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Michael Lingner

Das «Ganze» gibt's nicht mehr

Wien «Der Hang zum Gesamtkunstwerk» / Paris «L'Expo des Expos»: Zwei ungewöhnliche Ausstellungen, die eine im Museum des 20. Jahrhunderts und die andere im Musee des Arts Decoratifs, versuchen die Welt als Ganzheit zu erfassen.

Das Gesamtkunstwerk ist ein paradoxes, gerade deshalb für die Moderne und ihre Kunst aber überaus symptomatisches Phänomen, das entsteht, als es eigentlich schon vergangen ist: Es wird erst zum Thema und zur ästhetischen Idealvorstellung am Anfang des 19. Jahrhunderts, als es als Selbstverständlichkeit aufgehört hat zu existieren. Solange die Kunst in kultische, religiöse oder feudalistische Funktionszusammenhänge eingebunden war, wurden Werke geschaffen, welche - wie etwa die griechische Tragödie, die gotische Kathedrale oder das barocke Schloß - nach unserem heutigen Begriff den Charakter von Gesamtkunstwerken hatten; entstanden durch die Vereinigung verschiedener Künste und integriert in die lebensweltliche Wirklichkeit waren es gleichsam natürliche, als solche weder bewußt geschaffene noch erlebte Gesamtkunstwerke.

Indem die Kunst sich freilich der Fesseln ihrer konventionellen Funktionszusammenhänge entledigte und Autonomie dadurch erlangte, daß sie sich nur noch den eigenen, kunstimmanenten Gesetzen unterwarf, um allein ihrer selbst und ihrer spezifisch ästhetischen (nicht religiösen, oder moralischen, noch belehrenden) Qualitäten wegen anerkannt zu werden, sonderten sie die Künste voneinander ab und verloren zugleich ihre bisherigen Bindungen zur Lebenswirklichkeit. Die autonomen, von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen sich abgrenzenden Künste konnten infolgedessen nicht mehr als Kristallisationspunkte des «Ganzen» fungieren und die Totalität menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten vermitteln. Diesen Verlust, der mit dem Gewinn an Autonomie zwangsläufig einhergeht, versuchen die Gesamtkunstwerk-Ideen des 19. Jahrhunderts zu kompensieren, ohne dabei allerdings die Autonomie der Künste wieder preisgeben zu wollen.

Die Krise kirchlich organisierten Glaubens und die zunehmende Individualisierung des Einzelnen, dem bewußt wird, daß nicht seine Stadt, sein Land oder sein Kontinent, sondern die ganze Welt der Horizont seines Handelns sind, machen indes den Verlust des Sinns und der Anschauungsmöglichkeit des «Ganzen» zu mehr als einem immanent ästhetischen Problem, auf das deshalb auch außerästhetische Lösungsversuche antworten: So werden im 19. Jahrhundert die Ideologien, jene nicht mehr religiös-, sondern vernunftbegründeten Ideen richtiger Lebens- bzw. Gesellschaftsordnungen, als auch die Weltausstellungen geboren.

Daß die Kunst für die Erfahrungsmöglichkeiten des «Ganzen» vielleicht sogar nur sekundäre Bedeutung hatte, macht die bis zum 4. 12. 83 im Pariser Musee des Arts Decoratifs stattfindende Ausstellung «L'Expo des Expos» - «Die Ausstellung der Weltausstellungen» deutlich (dazu erschienen: Le livre de expositions universell 1851-1989, Paris 1983). Auf der ersten Weltausstellung 1851 in London ist die Kunst überhaupt nicht vertreten und auch auf den meisten folgenden Ausstellungen spielt sie eine sehr untergeordnete Rolle. Interessant ist, daß auf keiner Weltausstellung der - doch eigentlich naheliegende - Versuch unternommen wurde, eine künstlerische Gesamtkunstwerk-Konzeption zu verwirklichen. Wie der chronologische Überblick anhand von Bildern und Schautafeln über sämtliche bisher stattgefundenen Ausstellungen zeigt, war vielmehr jede Weltausstellung darum bemüht, durch architektonische Großtaten selber die Funktionen eines Gesamtkunstwerkes zu erfüllen: Das erhabene Gefühl angesichts der gewaltigen Dimensionen jener Wahrzeichen des menschlich Machbaren sollte die unüberblickbare Vielfalt und verwirrende Fremdheit des Ausgestellten zu einem Ganzen integrieren.

Solche Integrationsversuche waren gerade für die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts besonders bedeutsam, weil es für das mitteleuropäische Selbstverständnis galt, auch die Lebensformen jenseits der eigenen Zivilisation als zur Welt gehörig zu akzeptieren. An der 4. Weltausstellung 1867 in Paris beteiligten sich erstmals auch die entlegensten Länder; 1887 wieder in Paris werden ethnologische Porträts der einzelnen Nationen versucht und zur Weltausstellung 1889 anläßlich des 100jährigen Jubiläums der französischen Revolution ist ein authentisch rekonstruiertes Dorf aus Afrika mitsamt seiner 300 Eingeborenen in Paris zu sehen. Auf den Weltausstellungen des 20. Jahrhunderts überwiegen dagegen die technischen Attraktionen, deren Komplexität durch die symbolische Repräsentation in wie immer auch gearteten Wahrzeichen nicht mehr überzeugend zu einem Ganzen zu integrieren sind, denn das Wesen der Technik ist jeder Anschaubarkeit entzogen.

Daß das Ganze heute unanschaulich bleiben muß, zeigt auch die von H. Szeemann im Kunsthaus Zürich erarbeitete Ausstellung «Der Hang zum Gesamtkunstwerk - Europäische Utopien seit 1800». Sie ist nach ihrer letzten Station in Düsseldorf jetzt bis 13. 1. 84 im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien zu sehen und unternimmt den einmaligen Versuch einer umfassenden Präsentation von Gesamtkunstwerken. Trotz der einfühlsamen Auswahl und Plazierung der Werke sowie der authentischen Rekonstruktion vieler verschollener oder zerstörter Arbeiten (z. B. Schwitters MERZBAU) wird von der Ausstellung enttäuscht sein, wer ein multimediales Spektakel erwartet. Denn Gesamtkunstwerke sind meistens Konzeptionen geblieben und das, was das eigentlich Gesamtkunstwerkhafte an ihnen ausmacht, liegt fast immer in ihrer Idee - dies gilt selbst für Wagner. Darüberhinaus haben Gesamtkunstwerke mit dem unauflösbaren Dilemma zu kämpfen, daß eine wie immer geartete Dinglichkeit, sei sie akustisch oder visuell wahrnehmbar, nie das «Ganze» sein, sondern immer nur auf das «Ganze» verweisen kann. Zur Entschlüsselung dieses Verweischarakters hat der handbuchartige Katalog (Verlag Sauerländer / 68,- DM) eine wichtige Funktion. Er enthält chronologisch gegliedert umfangreiches Material zu den mehr als 40 Künstlern sowie grundlegende Aufsätze zu verschiedenen Aspekten des Themas Gesamtkunstwerk (u. a. von B. Brock, W. Hofmann, O. Marquard).


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