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Michael Lingner

Die Kunst auf den Kopf gestellt

Franz Erhard Walther dem Großmeister der ästhetischen Entmaterialisierung zum Achtzigsten

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Diese Titulierung mag zunächst erstaunen, da es F. E. Walther in seiner Kunstpraxis immer wieder gelungen ist, phänomenale formale Erfindungen zu machen, die im wahrsten Sinn des Wortes vorbildhaft waren. Doch es dauerte Jahrzehnte bis die besonderen materialästhetischen Qualitäten seiner Arbeiten ebenso wie ihre erheblichen Einflüsse auf andere zeitgenössische KünstlerInnen breitere Wertschätzung fanden. So hat dieser lange als schwierig geltende Künstler nur allmählich in der Kunstwelt eine gewisse Popularität erlangt, die schließlich 2017 auf der Biennale di Venezia mit dem begehrten Goldenen Löwen gekrönt wurde.

Bei aller inzwischen erfolgten weltweiten Würdigung ist die von Walther überdies auch geleistete Revolutionierung des Werkbegriffs in ihrer eminenten Bedeutung weitgehend noch gar nicht recht erkannt oder fast schon wieder vergessen worden. Zentral für die Entwicklung seiner umwälzenden Kunstkonzeption ist der bereits zwischen 1963 und 1968 von ihm geschaffene "1. Werksatz". Er umfasst 58 aus festen Stoffen gefertigte Arbeiten, die Walther schlicht als "Objekte" bezeichnet hat, um damit programmatisch zu erklären, dass sie nicht als (Kunst-)Werke angeschaut werden sollen.

Es wird nach wie vor unterschätzt, dass diese durch seine "Objekte" fundierte Behauptung bis heute den Anfang einer anderen Kunst in sich trägt. Denn die historisch stets aus" "dinglichem Unterbau" und "ästhetischem Oberbau" (M. Heidegger) bestehend gedachte Werkeinheit zerbricht daran. Die Vorstellung, dass ein Werk als unauflösliche gegenständliche Einheit kraft künstlerischer Formung geschaffen werden kann, wird damit obsolet. Denn es vollzieht sich der Zerfall in einen einerseits vom Künstler hervorgebrachten dinglichen Teil, der gleichsam als Werkzeug fungiert; und andererseits in ein vom Rezipienten selbst mit dem Instrumentarium der "Objekte" real zu erhandelndes ästhetisches Momentum. Dann ereignet sich das eigentliche Werk im Bewusstsein als eine mentale und somit immaterielle und individuelle Vorstellungsfigur - oder eben gar nicht.

In vergleichbarer Weise aber aus anderen Gründen wurde bereits in der romantischen Kunst gezweifelt, ob Gott oder das Unendliche überhaupt noch bildlich darstellbar oder aber nur vorstellbar sei.

So hat es zuerst etwa P.O. Runge explizit postuliert und auch praktiziert, dass die künstlerischen Hervorbringungen vor allem als ein "Werkzeug zu schönen Träumen" dienen. Diese Entwicklung fortschreibend, ist dann gut einhundert Jahre später vom Bauhausmeister W. Kandinsky die "Epoche des großen Geistigen" proklamiert worden. Mit F.E. Walthers Bestrebungen zur ästhetischen Entmaterialisierung erreicht diese Tendenz ihren bisherigen Höhepunkt und in der potentiellen Überwindung des verheerenden Materialismus vielleicht auch einen Wendepunkt.


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