ask23 > Lingner, Walther: Paradoxien künstlerischer Tätigkeit

Michael Lingner, Rainer Walther

„Man muß den Begriff künstlerische Tätigkeit als eine konterrevolutionäre Auffassung des Schöpferischen ausmerzen."

El Lissitzky


Michael Lingner / Rainer Walther

Paradoxien künstlerischer Tätigkeit

(Thesen zum paradoxen Verhältnis schöpferischer Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Fremdbestimmung*)

Einleitung

Die künstlertheoretischen und geisteswissenschaftlichen Überlegungen, die Ende der 60er Jahre primär das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft problematisiert haben, sind in den beiden Gleichungen: "Kunst ist Leben" und "Jeder ist Künstler" sei es zum schlichten Schlagwort oder zur unverbindlichen Glaubensformel verkommen. Doch haben sie - einst Leitideen einer veränderten Kunstpraxis - seitdem gleichwohl nicht an Faszination verloren, geschweige denn ihre Berechtigung. Allerdings scheint heute die Möglichkeit ihrer Erfüllung zweifelhafter geworden angesichts einer zunehmend als unüberwindbar empfundenen Kluft zwischen Kunstpublikum und zeitgenössischen Künstlern.1

Trotzdem - die Erwartungen und Anstrengungen einer künstlerisch-praktischen Umsetzung dieser Ideale haben sich zu Unrecht und viel zu rasch - wie uns scheint -entmutigen lassen. Denn noch immer fehlt es an einer wirklich theoretischen Durchdringung der Konsequenzen, die aus solchen künstlerisch wie gesellschaftlich propagierten "Gleichheits"-Ansprüchen für eine zukünftige Kunstpraxis zu ziehen wären. Weder mit kunstkritischen Befürchtungen vom „Ende der Avantgarde"2 noch mit kunstpolitischem Argwohn gegen die klassischen Kunstinstitutionen läßt sich dieser Mangel an kunsttheoretischer Radikalität kompensieren - es sei denn, man gäbe sich fortan der Täuschung hin, daß für die Kunst als eine Szene erkünstelter Irrationalität (asylum ignorantiae) eine "Theorie der Nichttheorie"3 möglich sei, wie es das wilde "Denken" der "NEUEN" suggerieren will.

Im andern Fall freilich ist es notwendig - ehe auf Trends spekuliert oder "populistisch" in Organisationsfragen ausgewichen wird - "zuallererst" nach den Struktureigentümlichkeiten der künstlerischen Praxis selber zu fragen sowie nach den Bedingungen, unter denen sie sich, jenen beiden Leitideen entsprechend, der gesellschaftlichen Praxis prinzipiell anzugleichen vermag, ohne doch auf ihre ästhetische Substanz zu verzichten. Eine Antwort auf diese Frage versuchen wir unter dem Aspekt des Spannungsverhältnisses künstlerischer Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Fremdbestimmung zu gewinnen - mit der Intention, theoretische Reflexion zur produktiven künstlerischen Kraft fortzuentwickeln.

Im Unterschied zur Methodik der philosophischen Ästhetik etwa, die ihren Gegenstand aus theoretischen Begriffssystemen entfaltet, sind diese kunstsoziologisch motivierten und kulturpolitisch engagierten Überlegungen zuerst an der empirischen Wirklichkeit orientiert. Indes ist die Wirklichkeit der Kunstproduktion und -rezeption in ihrer Komplexität konkret weder unmittelbar noch umfassend zu erkennen, so daß - auch um der Allgemeingültigkeit der Aussagen willen - von ihr abstrahiert werden muß. Zum Zweck solcher Abstraktion haben wir uns von folgenden methodischen Regeln leiten lassen:

- mittels Generalisierung die besonderen Gegebenheiten der künstlerischen Tätigkeit so zu verallgemeinern, daß sie dem common-sense-Verständnis des Publikums und der Künstler entsprechen;

- durch Subjektivierung und Soziologisierung die Produktion und Rezeption von Kunst nicht auf ihre Realität "an sich" zu befragen, sondern danach, wie sie sich dem Erleben zwar durchaus subjektiv, aber eben im Licht gesellschaftlicher Geltungsansprüche darstellen;

- kraft die tatsächlichen künstlerischen und gesellschaftlichen Interessen in absolute Extreme zu steigern, damit sie in ihrer Differenz deutlich werden.

Ihrer Methode nach ist also die vorliegende Untersuchung - obschon empirisch orientiert - keineswegs statistisch fundiert; vielmehr basieren ihre theoretisch-analytischen Bestimmungen, Aussagen, Begründungen und Wertungen in dem Versuch einer idealtypischen Erfassung der Kunstwirklichkeit

I

Künstlerische Hervorbringungen erfüllen das Ethos der Modernität, wenn sie als wirkliche Innovationen das Bewußtsein ihrer Gegenwart authentisch reflektieren. Freilich wären sie aller genuinen Wirksamkeit beraubt wenn ihre Aneignung anstatt in zeitgenössischer Unmittelbarkeit zu geschehen, dem historischen Prozeß und seinen institutionellen Instanzen übereignet würde. Insbesondere entspricht die Forderung nach unmittelbarer, also nicht "museal" vermittelter Wirksamkeit jener Tendenz in der zeitgenössischen Kunst wonach Produzenten- und Rezipientenrolle konvergieren sollen. Die Einlösung dieser Forderung hätte allerdings zur Voraussetzung, daß die Rezeption von Kunst als (wirklichkeitserzeugende) Arbeit aufgefaßt und praktiziert wird, also einem Prinzip folgt das die unpriviligierte, formal durch keinerlei Exklusivitätsvorbehalt geschmälerte Partizipation Aller erlaubt,4 indem die gelingende Rezeption allein in den tätigen Willen des Rezipienten gesetzt wird. Weil aber die mögliche Rezeptionsform eines Gegenstandes durch die Weise seiner Produktion wesentlich mitbestimmt ist, - der traditionellen genialischen Auffassung künstlerischen Produzierens im 19. Jahrhundert hatten Formen kongenialer Rezeption entsprochen - wird mithin die Maxime, daß die ästhetische Rezeption des Künstlers wie das Verständnis der Gesellschaft gleichermaßen umfassende Bestimmung der künstlerischen Produktion als Arbeit erfüllbar.

Daß gerade um der Qualität ihrer Rezeption willen auch die künstlerische Produktion den allgemeinen gesellschaftlichen Kriterien für Arbeit zu genügen hat- denn worauf sonst, wenn nicht auf die "Vor-Arbeit" des Künstlers sollte die geforderte Anstrengung des Rezipienten vertrauen können - ist die unseren Überlegungen zugrundegelegte Prämisse. Sie führt allerdings, da das für Arbeit schlechthin in der Gesellschaft geltende Kriterium der Fremdbestimmung und der Anspruch des Künstlers auf Selbstbestimmung als das konstitutive Prinzip des Schöpferischen einander widersprechen, zu vier wesentlichen Paradoxien in der künstlerischen Tätigkeit.

II

Gemäß den bestehenden ökonomischen Devisen ist der künstlerische Wert von Werken - als potentieller Warenwert- in Geld konvertierbar. Geld aber gilt gesellschaftlich als der Indikator für Arbeit, so daß jede bezahlte künstlerische Tätigkeit als Arbeit akzeptiert wird. Die Anerkennung einer Tätigkeit als Arbeit im gesellschaftlichen Verständnis setzt indes gleichfalls voraus, daß sie der Fremdbestimmung unterliegt. Jedoch steht gerade diese Forderung im Widerspruch zum Selbstverständnis der Künstler, welche ihre in subjektiver Selbstentfaltung sich konstituierende Tätigkeit keineswegs für fremdbestimmt halten. Daß künstlerisches Produzieren (als intendierte Selbstverwirklichung) und künstlerisch Produziertes (als potentieller Tauschwert) also nicht gleichermaßen den gesellschaftlich geltenden Kriterien für Arbeit genügen können, führt zu einer ersten Paradoxie: Die künstlerische Produktion kann Arbeit sein, ohne daß der Künstler eigentlich arbeitet.

III

Eine Praxis, welche derart im Zusammenspiel von Bedingungen der Arbeit und Nicht-Arbeit sich verwirklicht, wird freilich in ihrer hermaphroditischen Eigentümlichkeit nur dann vom einzelnen Künstler durchzuhalten und von der Gesellschaft als legitime Arbeit anzuerkennen sein, wenn sie sich durch die Einzigartigkeit ihrer Werke den Anspruch auf finanzielle Entschädigung zu sichern vermag. Denn während für die Arbeit sonst -vorausgesetzt sie ist eindeutig als solche definiert -, die Bezahlung von ihrer konkreten Qualität weitgehend unabhängig erfolgt wird die Honorierung künstlerischer Tätigkeit überhaupt erst denkbar, wo ihr - vermeintlich oder tatsächlich - einzigartige Leistungen gelingen. Doch wenn der Künstler solch hohen Erwartungen nicht entspricht oder ihre Erfüllung von anderen (noch) nicht als solche erkannt wird, bleibt ihm die pekuniäre Wertschätzung versagt. Er setzt sich dann dem Vorwurf aus, im eigentlichen Sinn nicht zu arbeiten, eben ein Nichtstuer zu sein. Nun ist im Unterschied zur Arbeit eine Tätigkeit erst als "Leistung" zu qualifizieren, wenn ein subjektiv-freies Verhältnis zu den objektiv fremdbestimmten Arbeitsbedingungen verwirklicht werden kann. Darüber hinaus muß das Arbeitsergebnis, statt gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen, diese entweder übertreffen oder sogar neu formulieren. Wegen dieses "meliorativen" und innovativen Charakters bedarf eine Leistung immer der Rangbestimmung, inwieweit sie sich im Vergleich mit bereits konsensfähigen Leistungen als solche tatsächlich gesellschaftlich zu behaupten vermag. Freilich entziehen sich gerade künstlerische Hervorbringung - zumal diejenigen der Avantgarde - für die Zeitgenossen meist jeder Vergleichbarkeit, da sie in ihrer authentischen Modernität den Anspruch auf Unvergleichbarkeit provozieren. Deshalb haben jene Werke, deren künstlerischer Wert sich am ehesten als unstreitig erweisen wird, es besonders schwer, den Rang gesellschaftlich verbindlicher Leistungen zu erlangen-jedenfalls solange sie nicht historisch geworden sind. Diese aus der Spannung zwischen Tradition und Innovation entstehende Problematik der gesellschaftlichen Geltung künstlerischer Leistungen ist -zugeschärft- in einer zweiten Paradoxie zu formulieren: Je mehr der Künstler leistet um so weniger wird seine Leistung aktuale Anerkennung finden.

IV

Wäre indes der wahre Wert künstlerischer Innovationen kraft einer (immerhin denkbaren) kompetenteren Praxis der kunstvermittelnden Instanzen (Kunstkritik, -museum, -akademie usw.) schon für die Zeitgenossen einschätzbar, dann könnte, sofern solche Wertschätzung monetär eingelöst würde, zumindest das künstlerische Produkt sich Anerkennung als Arbeitsleistung verschaffen; dem künstlerischen Produzieren jedoch bliebe sie wegen seiner mangelnden Fremdbestimmtheit weiter versagt. Der Mangel an Fremdbestimmung beruht darauf, daß Künstler für den eigentlichen Akt des schöpferischen Produzierens das Recht totaler Selbstbestimmung reklamieren. Dennoch sollte die fehlende Fremdbestimmung keinesfalls durch den nachgerade sich aufdrängenden Versuch einer kurzschlüssigen Preisgabe der künstlerischen Selbstbestimmung kompensiert werden. Sinnvoller erscheint uns vielmehr eine kritische Betrachtung des Selbstverständnisses künstlerischer Selbstbestimmung.

Damit der schöpferische Akt zur Hervorbringung des Werkes sich eigengesetzlich entfalten kann, intendiert der Künstler die weitestgehende Negation aller externen Fremdbestimmung und duldet keine anderen ihn beschränkenden Bedingungen als die dem Hervorbringen selbst innewohnenden Gesetzmäßigkeiten des Materials und des Bildnerischen.5 Ebensowenig unterwirft er sich im Ausleben seiner momentanen subjektiven Bedürfnisse irgendeinem anderen als dem für die Vollendung des Werkes unbedingt notwendigen Zwang zur Ausdauer und Genauigkeit etwa.

Doch ist der Künstler in der Beherrschung des Materiell-Bildnerischen und des eigenen Selbst nicht nur diesem immanent-ästhetischen Sachzwang unterworfen. Darüber hinaus unterliegt er auch dem Naturzwang seiner Psyche, weil er während des eigentlich intuitivschöpferischen Aktes der Inkubation weitgehend der "Psycho-Logik" seiner inneren Natur d.h. den Mechanismen des Unbewußten anheimgegeben ist. Die Unverfügbarkeit dieses Naturzwanges als auch die Disziplinierung durch den Sachzwang bezeichnen demnach prinzipielle Grenzen der Selbstbestimmung des Künstlers, so daß beide Komponenten schöpferischer Selbstbestimmung faktisch als Fremdbestimmung aufzufassen sind. Freilich dient diese Fremdbestimmung einzig dem Werk und somit ausschließlich dem Zweck, den sich der Künstler- ob wissentlich oder unwissentlich -selbst auferlegt hat. Wegen dieses "Selbstzwecks" aber gilt solche immanent-ästhetische Fremdbestimmung denn auch der gesellschaftlich fundierten Fremdbestimmung keineswegs als gleichberechtigt was zu einer dritten Paradoxie führt: Obwohl der Künstler sich im schöpferischen Akt nicht wirklich selbstbestimmt, ist er auch nicht eigentlich fremdbestimmt.

V

In der zeitgenössischen Kunst sind zwei Tendenzen erkennbar, dieser Widersprüchlichkeit auf künstlerisch-praktische Weise zu entgehen. Wiewohl sie einander konträr gegenüberstehen, ist ihnen als Ursprung doch dieselbe für die Kunst der Moderne insgesamt charakteristische Neigung gemeinsam, die Entstehungsbedingungen des Kunstwerks im schöpferischen Akt zu reflektieren: Entweder tendiert die künstlerische Praxis zur Aufhebung der immanent-ästhetischen Fremdbestimmung im schöpferischen Akt indem sie mit analytisch-experimentellen Verfahrungsweisen in überaus artifizieller Beherrschung bildnerischer Mittel und Materialien über den Sachzwang zu verfügen sucht sowie über den Naturzwang mittelseiner möglichst rationalen Steuerung psychischer Prozesse. Oder aber die künstlerische Praxis tendiert zur Unterwerfung des schöpferischen Aktes unter das Diktat externer Fremdbestimmung indem sie aus der utopischen Idealität und Fiktionalität des "als ob" in den Anspruch unmittelbaren Einwirkens auf soziale Realität verfällt und der Gesellschaft mit "kritischen" oder affirmativen Funktionen sich andient. Für die eine wie die andere Tendenz indessen ist - am erwarteten Gewinn gemessen - der Verlust zu hoch: Die tendenzielle Aufhebung der immanent-ästhetischen Fremdbestimmung hat zu einer narzistsch selbstbefangenen Kunst des autonomen Formalismus geführt, die die bildnerischen Eigengesetzlichkeiten verabsolutiert und die psycho-logische Eigendynamik verdrängt so daß dem schöpferischen Akt der eigentliche Quell ingeniöser Innovationen verschlossen bleibt. Andererseits verspielt der dem Diktat externer gesellschaftlicher Fremdbestimmung gehorchende heteronome Realismus den spezifischen Erkenntniswert ästhetischer Erfahrung, so daß die virtuell universale kulturelle Wirksamkeit des Ästhetischen zum partikularen ausschließlich didaktischen oder dekorativen Mittel verkommt. Weder durch (autonome) ästhetische Selbstbestimmung noch durch (heteronome) gesellschaftliche Fremdbestimmung läßt sich mithin die künstlerische Tätigkeit in künstlerische Arbeit transformieren. Während ihr im einen Fall das (künstlerische) Moment des Ästhetischen fehlt mangelt ihr im anderen Fall das (gesellschaftliche) Moment des Arbeitens. Künstlerische Tätigkeit hat praktisch nur die paradoxe Wahl: Sie muß entweder arbeitslose Kunst oder aber kunstlose Arbeit sein.

VI

Die vier aufgewiesenen Paradoxien der künstlerischen Tätigkeit sind offenbar weder theoretisch noch praktisch aufzulösen. Deswegen drängt sich der Gedanke auf, daß ein unangemessener Begriff von den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der a) Selbstbestimmung bzw. b) Fremdbestimmung des Künstlers diese Widersprüchlichkeit erzwingt welche die gesellschaftliche Verallgemeinerung der ästhetischen Praxis zur Arbeit verhindern. Diesem Gedanken und seinen Konsequenzen soll im folgenden nachgegangen werden:

a)

Künstlerische Selbstbestimmung, die sich durch Aufhebung der dem schöpferischen Akt immanenten zwanghaften Bedingungen zu verwirklichen sucht, verfehlt den Anspruch, wirkliche Selbstbestimmung zu sein. Denn mit Recht kann von Selbstbestimmung nur dort die Rede sein, wo das Selbst das bestimmen will, von prinzipiell verfügbaren, d.h. der Reflexion und Verallgemeinerung fähigen Bedingungen auszugehen vermag. Deswegen sind die immanent-ästhetischen Bedingungen des schöfperischen Aktes in ihrer eigengesetzlichen Natur das ganz und gar falsche, weil entweder gar nicht oder doch nur auf Kosten des Schöpferischen verfügbare Objekt.

Jedoch ist nicht schon deshalb der Anspruch künstlerischer Selbstbestimmung aufzugeben: Statt daß der Künstler sein Verlangen nach Selbstbestimmung auf den Sach- und Naturzwang im schöpferischen Akt bezieht hätte er vielmehr den Begriff der künstlerischen Tätigkeit so zu erweitern, daß er außer den in ihrer naturhaften Eigengesetzlichkeit vorsozialen, lediglich für Kreativität generell konstitutiven immanent-ästhetischen Tätigkeitsbedingungen auch die kulturell-soziablen, speziell für Kunst konstitutiven Tätigkeitsbedingungen einbezieht. Diese von uns als intern-künstlerisch bezeichneten Tätigkeitsbedingungen sind von den extern-gesellschaftlichen relativ unabhängig, weil sie in die Kompetenz der relativ autonomen „Eigengesellschaft der Kunst"6 fallen, die als ein Subsystem der Gesellschaft ausdifferenziert wird durch die Gesamtheit all derer, die ästhetische Praxis je reflektieren. Den Reflexionsgegenstand dieser kraft "gedanklicher Verallgemeinerung" gestifteten "Denksozialität"7 bildet die Tradition der "ästhetischen Ideen"8. Weil sie als Ergebnis nicht unmittelbar gesellschaftlich bedingten Denkens, sondern einer durch Denken bedingten Gesellschaftlichkeit subjektiv wie intersubjektiv verfügbar sind, stellen sie den einzig denkbaren und relevanten Bezugspunkt für die Selbstbestimmung des Künstlers als Künstler dar.

Die konkrete Realisierung derart denksozial fundierter Selbstbestimmung enstünde darin, daß der Künstler aus den überlieferten Paradigmen der Kunst vorgängig seiner Praxis in forschungslogischer Disziplin eine subjektive Problemgeschichte "ästhetischer Ideen" rekonstruiert. Derauf diese Weise ausgebildete Zusammenhang kunstinterner Problemstellungen beinhaltet die generellen Bedingungen der Tätigkeit des Künstlers und dient ihm als Hypothese zur Antizipation seiner eigenen "ästhetischen Ideen", welche dann die speziellen Bedingungen seiner Praxis sind und entsprechend dem Entfaltungsgrad seiner Selbstbestimmung eigenständig und innovativ sein können.

Die eigentlich künstlerisch-materiale Um-Setzung dieser theoretisch gesetzten "ästhetischen Ideen" aber vermag nur in Akten schöpferischer Intuition zu gelingen. Doch diese Akte werden der Selbstbestimmung durchaus nicht entbehren, da sie ihren Inhalt: die spezifische ästhetische Problemstellung -vom Künstler zuvor in selbstbestimmter Aneignung der historischen sowie Setzung der eigenen "ästhetischen Ideen" empfangen haben. Durch die so begriffene Selbstbestimmung ist die schöpferische Intuition also nicht substituiert, sondern wird ihr Anwendungsbereich vielmehr rational und intersubjektiv nachvollziehbar gesteuert.

b)

Allein mit diesem Gewinn an Rationalität kann die künstlerische Praxis gleichwohl noch keine Geltung als gesellschaftliche Arbeit erlangen. Dazu bedarf sie unabdingbar der Fremdbestimmung, die ihr indes - wie jeglichem Arbeiten- nur über die Orientierung an externen gesellschaftlichen Zwecken zuwächst Gerade diese Möglichkeit ist aber der Kunst verwehrt, wenn sie nicht ihre große Tradition in der Moderne: die Durchsetzung und Wahrung ihrer Autonomie preisgeben will. Daher kann der Künstler die zur Transformation seiner Tätigkeit in Arbeit geforderte Fremdbestimmung nur durch eine Zwecksetzung erlangen, die dem externen gesellschaftlichen Interesse entspricht, ohne dem kunstinternen Interesse zu widersprechen. Dem zu Beginn unseres Jahrhunderts in der "absoluten Malerei" verabsolutierten, inzwischen klassisch gewordenen Autonomiebegriff zufolge, hat der Prozeß des künstlerischen Produzierens ganz und gar durch das kunstinterne Interesse bestimmt zu sein. Dagegen wird seine Vermittlung mit dem ihm als entgegengesetzt gedachten externen gesellschaftlichen Interesse - wenn überhaupt bedacht - ausschließlich der Rezeption überlassen. Als Resultat solch absolut autonom bleibender, allein von der (wie immer im einzelnen verstandenen) Vollkommenheitsidee des Künstlers regierten Kunstpraxis ist das klassische Kunstwerk ein lediglich kunstinterner Zweck. Und selbst wo der Künstler über den Zweck des Werkes hinaus eigentlich kunstexterne Zwecke berücksichtigt, ja sie als religiöse, moralische oder politische Einwirkung auf den Rezipienten vielleicht sogar bevorzugt verfolgt, versucht er doch nach der klassischen Kunstkonzeption, sie durch eine weitergetriebene ästhetische Vervollkommnung, d.h. durch Optimierung gerade des kunstinternen Zwecks zu erreichen.

Auch wenn demnach das klassiche autonome Werk keinesfalls der gesuchte externe " kunstfremde" Zweck für die künstlerische Produktion sein kann, bleibt es doch andererseits nicht allein als Garant der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung unersetzlich, sondern dessen eingedenk, daß "die Kunst im Werk west"9, als substantieller Zweck unbedingt zu wahren. Allerdings darf das Werk dann, wenn es Ertrag künstlerischer Arbeit sein soll, nicht länger in konventioneller Weise als ein ausschließlich interner Zweck künstlerischer Praxis gesetzt werden. Vielmehr ist es "nachklassisch" zu konzipieren, so daß in seiner Konstitution das interne künstlerische mit dem externen gesellschaftlichen Interesse zusammenfällt. Um dieser Kongruenz willen hätte der Künstler sich der bislang allein ihm selbst als materiale Produktion vorbehaltenen ästhetischen Konstitution des Werkes zu entäußern, indem er dessen Gelingen -vorzustellen als Konstituierung einer spezifischen Bewußtseinsformation - dem Rezipienten überantwortet. Mit dem von Rezipienten mental zu konstituierenden "immateriellen WERK" 10 wäre der künstlerischen Tätigkeit ein kunstexterner Zweck vorgegeben, welcher dem kunstinternen Interesse offenkundig korrespondiert - es sei denn, der Künstler wollte sein ("ständisches") Eigeninteresse: die Erhaltung des Privilegs der Werkproduktion - als Interesse der Kunst verkennen. Allein, ein auf die Autorisierung des Rezipienten gerichtetes Kunstwollen, das ästhetische Erfahrung durch das "Nadelöhr des individuellen Bewußtseins"11 hindurch gesellschaftlich - oder aber gar nicht - verwirklichen will, bedeutet nicht lediglich ein innerhalb herkömmlichen Kunstverständnisses neues Paradigma, sondern führt zu einer Art Paradigmenwechsel der Kunst selbst. Denn das Selbstverständnis des Künstlers sowie das Wesen dessen, was und wie er bisher produziert hat, wird dadurch grundlegend verändert Indem er als Künstler der Werkproduktion entsagt, besteht seine Aufgabe nicht länger darin, selbst eigene Kunstwerke hervorzubringen, sondern stattdessen Instrumente zu entwickeln, die für den Rezipienten - wie für den Künstler selbst als Rezipienten - zur Konstitution "immaterieller WERKE" notwendig und geeignet sind. Das Qualitätskriterium solcher vom Künstler zu produzierenden "Werk-Zeuge" liegt im Unterschied zur Selbstgenügsamkeit der klassischen Werke in ihrer Funktionalität, die sich einzig in der Erfüllung des - hier kunsttheoretisch gewonnenen, jedoch auch kunsthistorisch-ideengeschichtlich erschließbaren- externen Zwecks: der Entäußerung der werkgerichtet zu organisierenden mental-rezeptiven (statt material künstlerischen) Verwirklichung der ästhetischen Erfahrung erweisen kann.

Um indes als gesellschaftlich zweckgerichtete Arbeit nicht nur gedacht sondern als solche auch praktiziert werden zu können, bedarf die künstlerische Produktion der subjektiven Konkretisierung ihres vorgängig allgemein-theoretisch definierten "objektiven" Zwecks. Da diese Konkretisierung gleichfalls zur Ausformulierung der speziellen Bedingungen künstlerischer Praxis dient wie die problemgeschichtliche Rekonstruktion der "ästhetischen Ideen", ist sie zusammen mit dieser in ein und demselben Prozeß vollziehbar. Die als externer gesellschaftlicher Zweck gesetzte Autorisierung des Rezipienten zum mentalen Produzenten des "immateriellen WERKES" wird vom Künstler - gleichsam durch Re-Internalisierung des externalisierten Zwecks - als Leitfaden seiner notwendig subjektiven Rekonstruktion der Problemgeschichte "ästhetischer Ideen" gewählt. Dadurch wird es ihm möglich, die Bedingungen seines Produzierens in künstlerischer Hinsicht wirklich selbst zu bestimmen und auf einen gleichwohl gesellschaftlich fremdbestimmten, doch kunstkonformen Zweck zu beziehen, wodurch seine Tätigkeit tatsächlich in künstlerische Arbeit transformierbar wird.

VII

Vertraute Vokabeln wie "Dilettantismus", "angewandte Kunst" oder "Kunstdidaktik", die im Zusammenhang mit solcher Autorisierung des Rezipienten assoziiert werden mögen, treffen nur äußerst unzulänglich die mit dem Begriff des „immateriellen WERKES" eingeführte Möglichkeit der Vereinigung kunstinterner und kunstexterner Strukturen; denn weder in ästhetischer Imitation, noch Verwertung oder Belehrung liegt ihre Absicht. Deshalb sei für die hier angestrebte Revision des traditionellen Autonomiebegriffs im Sinne einer heteronom orientierten Autonomie künstlerischer Produktion und Rezeption spekulativ die Kategorie der Finalisierung der Kunst vorgeschlagen - in Anknüpfung an eine kategoriale Neubestimmung autonomer Wissenschaft durch die Wissenschaftstheorie.12 So wie "Finalisierung" dort einen Prozeß bezeichnet, in welchem "externe Zwecksetzungen gegenüber der Wissenschaft zum Entwicklungsleitfaden der Theorie werden", ohne daß damit der Wahrheitanspruch preisgegeben wird,13 bliebe in finalisierter Kunst gleichfalls das spezifisch Ästhetische im Übergang zu gesellschaftlicher Allgemeinheit gewahrt.


Anmerkungen:

* Dieser Text ist die Zusammenfassung eines in Kürze erscheinenden Aufsatzes mit dem Titel: „Paradoxien künstlerischer Tätigkeit. Prolog zur Finalisierung der Kunst", zu dem eine Vorstudie erschienen ist in: Kongressakten des 9. Internationalen Kongresses für Ästhetik, Belgrad 1980. S 90f.

1 "Fehlanzeige. Der Graben zwischen Künstler und Kunstpublikum "bleibt unüberbrückbar", so M. JOCHIMSEN: "Kunst als soziale Strategie", Kunstforum International Bd 27/1978. S 74

2 E. BEAUCAMP, "Ende der Avantgarde - was nun?", FAZ 5.1.1977

3 A. WILDERMUTH: "Die neue ästhetische Autonomie. Reflexionen zu Mimmo Paladino". Katalog: „Mimmo Paladino Zeichnungen 1976-1981, Kestner Gesellschaft Hannover 1981. S 22

4 Diese Auffassung der Kunstrezeption entspricht dem für die moderne Gesellschaft typischen soziologischen Prinzip der "Inklusion". Danach werden "alle Funktionskontexte für alle Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens zugänglich" gemacht N. LUHMANN: "Evolution und Geschichte", in: Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 2 (3) 1976. S 303f.

5 Diese Intention spricht sich erstmals am deutlichsten in der Ästhetik des Bauhauses aus. Zu ihrer Vorgeschichte vgl G. BANDMANN: „Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts", in: H. KOOPMANN/II. J. SCHMOLL (Hrsg.):"Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert", Frankfurt/M. 1972. S. 129-157

6 So die (glückliche) Formulierung von H.L. STOLTENBERG in: Verhandlungen des 7. deutschen Soziologentages 1930, Tübingen 1931. S 170

7 E. HUSSERL "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie", in "Husserliana 6" hrsg. von W. BIEMEL, Den Haag 19762. S 73

8 Vgl. I. KANT: "Kritik der Urteilskraft", hrsg. von K. Vorländer, Hamburg 1974 (Nachdruck: Berlin 1799)

9 "Die Kunst west im Kunstwerk" in: M. HEIDEGGER: „Der Ursprung des Kunstwerkes", Stuttgart 1970. S. 8

10 Theoretisch eingeführt wurde der Begriff in: M. LINGNER: "Selbstreflexion als Konstituens immaterieller WERKE", VIII. Internationaler Kongreß für Ästhetik, Darmstadt 1976 S. 31 f. Vgl. auch die künstlerisch-praktische Umsetzung in den "Modellen zur Genese des immateriellen WERKES", z.B. in: Katalog: „Zum veränderten Selbstverständnis von Künstlern", Kunstverein Hamburg 1979. S 60f.

11 Nach K BAIERS treffender Paraphrase des Leitgedankens von J. HABERMAS` Frankfurter Antrittsvorlesung (28.6.1965): "Erkenntnis und Interesse", in: H. BAIER:,, Soziale Technologie oder soziale Emanzipation?". In: (Hrsg B SCHÄFERS: „Thesen zur Kritik der Soziologie", Frankfurt/M. 1969. S 9-25(21)

12 G. BÖHME/W.v.k DAELE/W. KROHN: "Die Finalisierung der Wissenschaft", in: Zeitschrift für Soziologie 2 (2) 1973. S 128-144 (129)

13 G BÖHME/W.v.d. DAELE/R. HOHLFELD: "Finalisierung revisted", in: BÖHME et al: Starnberger Studien 1: Die gesellschaftliche Orientierung des wissenschaftlichen Fortschritts", Frankfurt/M. 1978. S 195-250(241)


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