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Michael Lingner

Die Problematik des philosophischen Zugangs zur zeitgenössischen bildenden Kunst: Die Auflösung des klassischen Werkes als Anfang der Ästhetik in ihrem Ende

Kunst und Philosophie haben eine große Vergangenheit gemeinsam, aber auch eine äußerst gefährdete Gegenwart, die durch Geltungsverlust und eine tiefe Krise ihres Selbstverständnisses gekennzeichnet ist. Einerseits sind Kunst und Philosophie - nicht zuletzt wegen dieser gemeinsamen Gefährdung - nur umso inniger verbunden und aufeinander angewiesen; andererseits hat ihr gegenwärtiges Verhältnis jene produktive Spannung verloren, aus der sie beide in der Vergangenheit entscheidende Impulse empfangen haben.

Dieser existenzbedrohende Verlust macht die Thematisierung des Verhältnisses von Kunst und Philosophie dringlich, wobei mir der Schlüssel dafür in der Untersuchung dessen zu liegen scheint, was die Möglichkeiten der philosophischen Kommunikation mit der modernen Kunst bedingt. Aus diesem Grund behandle ich das Thema des philosophischen Zugangs zur Kunst, und zwar in dem Sinne, daß ich über die problematischen Bedingungen spreche, unter denen - wie ich meine - philosophische Zugangsweisen zur Kunst heute generell stehen; d. h. konkreter, daß ich zweierlei zu zeigen versuchen werde: erstens, wodurch der Philosophie aufgrund ihrer eigenen Voraussetzungen der Zugang zur bildenden Kunst erschwert ist; zweitens, inwiefern auf der anderen Seite die bildende Kunst der Philosophie den Zugang zu sich erschwert, was ich dann auch an entsprechenden Beispielen aus der bildenden Kunst demonstriere. Die Betrachtung der Philosophie aus der Perspektive der Kunst und umgekehrt die Betrachtung der bildenden Kunst aus philosophischer Perspektive soll meine Grundthese belegen, daß aufgrund der problematischen Voraussetzungen seitens der Philosophie und seitens der Kunst letztlich ein Scheitern der Philosophie vor der modernen Kunst zu konstatieren ist. Weil diese Diagnose zwar schonungslos, aber nicht hoffnungslos sein muß, werde ich in einem dritten anzudeuten versuchen, wie das Dilemma des Scheiterns der Philosophie vor der modernen Kunst aufgelöst werden könnte.

Wenn ich mich nun im ersten Teil der Philosophie zuwende und untersuche, inwiefern sie durch ihre immanente Entwicklung sich selbst den Zugang zur modernen Kunst erschwert hat, dann ist es dabei - ebenso wie nachher bei der bildenden Kunst - selbstverständlich, daß ich die Geschichte dieser Entwicklung zumindest teilweise über das 20. Jahrhundert hinaus zurückverfolgen muß, damit die Probleme der Gegenwart verständlich werden:

Erst recht spät, nämlich seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts, hat sich die Philosophie in einer eigens dafür ausgebildeten Teildisziplin, der philosophischen Ästhetik, mit der Kunst beschäftigt. Der Begründung dieser philosophischen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica von 1750 liegt das rationalistische Motiv zugrunde, auch für die Sinnlichkeit ein - wenn auch ,niedrigeres' - Erkenntnisvermögen nachzuweisen, um sie überhaupt in den Bereich der Erkenntnis zu integrieren und damit letztlich der Leitung des Verstandes unterwerfen zu können. Da nun die Kunst als der ausgezeichnete Ort gilt, wo sich das Erkenntnisvermögen der Sinnlichkeit erweisen kann, wird sie als Bereich des Vollkommenen und des Schönen zum bevorzugten Gegenstand der Ästhetik. Von daher leitet sich denn auch die Zweiteilung der Ästhetik ab, daß sie sowohl Theorie der sinnlichen Erkenntnis als auch Theorie bzw. Philosophie der schönen Kunst sein soll; wobei in der klassischen Ästhetik der Anspruch erhoben wird, daß beide: die Theorie der Sinnlichkeit und die Kunstphilosophie aus einem gemeinsamen Prinzip begründet werden sollen.

Die Ästhetik als philosophische Teildisziplin entsteht also nicht aus Fragen, die sich der Philosophie von der Kunst her stellen, mithin nicht aus einem gelungenen Zugang der Philosophie zur Kunst, sondern von Anbeginn dominiert in der Ästhetik die Philosophie über die Kunst: zum einen durch ihr auf Erkenntnis gerichtetes, rationalistisches Eigeninteresse, das sich der Kunst als eines Demonstrationsobjektes bedient; zum andern dadurch, daß sich die Ästhetik ganz direkt aus der von der Rhetorik geprägten Tradition der Poetiken (der klassischen Dichtungslehren) entwickelt, in denen Regeln für die "richtige" Herstellung eines Kunstwerkes und somit sogar Normen für die Kunst theoretisch aufgestellt werden; und schließlich - um wenigstens noch ein weiteres wichtiges Argument zu nennen - ist für die Dominanz der Philosophie in dieser frühen Phase philosophischer Ästhetik auch verantwortlich, daß das Kunstschöne lediglich als ein Sonderfall des Naturschönen eingeführt worden ist.

In seiner 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft behauptet Kant ganz ausdrücklich die Modellhaftigkeit des Naturschönen für das Kunstschöne und leitet damit nur 40 Jahre nach Baumgartens Aesthetica die Zeit der großen, klassisch gewordenen Ästhetiken ein, zu denen auch Schellings Philosophie der Kunst und Hegels Vorlesungen über die Ästhetik gehören. Allen drei Ästhetiken ist gemeinsam, daß ihnen je ein fertig ausgearbeitetes philosophisches System zugrundeliegt, in welchem sie sozusagen den Schlußstein bilden. Dies bedeutet, daß die Entstehung auch dieser Ästhetiken vorwiegend philosophisch motiviert ist und daß sie durch ihre Stellung und Funktion in dem jeweiligen erkenntnistheoretischen System inhaltlich weitgehend vorstrukturiert sind. Zum Beleg hierfür wird gern auf Kant verwiesen, von dem man weiß, daß er, der Königsberg nie verlassen hatte, nur überaus geringe Kunstkenntnisse besaß. Schelling und Hegel waren zwar in der Kunst bewanderter, aber auch ihre Kenntnisse gingen ganz sicher nicht über die eines normalen Kunstgelehrten jener Zeit hinaus, so daß von daher ihre überragenden Leistungen in der philosophischen Ästhetik nicht erklärt werden können. Die Erkenntnisleistungen Kants, Schellings und Hegels erklären sich vielmehr dadurch, daß sie die logische Konsequenz einer jeweils neu entwickelten erkenntnistheoretischen Position darstellen. Solcher "Gleichschritt" mit der Erkenntnistheorie und die damit verbundene enzyklopädische Integration der Ästhetik in einen philosophisch-systematischen Gesamtentwurf hat diesen Ästhetiken ihre bis heute dauernde paradigmatische Geltung verliehen. - Festzuhalten bleibt, daß sie aus ihrer ,Systemstärke' heraus in einer ganz besonderen Weise über die Kunst dominieren; nämlich in der bisher wohl historischen Einzigartigkeit, daß die Kunst sich - wenn man etwa an Kants außerordentliche Einflüsse auf Schiller und an die Reaktionen der Frühromantiker auf Schelling denkt - die ästhetischen Theorien anverwandelt und sich ihnen sogar nachbildet.

Für das Ende dieser großen spekulativen philosophischen Ästhetiken sind zwei Faktoren wesentlich: erstens die Unmöglichkeit der Konzeption geschlossener erkenntnistheoretischer Systeme, wodurch die Ästhetik ihren ,Motor' und ihre Lenkung verliert; zweitens die damit verbundene Entwicklung, daß neben der spekulativen philosophischen Ästhetik sich eine empirische ,Ästhetik von unten' bildet, wofür Gustav Fechners Vorschule der Ästhetik von 1876 als frühes Beispiel gilt. Seitdem haben sich immer stärker die empirischen Wissenschaften wie die Psychologie und die Soziologie der ästhetischen Forschung angenommen. Aufgrund dieser Entwicklung und verursacht durch die Spezialisierung der Philosophie selbst, hat sich das einst einheitliche Phänomen ,Kunst' in viele Teilkomponenten zergliedert. Man wendet sich nicht mehr der Kunst, sondern den Einzelkünsten zu und unterscheidet innerhalb dieser Einzelkünste nochmals verschiedene Aspekte wie ihre Produktion und Rezeption, ihr Konstituiertsein und ihre Kommunikationsfähigkeit oder ihre mediale Beschaffenheit. Weitgehend unabhängig von der Philosophie gibt es ein Spektrum von Einzelwissenschaften, die sich aus ihrer jeweiligen Einzelperspektive heraus mit Einzelphänomenen des Ästhetischen beschäftigen. Dadurch sind die verschiedenen Versuche philosophischer Ästhetik zu Kunsttheorien unter anderen Kunsttheorien geworden, die alle mehr oder minder zusammenhanglos nebeneinander existieren.

Gleichwohl lassen sich die eigentlich philosophischen von allen anderen Kunsttheorien unterscheiden, und ich möchte gegenüber den verschiedenen kunsttheoretischen Ansätzen - den gestaltpsychologischen und den psychoanalytischen, den informationstheoretischen und den semiotischen, den soziologischen und anthropologischen, den kommunikations- und den medientheoretischen - drei genuin philosophische Theorierichtungen hervorheben, die sich ausdrücklieh in der Tradition philosophischer Ästhetik sehen und die Hauptströmungen der Gegenwart darstellen: erstens die phänomenologisch-hermeneutische Ästhetik, deren bekannteste Vertreter wohl Hans-Georg Gadamer und Roman Ingarden sind; zweitens die neomarxistischeideologiekritischebedeutungstheoretische, in der angelsächsischen Sprachphilosophie fundierte Ästhetik.

Im folgenden beziehe ich mich ausschließlich auf die beiden wohl bedeutendsten und produktivsten Strömungen philosophischer Ästhetik der Gegenwart im deutschen Sprachraum: die phänomenologisch-hermeneutische und die kritische Ästhetik, die beide an die große Tradition philosophischer Ästhetik unmittelbar anzuknüpfen versuchen. Trotz großer Unterschiede, ja sogar gravierender Gegensätzlichkeiten beider Richtungen gibt es hinsichtlich des uns hier interessierenden Sachverhaltes die merkwürdige Übereinstimmung, daß beide ihren Zugang zur Kunst mit ein-und-demselben immanent-philosophischen Problem überformen. Ganz kurz zusammengefaßt entsteht dieses Problem bei der phänomenologisch-hermeneutischen wie bei der ideologiekritischen Philosophie dadurch, daß sie aus je unterschiedlichem Grund und in Übereinstimmung mit unserem Zeitgeist ein Mißtrauen gegen die Reflexion hegen. Da es der Hermeneutik darauf ankommt - ich beziehe mich dabei auf Martin Heidegger -, daß das philosophische Reflektieren seinen eigenen Grund begreift, muß sie eine andere Zugangsweise zu diesem Grund suchen als die der Reflexion; denn wenn dieser Grund reflektierend erfaßbar wäre, könnte er nicht der Grund der Reflexion sein. Aus diesem logischen Dilemma soll die Kunst hinausführen, indem sie "als ins Werk gesetzte Wahrheit" (Heidegger) genau jene grund-sätzliche Wahrheit anschaulich vor Augen bringen können soll, die sich der Reflexion entzieht.

Dieselbe Funktion, nämlich Ort der Wahrheit zu sein, weist auch Adorno dem Kunstwerk zu. Er freilich mißtraut der Reflexion, weil seine Überlegungen zur Dialektik der Aufklärung gezeigt haben, daß sogar die aufklärerisch gemeinte Ideologiekritik selbst ideologiegefährdet ist. Durch aufklärerische, rationale Reflexion ist deshalb der durch den ideologischen Schleier gebildete "Verblendungszusammenhang" (Adorno) nicht zu zerreißen. Die Kunst allein soll - so Adornos dialektische Denkfigur -, weil sie selbst Schein ist, den täuschenden ideologischen Schein zerstören können.

Diese vor jedem konkreten Zugang zur Kunst aus philosophie-immanenten Überlegungen gestellte Wahrheitsfrage bildet die Perspektive, in der die Kunst der philosophischen Ästhetik überhaupt erst in den Blick gerät. Wenn auch für die Kunst solche Hochachtung durch die Philosophie schmeichelhaft sein mag, so darf dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Hochachtung gegenüber der Kunst nicht einer Erkenntnis ihrer wirklichen Qualitäten entstammt, sondern der Einsicht der Philosophie in ihre eigene Boden- bzw. Ausweglosigkeit. Phänomenologisch-hermeneutische und ideologiekritische Philosophie können nämlich gar nicht umhin, zu versuchen, die Kunst zur Lösung ihrer eigenen philosophischen Probleme zu benutzen, statt kraft ästhetischer Theorie die Probleme zu lösen, die sich aus der Kunst selbst stellen.

Will ästhetische Theorie nicht die immanent philosophischen Probleme ausblenden, wie es etwa die literaturwissenschaftlich orientierte Rezeptionsästhetik der "Konstanzer Schule" mit Erfolg tut (Hans-Robert Jauss, Wolfgang Iser) und will sie nicht einfach Ästhetik als "verdeckte Philosophiegeschichte" (Rüdiger Bubner) betreiben, worauf man sich mit der mehr oder minder schulmäßigen Interpretation der ästhetischen Klassiker an den philosophischen Seminaren gern beschränkt -, dann muß sie aus der hier zugespitzt formulierten Ausgangslage die scheinbar paradoxe Konsequenz ziehen, sich um der Philosophie willen von ihr abzuwenden: Denn gerade um die nicht durch Reflexion gewonnene Wahrheit der Kunst anschauen zu können, muß philosophische Ästhetik die konkreten Kunstwerke als Orte der Wahrheit aufsuchen, damit die ihnen eigene Wahrheit erfassbar wird. Das setzt freilich voraus, daß die philosophische Ästhetik zu den Werken der Kunst, gerade auch denen der modernen Kunst, überhaupt adäquaten Zugang findet. Obwohl dies als Notwendigkeit inzwischen in der Philosophie durchaus allgemein anerkannt wird, fehlt es aber nach wie vor an entsprechenden und erst recht an gelungenen Versuchen dazu. Aus diesem Grund drängt sich die Frage auf - wenn man nicht vom Unvermögen der Philosophie ausgeht -, ob dafür allein die von mir dargelegte Fixierung der Philsophie auf ihre immanenten Probleme und die daraus folgende Majorisierung der Kunst durch Philosophie verantwortlich ist, oder ob nicht die Kunst ihrerseits - und damit komme ich zum zweiten Teil - der Philosophie den Zugang zu sich erschwert oder sogar unmöglich macht.

Im Hinblick auf diese Frage ist zunächst festzustellen, daß zentrale Kategorien der großen Ästhetiken, die wegen ihrer systematischen Fundierung immer noch paradigmatische Geltung haben, von der tatsächlichen historischen Entwicklung der Kunst überholt worden sind. Es darf nicht unterschätzt werden, wie schwer es zum Beispiel der philosophischen Ästhetik gefallen ist, die Tatsache der ,nicht-mehr-schönen Künste' zu akzeptieren und sich mit ihrer Begrifflichkeit darauf einzustellen. Noch folgenreicher als das Veralten bestimmter Kategorien ist freilich für die Möglichkeit philosophischer Ästhetik der - fast programmatisch zu nennende - Grundzug der modernen Kunst, die Rezeption bzw. den Rezipienten ins künstlerische Kalkül einzubeziehen. Diese Tendenz der modernen Kunst, die zwar nicht alle, aber doch wesentliche künstlerische Strömungen der Moderne umfaßt, will ich zunächst an Beispielen belegen, die sich im wesentlichen auf einen ihrer historischen Ausgangspunkte und einen gegenwärtigen Endpunkt beschränken, um dann die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die philosophische Zugänglichkeit der Kunst zu verdeutlichen.

Wenn auch bereits in der Kunst der Romantik - wie ich in Aufsätzen über Philipp Otto Runge gezeigt habe - die Rezeption ein von Ludwig Tieck mit Bedenken bemerktes "Übergewicht ... über die hervorbringende Kraft des Künstlers" gewinnt, so wird dieses Übergewicht doch mehr theoretisch suggeriert als kunstpraktisch verwirklicht. Erst die Malerei des Impressionismus und besonders diejenige Cezannes findet ohne direkte Korrespondenz mit den romantischen Ideen die formalen Mittel, das Primat der Rezeption in der Kunst auch tatsächlich bildnerisch adäquat durchzusetzen.

Cezanne arbeitet im impressionistischen Sinn mit Unbestimmtheitsstellen. Darüberhinaus gibt es aber bei ihm das Phänomen, daß er besonders in seinen Aquarellen bzw. späten Ölbildern an etlichen Stellen das unbearbeitete, leere Papier bzw. die Leinwand stehen läßt. Solche absoluten Leerstellen tragen aber - im Unterschied zu den impressionistischen Unbestimmtheitsstellen - selbst überhaupt nichts mehr zur identifizierenden Bestimmung der abgebildeten Gegenstände bei. Sie bieten keinerlei materiale und somit objektive,Vorgaben' mehr für die Projektionen des Rezipienten, so daß sich der Bestimmungsgrund für die auf diese Leerstellen bezogenen Projektionen überwiegend in die Subjektivität des Rezipienten verlagert. Darum geht bei Cezanne die im Impressionismus noch objektiv gelenkte in eine subjektiv freie Projektion über. Tendenziell ist demnach bereits bei Cezanne der von ihm als Bild materialisierte Gegenstand mit dem durch subjektive Projektionen konstituierten Bild des Rezipienten nicht mehr identisch - das Werk des Künstlers entspricht nicht länger dem ,Werk' des Rezipienten.

Diese Nicht-Identität zwischen dem produzierten und dem rezipierten Werk, die bei Cezanne nur aufblitzt, aber durch die äußerste Anstrengung der kompositionellen Einbettung der Leerstellen sich noch nicht durchsetzt, ist eine wesentliche Ursache für die Auflösung der klassischen Werkeinheit. Hervorzuheben ist, daß diese Nicht-Identität sich von immer schon bestehenden, ,natürlichen' Nicht-Identitäten, wie sie etwa aus der Natur der Wahrnehmung oder aus persönlich oder gesellschaftlich bedingtem Unvermögen resultieren, dadurch grundsätzlich unterscheidet, daß sie in der materialen Organisation der künstlerischen Objekte ausdrücklich angelegt ist.

Indem jedoch Reflexion, die ja im Unterschied zur Unmittelbarkeit der Anschauung Nicht-Identität geradezu erzwingt, ins Werk über die Rezeption eindringt, wird die Werkeinheit weiter aufgelöst. Den ,qualitativen Sprung' zur vollkommenen Auflösung, also zur Entzweiung der klassischen Werkeinheit, finden wir in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht. Er wird erst ab etwa 1963 in den Arbeiten des Ersten Werksatzes von F. E. Walther beispielhaft vollzogen. Es handelt sich bei diesen Arbeiten um vom Rezipienten benutzbare "Objekte", die instrumentellen Charakter in dem Sinne besitzen, daß ihnen nicht selber schon Ästhetisches material anhaftet, sondern ihre Materialität funktional, auf Benutzbarkeit hin, organisiert ist. Erst die Benutzung soll dem Rezipienten eine gedankliche Konstitution des Ästhetischen ermöglichen, welches sich im Idealfall zu einem höchst komplexen, gestalthaften, also auch werkhaften Bewußtseinsgegenstand verdichten kann. Dieses Werk des Bewußtseins - wenn es denn gelingt - ist ein ausschließlich mental und damit immateriell existierender Vorstellungskomplex ohne jeden dinglichen Bestandteil. Denn die benutzbaren "Objekte" haben lediglich den Status von Werkzeugen, sind also Zeug für das Werk und, wie jedes andere Werkzeug, nicht selber im Werkstück anwesend - sie verzehren sich gleichsam im Werden des Werkes.

Wir haben es also hier mit dem künstlerisch wie theoretisch äußerst interessanten Phänomen zu tun, daß die aus "dinglichem Unterbau" und "ästhetischem Oberbau" (Heidegger) bestehende, kraft künstlerischer Formung unauflöslich gestiftete Einheit des klassischen Werkes endgültig zerfallen ist: in einen vom Künstler hervorgebrachten dinglichen Teil, der Instrumentalcharakter hat, und in einen vom Rezipienten gedanklich zu konstituierenden ästhetischenTeil, dem Werkhaftigkeit eignet.

Das Fazit meiner Überlegungen kann nun in kurzen und kategorischen Sätzen gezogen werden: es muß lauten, daß Kunst und Philosophie sich in einer absolut konträren Gegenbewegung befinden. Während wesentliche Strömungen gegenwärtiger Ästhetik aus philosophie-immanenten Gründen darauf angewiesen sind, Zugang zur Kunst über das Kunstwerk als den gesuchten Ort reflexionsunabhängiger Wahrheit zu finden, betreiben wichtige Tendenzen in der modernen Kunst systematisch die Auflösung und Entzweiung des Werkes und entziehen damit der philosophischen Ästhetik ihren Gegenstand. Für wie bedeutsam auch immer man diese Kunsttendenzen halten mag, unbestreitbar bleibt, daß ihre künstlerischen Hervorbringungen von den Rezipienten über die Anschauung hinaus unbedingt Reflexion verlangen und deshalb so lange von der Philosophie verkannt bleiben müssen, wie diese darauf beharrt, in den Kunstwerken der Wahrheit ausschließlich sinnlich anschaubar zu begegnen.

Auf die Frage, was denn der ästhetischen Forschung zu tun übrigbleibt, außer solche grundsätzlichen methodischen Überlegungen, wie ich sie hier angestellt habe, noch weiter und gründlicher voranzutreiben - und hiermit komme ich zum eingangs angedeuteten dritten Teil -, kann in der geforderten Kürze nur mit dem folgenden hoffnungsvollen Hinweis geantwortet werden: Die Gegenläufigkeit der in die Sphäre der Reflexion eindringenden Kunst und der das Reich der Anschauung ersehnenden Philosophie muß nicht als unvereinbarer Gegensatz interpretiert werden, sie beinhaltet gleichermaßen die Möglichkeit einer gegenseitigen Annäherung. Wenn nämlich die Philosophie nicht länger auf ihre bisherige Erwartung an die Kunst fixiert bliebe und sich die Kunst in ihrem Hang zur Reflexion nicht weiterhin von der Philosophie isolierte, dann könnte der Vorstoß beider ins angestammte Gebiet der anderen Disziplin zu einem Punkt gelangen, wo Kunst mit Philosophie zusammenfällt - und zwar als Ästhetik.

"Kann Theorie ästhetisch werden?" - Um diesen Gedanken Adornos verwirklichen zu können, "muß die Kunst die Reflexion sich einverleiben und so weit treiben, daß sie nicht länger als ein ihr Äußerliches, Fremdes über ihr schwebt; das heißt heute Ästhetik" (Adorno). Wenn also die philosophischen Zugänge zur Kunst versperrt sind, bleiben als mögliche und bisher unerprobte Lösungen des Problems immer noch die künstlerischen Zugänge zur Philosophie. Sie zu suchen und eine Gestalt von Ästhetik zu finden, die weder der alten Ästhetik der Philosophie noch der bisherigen Ästhetik der Kunst gleicht, dafür ist eine Kunsthochschule der prädestinierte Ort.


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