ask23 > Lingner: Was macht den "anderen Werkbegriff" eigentlich aus?

Michael Lingner

Was macht den "anderen Werkbegriff" eigentlich aus?

Franz Erhard Walther dem Großmeister der ästhetischen Entmaterialisierung zum 80.

Diese Titulierung mag zunächst erstaunen, da es F. E. Walther in seiner Kunstpraxis immer wieder gelungen ist, phänomenale formale Erfindungen zu machen, die im wahrsten Sinn des Wortes vorbildhaft waren. Doch es dauerte Jahrzehnte bis die besonderen materialästhetischen Qualitäten seiner Arbeiten ebenso wie ihre erheblichen Einflüsse auf andere zeitgenössische KünstlerInnen breitere Wertschätzung fanden. So hat dieser lange als schwierig geltende Künstler nur allmählich in der Kunstwelt eine gewisse Popularität erlangt, die schließlich 2017 auf der Biennale di Venezia mit dem begehrten Goldenen Löwen gekrönt wurde.

Bei aller inzwischen erfolgten weltweiten Würdigung ist die von Walther überdies auch geleistete Revolutionierung des Werkbegriffs in ihrer eminenten Bedeutung weitgehend noch gar nicht recht erkannt oder fast schon wieder vergessen worden. Zentral für die Entwicklung seiner umwälzenden Kunstkonzeption ist der bereits zwischen 1963 und 1968 von ihm geschaffene "1. Werksatz". Er umfasst 58 aus festen Stoffen gefertigte Arbeiten, die Walther schlicht als "Objekte" bezeichnet hat, um damit programmatisch zu erklären, dass sie nicht als (Kunst-)Werke angesehen werden sollen.

Es wird nach wie vor unterschätzt, dass diese durch seine "Objekte" fundierte Behauptung bis heute den Anfang einer anderen Kunst in sich trägt. Denn die historisch stets aus" "dinglichem Unterbau" und "ästhetischem Oberbau" (M. Heidegger) bestehend gedachte Werkeinheit zerbricht daran. Die Vorstellung, dass ein Werk als unauflösliche gegenständliche Einheit kraft künstlerischer Formung geschaffen werden kann, wird damit obsolet. Denn es vollzieht sich der Zerfall in einen einerseits vom Künstler hervorgebrachten dinglichen Teil, der gleichsam als Werkzeug fungiert; und andererseits in ein vom Rezipienten selbst mit dem Instrumentarium der "Objekte" real zu erhandelndes ästhetisches Momentum. Dann ereignet sich das eigentliche Werk im Bewusstsein als eine mentale und somit immaterielle und individuelle Vorstellungsfigur - oder eben gar nicht. Die "Objekte" verbergen und verbürgen lediglich eine Werk-Option.

In vergleichbarer Weise aber aus anderen Gründen wurde bereits in der romantischen Kunst gezweifelt, ob Gott oder das Unendliche überhaupt noch bildlich darstellbar oder aber nur vorstellbar sei. So hat zuerst etwa P. O. Runge explizit postuliert und es auch praktiziert, dass die künstlerischen Hervorbringungen vor allem als ein "Werkzeug zu schönen Träumen" dienen. Diese Entwicklung fortschreibend, ist dann gut einhundert Jahre später vom Bauhausmeister W. Kandinsky die "Epoche des großen Geistigen" proklamiert worden. Mit F.E. Walthers Bestrebungen zur ästhetischen Entmaterialisierung erreicht diese Tendenz ihren bisherigen Höhepunkt und in der potentiellen Überwindung des verheerenden Materialismus vielleicht auch einen Wendepunkt.

Um die Stimmigkeit der vorab kurz umrissenen Kunstkonzeption von F. E. Walther zu beurteilen, ist die Diskussion der Frage wichtig, inwieweit die Unterscheidung zwischen seinem und einem tradierten Werkbegriff eigentlich begründet ist. Denn schließlich ist davon auch die generelle Einschätzung abhängig, welcher Stellenwert traditionellen künstlerischen Hervorbringungen nach Walthers Diktum noch zuzusprechen ist. Zwar wird diese für den Kunstbetrieb brisante Nachfrage zumeist als bloß akademische oder gar geschäftsschädigende Spitzfindigkeit ignoriert oder sogar diffamiert. Sofern aber die Infragestellung wegen ihrer möglicherweise gravierenden Konsequenzen ernst genommen wird, lässt sich eine argumentative Auseinandersetzung nicht umgehen.

Argumentationen gewinnen an Glaubwürdigkeit, wenn sie eine möglichst starke Gegenposition zu entkräften wissen. Es findet sich kaum ein besseres Fundament für das Verständnis der vorherrschenden Kunstauffassung als bei I. Kant, von dem die elaborierte Form der Werkbetrachtung als ein Prozess der "ästhetischen Kontemplation" begriffen wird. Diese wird von ihm als ein zu "ästhetischem Wohlgefallen" führendes sich "wechselseitig belebendes Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand" konkretisiert.

Dass ein derart als ideal gedachter Rezeptionsprozess tatsächlich auch mit hoher geistiger Aktivität verbunden sein kann, ist kaum anzuzweifeln. Folglich wird dieser Umstand immer wieder als zunächst recht überzeugender Grund dafür bemüht, die Kontemplation als eine Art "mentales" Handeln mit der Praxis des "realen" ästhetischen Handelns einfach gleich zu setzen. Damit scheint jede Differenz zwischen dem auf kontemplativer Werkbetrachtung beruhenden ästhetischen Erleben und dem ästhetischen Handeln schlüssig widerlegbar zu sein.

Doch die Gleichsetzung beruht auf einem Fehlschluss. Denn andere darüber hinaus weiter bestehende wesentliche Unterschiede zwischen einem ästhetischen Erleben von Kunstwerken und dem auf immaterielle Werkvorstellungen ausgerichteten "Objekt"gebrauch werden vollkommen vernachlässigt:

- Während bei der Kontemplation die verschiedenen Deutungen eines Werkes nebeneinander existieren können und letztlich kontingent bleiben, ist von den verschiedenen mit den "Objekten" möglichen Handlungen" nur jeweils eine einzige zu verwirklichen. Denn es lässt sich Vieles vorstellen, aber immer nur Eines tun. So gewinnen durch den Entscheidungszwang und die Realisierungsperspektive alle auf reales Handeln gerichteten Erwägungen eine größere Intensität und Bestimmtheit.

- Während das kontemplative Wechselspiel zwischen Einbildungskraft und Verstand introvertiert und von privater Unverbindlichkeit bleibt, erfolgt ästhetisches Handeln darüber hinaus extrovertiert und ist ein potentiell öffentlicher Akt. Denn alle aus Handlungen resultierenden Veränderungen einer gegebenen Situation gehören zu den Anfangsbedingungen für jedes nachfolgende Erleben und Handeln, welches dadurch immer wieder neu inspiriert werden kann.

- Während der kontemplative Betrachter auf sich bezogen bleibt und Distanz zu anderen Personen ebenso wahrt, wie die als erhaben und unnahbar geltenden Werke es ihm gegenüber tun, muss jeder Handelnde sich öffnen und auf die Umwelt kommunikativ einlassen. Er vermag nur als gleichberechtigt Beteiligter, im kommunikativen Austausch und unter Einbeziehung der eigenen Leiblichkeit agieren.

Also unterscheidet sich ästhetisches Handeln von der ästhetischen Kontemplation nicht unbedingt durch einen höheren Aktivitätsgrad. Vielmehr ist entscheidend die gesteigerte Intensität, Soziabilität, Kommunikativität und Parität des ästhetischen Handelns wie vor allem auch die damit einhergehende Realitätserfahrung. Dass ihr ein außerordentlicher Stellenwert zukommt, sei durch folgenden Hinweis erläutert: Nach der Sprechakttheorie gilt beispielsweise die verbale Abgabe eines Versprechens zwar durchaus auch als Handeln. Aber davon ist das faktische Handeln bei der Erfüllung des Versprechens doch sehr verschieden. Andernfalls wäre, wer sich nach dem sog. rheinischen Motto verhält: "Ich habe es ja bereits versprochen, dann muss ich es doch nicht auch noch halten", keineswegs zu tadeln.

Für die Qualität der Kunstrezeption ist darüber hinaus der Umstand wesentlich, dass das ästhetische Erleben durch ästhetisches Handeln keineswegs verdrängt wird, sondern eine echte Erweiterung erfährt. Derart die fiktive Welt der Kunst zu durchbrechen und ihre Werte im Handeln real werden zu lassen, kann von großer künstlerischer Bedeutung aber hoffentlich auch ein gesamtgesellschaftlich wirksames Modell sein. Im politischen Kontext zeigt sich nämlich gerade das globale Problem, dass es bei der derzeit immer größer werdenden Differenz zwischen der Vereinbarung schöner Ziel-Vorstellungen einerseits und einem entsprechenden Handeln andererseits leider Gottes um Welten gehen kann.


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