehin nichts anderes mehr sähe als eine spezifische Form der Therapie individuellen oder gesellschaftlichen Leidens. Zwar gibt es Grenzfälle, in denen ein Künstler, wie van Gogh (29), den Weg des Leidens bis zum Wahn gegangen ist und umgekehrt ein Schizophrener wie Adolf Wölfli in die künstlerische Tradition und Bewußtheit hineingewachsen ist. Aber selbst wenn die psychotisch ausgelöste Expressivität der künstlerisch beabsichtigten augenscheinlich ähnelt, ihr gleicht oder sie sogar übertrifft und eine Unmittelbarkeit erahnen läßt, die dem expressionistischen Programm jedenfalls mehr entspräche als die eigentlichen Hervorbringungen des Expressionismus, darf nicht übersehen werden, daß bewußtes Kunstwollen und unwillkürliches Ausdrucksgeschehen einander tendenziell ausschließen. Während die Kunst ihren Wert aus der Ernsthaftigkeit des Spielens gewinnt und der Künstler, auch wenn er zumeist darunter leidet, es sich versagt, die Grenze des spielerischen 'als ob', die Scheinhaftigkeit seines Tuns zu überschreiten, ist das Ausdrucksgeschehen beim Geisteskranken zwanghaft und vom unentrinnbaren Ernst und Leid des Lebens beherrscht: "Ausdruck und Schein sind primär in Antithese." (30)

Die Unterscheidung zwischen den Entstehungsbedingungen künstlerischer und psychotischer Ausdrucksformen erfolgt hier nicht mit der Absicht qualitativer Bewertungen, sondern um deutlich zu machen, daß sich die Kunst mit der Verabsolutierung des Ausdrucks einem falschen, für sie als Kunst überholten Ideal verschrieben hat. Daß sie sich der Bildnerei der Geisteskranken bemächtigt, bringt sie diesem Ideal nicht nur nicht näher, sondern bürdet ihr überdies die Verantwortung dafür auf, daß die Hervorbringungen der psychiatrischen Patienten in einer Perspektive betrachtet werden, die ganz und gar nicht in deren Interesse liegt: Für die Patienten sind die Ergebnisse - egal, ob Kunst oder nicht - nur zweitrangig. Wichtiger ist für sie die Ermöglichung eines Prozesses, in dem sie sich ausdrücken können, ohne sofort unliebsam negiert zu werden. Denn nur dadurch kann ihnen tatsächlich therapeutische Hilfe zuteil werden.

Die Besonderheit jeder tiefergehenden, nicht nur beschäftigungstherapeutisch ausgerichteten Kunsttherapie besteht darin, daß sie als solche den Patienten nie bewußt werden darf, um überhaupt Erfolg haben zu können. Als prädestiniert dafür, diese diffizile Aufgabe zu bewältigen, müssen die auch im Sinn ethischer Verpflichtung sich professionell verstehenden Künstler gelten; aufgrund der Erfahrung ihrer eigenen psychischen Gefährdung sind sie auf quasi natürliche Weise gegen die typische Therapeutenrolle gefeit und können besonders glaubwürdig den therapeutischen im künstlerischen Prozeß verbergen, ohne die Patienten zu täuschen. Denn wenn die Patienten ihren Emotionen Ausdruck geben, handelt es sich ja zweifellos um einen kreativen, von dem professioneller Künstler nicht prinzipiell verschiedenen Prozeß. Doch ist deswegen den Geisteskranken genausowenig wie den Künstlern die künstlerische Qualität ihrer Ergebnisse garantiert: "Kreativität und Banalität schließen einander nicht aus." (31)

Die der Kunst eigenen Möglichkeiten, wohlverstandene therapeutische Prozesse zu initiieren, sind indes nur unter der Voraussetzung als solche überhaupt zu erkennen und im Sinne der Patienten auszuschöpfen, wenn die professionellen Künstler, die in der Psychiatrie arbeiten, nicht ihrer Bewunderung vor dem Ausdruckspotential der Patienten erliegen. Sonst besteht die Gefahr, daß sie den therapeutischen Prozeß samt seinen Ergebnissen als ihre eigene und eigentliche künstlerische Praxis auffassen und die Patienten so zwar nicht mehr zu Objekten psychiatrischer Dienstleistung, aber doch zu bloßem künstlerischen Material degradieren. Genausowenig sollten sie andererseits versuchen, die Patienten zu Künstlern zu stilisieren und ihnen dadurch einen ebenso falschen wie sozial fragwürdigen Status zu verleihen. Die Künstler dürfen nie vergessen, die psychiatrischen Patienten als psychiatrische Patienten und sich selbst als professionelle Künstler zu begreifen. Nur aus solcher Differenz heraus, der gleichzeitig der Drang zur kreativen Überschreitung des Selbst als etwas Gemeinsames zugrundeliegt, kann jene sympathetische Wechselbeziehung entstehen, welche den Namen Heilkunst verdient und an die Möglichkeit menschlicher Medizin, das heißt des Menschen als Medizin erinnert, die hier als einzige heilen, und nicht nur helfen kann. Allen psychiatrischen Patienten sollte darum so begegnet werden, als wären sie Künstler. Aber niemand sollte sie zu solchen machen wollen.

IV. Der instrumentalisierte Ausdruck

Zu konstatieren ist also, daß der verabsolutierte, unmittelbare Selbstausdruck als künstlerisches Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Seine Authentizität hängt davon ab, daß er im Leben selbst durch einen Prozeß des Auslebens von Zuständen äußersten emotionalen Leidens entsteht und nicht aus Prozessen der Formfindung. Solange das Bewußtsein dieses Unterschieds in der Herkunft lebendig bleibt, ist eine rein ästhetische Betrachtungsweise dieses Selbstausdrucks eigentlich unmöglich. Gleichwohl ist die einer gewissen Logik des Expressionismus verfallene Auffassung überaus verbreitet, daß die psychotischen Ausdrucksformen erlebten Leids sogar die eigentlichen, ursprünglichen "Muster" (32) jeder künstlerischen Produktion sein sollten, wobei ignoriert wird, daß diese Idealisierung nicht nur den psychiatrischen Patienten schaden würde, da ihr Leiden ästhetisiert wird, sondern auch fatale Folgen für den Künstler hätte. Denn es wäre dann nur konsequent, Leid ganz bewußt zu einem Mittel für künstlerische Zwecke zu machen, was indes als Kalkül jeden Künstler um seine Moral wie um die erstrebte Authentizität seines Ausdrucks brächte. Daß Selbstausdruck entweder sehr authentisch und unkünstlerisch, oder aber künstlerisch und dafür weniger authentisch sein muß, ist eine Paradoxie, die das Schicksal nur selten und der Wille nie aufzulösen vermag. Nimmt man diese Einsicht ernst, führt sie unvermeidlich zu der heute fast an ein Tabu rührenden Frage, ob und in welchem Sinn denn Ausdruck für die Praxis des professionellen Künstlers überhaupt noch bedeutungsvoll sein kann.

Um die Umrisse einer möglichen Antwort zu skizzieren, bietet die Arbeit der in der Psychiatrie therapeutisch engagierten professionellen Künstler einen Ansatzpunkt. Deren Absicht, durch persönlichen Verzicht auf das Privileg des eigenen künstlerischen Selbstausdrucks anderen zum Ausdruck zu verhelfen, scheint mir für die Kunst richtungweisend sein zu können. Denn nur wenn der Künstler von sich selbst als "Inhalt" (33) der Kunst absieht, vermag er sich vom expressionistischen Dogma des Selbstausdrucks zu befreien. Dessen Überwindung ist darum die Voraussetzung dafür, daß "Ausdruck" überhaupt künstlerisch wieder wichtig werden kann.

Wenn der professionelle Künstler akzeptiert, daß es aus ethischen genauso wie aus kunstimmanenten Gründen notwendig ist, sich in den Dienst der Ausdrucksmöglichkeiten anderer zu stellen, dann dürfte dies freilich nicht nur in therapeutischer, sondern müßte gerade auch in ausgesprochen ästhetischer Absicht erfolgen. Verfiele der Künstler allerdings auf die naheliegende Lösung, statt weiter seinen eigenen Selbstausdruck zu betreiben, nunmehr einfach andere zu einer entsprechend expressiven künstlerischen Praxis anzuregen, würde die prinzipielle Problematik des Ausdrucks in der Kunst lediglich verlagert, da auch das Schaffen der Laien (34) im Selbstausdruck befangen bliebe. Die konzeptionellen Unzulänglichkeiten des Expressionismus bestünden weiter, nur mit dem Unterschied, daß nun an ihnen die Laien, nicht mehr die Künstler scheitern. Zur Überwindung des verabsolutierten Selbstausdrucks genügt es deshalb nicht, daß der Künstler die Ausdrucksfähigkeit verallgemeinert, indem er sie bei anderen fördert. Diese Verallgemeinerung muß vielmehr in einer Weise erfolgen, daß "Ausdruck" genau wie im therapeutischen Prozeß auch in der künstlerischen Praxis zum Mittel wird. Die Besonderheit des zum Mittel gewordenen Ausdrucks hätte darin zu bestehen, daß er zwar ganz Mittel, aber kein bloß zweckrationales wäre, sondern als Instrument der Ver-mittlung die "existierende Mitte" (35) bildete, in der die Zusammenarbeit zwischen Künstler und Laie sich niederschlüge und ihr Bleiben fände.

Die Hervorbringung eines Werkes als der unmittelbare Zweck künstlerischer Praxis folgt stets übergeordneten Ideen wie etwa denen der Wahrheit oder Einheit. Expressionistische Kunst allerdings hat zu ihrem höchsten, absoluten Zweck den Selbstausdruck erhoben und erkennt als Werke ausschließlich solche Manifestationen an, die nicht nur durch Selbstausdruck entstanden, sondern Selbstausdruck sind. Daß Ausdruck indes nicht mehr als letzter künstlerischer Zweck mit dem Werk identisch ist, sondern lediglich als Mittel für das Werk fungiert, dies ist die eine Voraussetzung für die Überwindung der Verabsolutierung des Expressiven.

Damit auch die andere Voraussetzung, die Verallgemeinerung der Ausdrucksfähigkeit, erfüllt wird, darf freilich "Ausdruck" nicht - so wie in der Kunst vor dem Expressionismus - wieder nur ein Mittel für den Künstler sein. Vielmehr sind heute Kunstformen zu entwickeln, die aus dem "Ausdruck" ein Mittel des Laien für das Werk des Laien machen. Für den Künstler bedeutet dies, daß er seine Funktion als Autor des Ausdrucks und des Werkes aufgeben muß. Insofern ist ohne eine Neuformulierung des tradierten Werkbegriffs die Umformulierung des expressionistischen Ausdrucksbegriffs nicht möglich, was indes beides hier nur angedeutet werden kann:

Die frühromantische Kunst und Kunstphilosophie hat nicht nur die ästhetische Dimension des Häßlichen begründet und dadurch die theoretische Brauchbarkeit des Begriffs der Schönheit überaus relativiert, sondern hat darüber hinaus auch schon die Kategorie des Werkes grundsätzlich in Frage gestellt. In der etwa von Ph. O. Runge bewußt betriebenen Einbeziehung des Rezipienten ins künstlerische Konzept ist das vom Künstler geschaffene Bild nur mehr der "Leitfaden zu schönen Träumen" (36). Die Imagination des Rezipienten erlangt ein von Tieck mit Bedenken bemerktes "Übergewicht ... über die hervorbringende Kraft des Künstlers" (37). Es entsteht eine prinzipielle Nicht-Identität zwischen dem materialen Bild als künstlerisch hervorgebrachtem, dinglichem Gegenstand und dem in der Rezeption imaginierten mentalen Vorstellungsbild als seiner subjektiven ästhetischen Existenzform. Die das klassische Werk ausmachende Einheit des Dinglichen und Ästhetischen (38) beginnt sich aufzulösen, obwohl sie äußerlich noch durch die überwiegend intakt gebliebene Form des Tafelbildes weiter zusammengehalten wird. Im Denken Runges jedoch geht die Auflösung des Werkes schon so weit, daß "die Kunst ... nur ein Instrument ist" (39), weil "das Gefühl ... sich abgezogen von allen Kunstwerken selbst zu einem Ganzen bilden (kann), und dadurch ... der Mensch den Zusammenhang in sich (erhält)". (40)

Wie die für das 19. Jahrhundert konzeptionell unvergleichlich weit vorangetriebene Auflösung der klassischen Werkeinheit bei Runge, ist auch deren tatsächliche und totale Entzweiung im 20. Jahrhundert eigentümlicherweise aus einer instrumentalen Auffassung künstlerischer Hervorbringungen entwickelt worden. Meiner Überzeugung nach bilden den bisherigen End- und Extrempunkt dieser Entwicklung die Arbeiten des 1. Werksatzes von F.E. Walther. (41) Zur Verdeutlichung des Prinzips der Instrumentalisierung kann ich mich hier auf dieses Beispiel beschränken, weil spätere Arbeiten Walthers, und erst recht die anderer Künstler es lediglich noch differenziert haben. Es handelt sich beim 1. Werksatz um einen Komplex aus 58 Objekten, die in dem Sinne instrumental sind, daß ihre gesamte Materialität funktional auf Benutzbarkeit hin organisiert ist. Deswegen besitzen sie selbst keine eigens beabsichtigten ästhetischen Qualitäten, sondern dem Rezipienten, also dem Laien, ist es aufgegeben, durch ihre in ihnen auf unterschiedliche Weise angelegte Benutzung, das Ästhetische leiblich handelnd und gedanklich zu konstituieren. Gelingt es ihm, sich der Objekte dabei so zu bedienen, daß er die Komplexität der mit ihnen gemachten Wahrnehmungen und Vorstellungen in der Totalität einer einzigen inneren Anschauung zu verdichten vermag, dann kann diese Ausformung des Bewußtseins Werkgestalt annehmen.

Das Werk des Bewußtseins existiert immateriell und rein geistig ohne jeden dinglichen Bestandteil, weil darin die Objekte nicht in ihrer Materialität als Werk-Zeuge, sondern als bewußt gewordene Erfahrungsformen eingehen. Obwohl die Objekte insofern keinesfalls weniger konstitutiv für das Werk sind als die traditionellen, nicht-instrumentalen künstlerischen Hervorbringungen, existieren sie doch von ihm getrennt. Damit zerfällt die Einheit des klassischen Werkes in einen vom Künstler hervorgebrachten dinglichen Teil, der einen in besonderer Weise zur Werkbildung geeigneten rein instrumentalen Charakter hat, und in einen vom Rezipienten gedanklich auszuformenden ästhetischen Teil, dem Werkhaftigkeit zukommt.

In dieser Kunstkonzeption, mit der die Autorisierung des Rezipienten zum Produzenten verfolgt wird, ist das eigentliche Werk absolut immateriell. Dennoch bedarf es - was für die Neubestimmung des Ausdrucksbegriffs wichtig wird - einer materialen Fundierung, die sich Walther mit seinen Diagrammen geschaffen hat. Wie die im handelnden Umgang mit den Objekten auftretenden Wahrnehmungen und Vorstellungen als die geistigen Inhalte des "immateriellen Werkes" (42) ohne die Materialität der Objekte nicht möglich waren, so wenig ist es möglich, diese Inhalte zum Werk mental auszuformen, wenn sich der Rezipient dabei nicht materialer Fixierungen bedient. Denn die Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte sind nicht nur äußerst komplex, sondern ihre gedankliche Ausformung ist zudem ein Prozeß, der nur im Rückblick zu vollziehen ist, so daß es ohne vorherige Aufzeichnungen zur Vernichtung statt zur Vedichtung werkbildender Bewußtseinsinhalte käme. Vor allem aber ermöglichen die Aufzeichnungen eine, wenn auch nicht intersubjektive, so doch subjektiv für den jeweiligen Rezipienten stets wiederholbare Rekonstruktion der ursprünglichen Totalität seiner eigenen inneren Werkerfahrung. Dadurch ist der Anspruch, derart flüchtige Bewußtseinsformationen Werk zu nennen, überhaupt erst gerechtfertigt.

Insofern also hier "Ausdruck" als Aufzeichnungsform für die während der Objektbenutzung realisierten Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte des Rezipienten - Laien - dient und diesem im Entstehungsprozeß seines Werkes als Mittel unerläßlich ist, wird für die Überwindung der Verabsolutierung des Expressiven eine Lösung vorgeschlagen, die theoretisch wohl einleuchten mag. Doch in der Praxis wird es darauf ankommen, daß der Laie für seine Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte einen möglichst adäquaten Ausdruck findet, weil davon die Qualität des jeweiligen Prozesses der Ausformung beziehungsweise Rekonstruktion seines "immateriellen Werkes" abhängt. Damit der Laie nicht im traditionellen Sinn Künstler werden oder aber an seiner geringeren Ausdrucksfähigkeit von vornherein scheitern muß, ist aus der hier vorgeschlagenen nicht-expressionistischen Ausdruckskonzeption eine grundsätzliche Änderung der Funktionsbestimmung des professionellen Künstlers zu folgern:

Der Künstler verliert die historische Aufgabe, ausschließlich das eigene Ausdrucksvermögen gleichsam stellvertretend für die anderen zu entwickeln und zu vervollkommnen. Stattdessen sollte er übernehmen, die Ausdrucksformen anderer zu kultivieren, indem er Ausdrucksmöglichkeiten erarbeitet, die ihnen als Laien zu adäquatem, individuellem Ausdruck verhelfen. Wie F. E. Walther als Künstler auf den Anspruch, Werke zu schaffen, verzichtet hat und mit seinen Objekten individuelle ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten instrumentalisiert, also potentiell für jedermann zugänglich gemacht hat, so ist es genauso erforderlich, individuelle ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten zu instrumentalisieren. Diese Zielvorstellung künftiger Kunstpraxis wäre näher zu bestimmen als die nur von Künstlern zu erbringende, aber ohne die Laien überflüssige Leistung, die allgemeinen, formalen Bedingungen für die Entwicklung des zur Werk-Konstitution jeweils notwendigen Ausdrucksvermögens material vorzugeben. (43)

Wenn alle materialen Hervorbringungen des professionellen Künstlers mit keiner ihrer Eigenschaften mehr das Werk vergegenständlichten, sondern dem Rezipienten für sein Werk des Bewußtseins ausschließlich als funktionale Mittel dienten, würde die bereits von Kandinsky proklamierte "Epoche des großen Geistigen" (44) Wirklichkeit werden. Die vergeistigte Entmaterialisierung und Funktionalisierung in der Kunst könnte dann beanspruchen, eine wahrhafte Alternative zu der bis heute ausschließlich technologisch-ökonomischen Entmaterialisierung und Funktionalisierung aller lebensbestimmenden Gesellschaftsbereiche zu sein, oder zumindest insofern ein Äquivalent, das die durch diesen Prozeß verursachten Deformationen erträglicher werden läßt.

(1) M. Lingner / F.E. Walther: Zwischen Kern und Mantel. Franz Erhard Walther und Michael Lingner im Gespräch über Kunst. Klagenfurt 1985. S. 134.

(2) Eine der wenigen Ausnahmen bildet das 1986 von O. H. Hajek initiierte Kolloquium: "Werden die Akademien in unserer Zeit verdrängt?" (Publikation: Badischer Kunstverein Karlsruhe, 1986). Aber statt sich vor allem der Gefahr der Bedrohung und dem Zwang zur Legitimation von außen ausgesetzt zu sehen, sollte die Kunstakademie mehr noch den Blick auf ihre Bedrohung durch sich selbst und auf ihre Legitimation sich selbst gegenüber richten, um sich über ihre Verantwortung und über ihr Selbstverständnis zu vergewissern: Wie können es die Akademien verhindern, daß sie sich in unserer Zeit selbst abschaffen? wäre die mindestens ebenso dringliche Frage.

(3) Erinnert sei an das ruhmlose Ende der Hochschule für Gestaltung in Ulm, deren Auflösung sich 1988 zum zwanzigsten Mal jährt. Zu diesem Jubiläum paßt die drastische Kürzung der staatlichen Fördermittel an die 1951 gegründete Stiftung des Rates für Formgebung durch das Bundeswirtschaftsministerium mit der Begründung, "Design-Pflege sei eine ureigene unternehmerische Aufgabe und somit zuvörderst Sache der Wirtschaft selbst". In: ZEIT Nr. 42/1987.

(4) Der Begriff "Erstsemester-Betreuung" erscheint im Vorlesungsverzeichnis der Hamburger Kunsthochschule erstmals im WS 1980/81, nachdem die Grundlehre de facto längst aufgegeben, aber der endgültige Bruch mit ihrem pädagogischen Anspruch noch nicht vollzogen war. Diese Übergangsbezeichnung ist dann wenige Semester später durch die Betitelung "Freie Kunst mit Studienanfängern" ersetzt worden, in der sich das andauernde Dilemma des Lehrangebotes für den 1. Studienabschnitt überdeutlich spiegelt.

(5) Einen exemplarischen Überblick über diesen Studententypus hat die Fünfte Ausstellung der Jürgen Ponto-Stiftung vermittelt. In: Katalog Studenten der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Frankfurter Kunstverein und Kunstverein Hamburg 1987. Von den zwölf ausgewählten Studenten gehörten neun der Walther-, zwei der Koberling-Klasse und einer der Klasse Rühm an.

(6) M. Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985.

(7) Zitiert nach F. Seitz: Rückblick auf die Grundlehre. Herausgegeben von der Staatlichen Akademie der bildenden Künste. Stuttgart 1986. S. 44.

(8) Darum hat F. E. Walther noch zu meiner Studienzeit immer wieder betont, daß das, was während des Studiums und was danach entstehe, völlig verschieden sein müsse.

(9) F. Seitz: a.a.O. (s. Anm. 7); ders.: Von der Grundlehre zu den Grundlagen. In: Format 31/1971. S. 6 ff; ders.: Grundlehre ist keine zeitbedingte Erscheinung - habt Mut zur Auseinandersetzung. In: Format 11/1981.

(10) Die viel stärkeren ökonomischen Zwänge verkennend, haben Beuys und seine "Freie Internationale Universität" die Entstaatlichung der Kunstakademien betrieben, um sie wirklich unabhängig zu machen. Nicht das dem zugrundeliegende Motiv, aber die Art der Argumentation deckt sich mit den Interessen der Wirtschaft: "In unserem verstaatlichten Schulwesen können die Schulen dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Erst in einem freien Schulwesen, das getragen und bestimmt wird von allen an der Schule Beteiligten, ... und in dem Schulen untereinander in freie Konkurrenz treten, können die für die Bewältigung der Zukunftsfragen nötigen Fähigkeiten der Menschen zu Tage kommen." Aus: Aufruf der Freien Kunstschule Hamburg e. V. als Arbeitsstelle der Freien Internationalen Universität. Hamburg. Juli 1981.

(11) I. Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. K. Vorländer. Hamburg 1924. S. 132 f.

(12) Mit dieser Kritik allein ist es nicht getan, sondern es muß eine Bestimmung dessen folgen, was aus heutiger Perspektive das Rationale am Künstlerischen ist. Auf der Grundlage meiner Bearbeitung des Theoretischen Nachlasses von A. Hölzel habe ich einen entsprechenden Versuch in einer 1988 in Kunstform International erscheinenden Studie unternommen.

(13) H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. S. 475.

(14) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter. Darmstadt 1971. Bd. l, S. 656.

(15) "Jedes Kunstwerk ist Selbstdarstellung des Künstlers." W. Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst. Köln 1960. S. 66.

(16) H. Waiden: Einblicke in die Kunst. 1917. Nach A. Gehlen: Zeit-Bilder. Frankfurt/M.. Bonn 1965. S. 149.

(17) W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst. Bern 1952. S. 6. (18) W. Hofmann: Grundlagen der modernen Kunst. Stuttgart 1978. S. 248. (19) W. Hofmann: a.a.O., S. 256.

(20) A. Gehlen: a.a.O., S. 134. (s. Anm. 13) Diese Aussage wird hier als solche ohne Rücksicht auf das übrige Werk genommen.

(21) E. H. Gombrich: Meditationen über ein Steckenpferd. Frankfurt 1978. S. 109. (22) E. H. Gombrich: a.a.O., S. 113/114.

(23) E. H. Gombrich: a.a.O., S. 119.

(24) G. Anders in einem im Mai 1987 in der Frankfurter Rundschau erschienenen Essay.

(25) H. Prinzhorn: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung. Berlin 1922. Der Begriff 'Bildnerei' hat u.a. den Vorzug, daß er alle Gattungen der bildenden Kunst umfaßt und keine Vorentscheidungen über den Kunstwert des so bezeichneten Tuns impliziert. Deshalb wird der abwertende Klang der Wortbildung (vgl. 'Bastelei') in Kauf genommen. Der Begriff "Geisteskranke" maßt sich ebenso wie alle anderen hier verwendeten und ebenso unbefriedigenden Begriffe keinerlei medizinisches oder gar moralisches Urteil an.

(26) H. Prinzhorn: a.a.O., S. 338. Da die Gestaltungsmerkmale so ähnlich geworden sind, haben Bilder keinen sicheren diagnostischen Wert mehr.

(27) T. W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1970. S. 175.

(28) T. W. Adorno: a.a.O., S. 169.

(29) H.-J. Lenger / J. Hiltmann: Unterwegs in Zwischenräumen. Über Ready-mades, Kunst und Alltag. Hamburg 1983. Kapitel: "Vincent van Gogh. Die Wand".

(30) T. W. Adorno: a.a.O., S. 168. (s. Anm. 27)

(31) L. Navratil: Krankheitsverlauf und Zeichnung. In: Confin. Psychiat. 12/1969.

(32) I. Kant: a.a.O. (s. Anm. 11). S. 163: "Die Muster der schönen Kunst sind daher die einzigen Leitungsmittel, diese auf die Nachkommenschaft zu bringen ...".

(33) "Der Inhalt der Kunst ist also die Persönlichkeit des Künstlers, das sogenannte Genie." M. Liebermann: Die Phantasie in der Malerei. Berlin 1916. S. 15.

(34) Interessant ist der Vergleich mit dem theologischen Begriff der Laien. Vgl. Handbuch theologischer Grundbegriffe. hrsg. von H. Fries. München 1963. Bd. 2. S. 7 ff.

(35) J. Habermas: Arbeit und Interaktion. In: Technik und Wissenschaft als 'Ideologie'. Frankfurt 1970. S. 25. Habermas geht mit dieser Begriffsbildung auf Hegel zurück.

(36) Ph. O. Runge: Hinterlassene Schriften. Hamburg 1841. Bd. II. S. 216. (37) R. Huch: Die Romantik. Leipzig 1920. Bd. 1. S. 183.

(38) Die Unterscheidung trifft H. G. Gadamer: Zur Einführung. In: M. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1970. S. 114.

(39) Ph. O. Runge: a.a.O., Bd. II. S. 237. (s. Anm. 36) (40) Ph. O. Runge: a.a.O., Bd. II. S. 82.

(41) Überblick und Einführung in die Walthersche Kunstkonzeption gibt: M. Lingner / F. E. Walther: a.a.O. (s. Anm. 1).

(42) Theoretisch eingeführt wurde der Begriff von M. Lingner: Selbstreflexion als Konstituens immaterieller Werke. In: 8. Internationaler Kongreß für Ästhetik. Darmstadt 1976. S. 31.

Vgl. auch die künstlerisch-praktische Umsetzung in den "Modellen zur Genese des immateriellen Werkes: z.B. in: Forscher, Eremit, Sozialarbeiter. Zum veränderten Selbstverständnis von Künstlern. Katalog Hamburg 1979. S. 60 f.

(43) Daß die von Walther entwickelten Aufzeichnungsformen "Diagramme" und "Werkzeichnungen" dieser Forderung nicht entsprechen, ist gezeigt worden in M. Lingner / F. E. Walther: Funktionen der Diagramme für das Werk. Kunstforum International Bd. 15/1976. S.67 ff. Als Lösungsversuch dieser Problematik ist das Walthersche Organon-Künstlerbuch interpretiert worden von M. Lingner: Das Organon als Schlußstein. Klagenfurt 1983 und 1987.

(44) W. Kandinsky: a.a.O., S. 143. (s. Anm. 17)

In einer ersten Fassung ist Teil II dieses Aufsatzes erschienen unter dem Titel Verständigung über Kunst. Zum Problem des Ausdrucks in Kunst und Therapie. In: Inselbegegnungen. Zwei Kunstprojekte aus Psychatrien in Hamburg und Florenz. Ausstellungskatalog Hamburg 1985.

Die Ausstellung und Dokumentation dieses Kunstprojektes, das der Kunstfond Bonn und die Kulturbehörde Hamburg finanzierten, vermittelte einen unmittelbaren Eindruck von der Fruchtbarkeit der zwischen den Künstlern Sabine Reiff und Andy Leuze und psychiatrischen Patienten entstandenen Zusammenarbeit. Daß sie für die Patienten von großem Wert und für die Kunst- und Psychiatriediskussion überaus wichtig ist, wurde einer großen Öffentlichkeit bewußt. Auch bei den beteiligten Institutionen schien sich die Überzeugung durchzusetzen, daß es notwendig sei, die herkömmlichen psychiatrischen Therapieformen durch solche Kunstprojekte zu bereichern, die in der psychiatrischen Binnenwelt experimentell Außenwelt erlebbar machen. Bei der Ausstellungseröffnung versprachen Klinikdirektor und Gesundheitssenatorin, für mindestens weitere fünf Jahre die Fortführung von Kunstprojekten zu ermöglichen. Jetzt sind, kaum ein Jahr später, die Zusagen gebrochen und die Finanzierung gleichartiger Projekte eingestellt worden.


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