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Julia Mummenhoff

Runge Heute: Konstruierte Empfindung - Beobachtbare Zeit

Rezension

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Zum 200.Todestag des Malers Philipp Otto Runge (23.07.1777 - 02.12.1810) entstand in einer Kooperation von HFBK und Kunsthaus Hamburg auf Initiative von Michael Lingner, Professor für Kunsttheorie an der HFBK, das Ausstellungsprojekt »Runge Heute«. Es nimmt Runges komplexes Bezugssystem zwischen Theorie und Praxis auf und aktualisiert es in einer Schau von Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler.

Anders als die historisch angelegte Schau »Kosmos Runge« in der Hamburger Kunsthalle will das Ausstellungsprojekt »Runge Heute« in erster Linie eine aktualisierende und regional fokussierte Auseinandersetzung mit Runge leisten - tatsächlich haben alle beteiligten Künstlerinnen und Künstler an der HFBK studiert oder waren oder sind dort Professoren. Zum Entstehungsprozess der Ausstellung, der im November 2009 begann, gehörten regelmäßige Arbeitstreffen aller Beteiligten sowie das Symposium »Romanticism Revisited« (7. bis 8 .Mai 2010) an der HFBK. Während der Vorbereitungszeit stiegen einige Künstlerlnnen aus dem Projekt aus, dafür kamen neue hinzu, so ist die Zusammensetzung der ausstellenden Künstlerlnnen eine deutlich andere, als die deranfänglich eingeladenen Gruppe, die während der Arbeitstreffen, Ideen, Arbeitsansätze und Pläne für die Ausstellung diskutierte. Zusätzlich bezieht die Ausstellung vorhandene künstlerische Positionen ein, die sich mit dem Erbe Runges auseinandersetzen.

Die in der Ausstellung präsentierten Arbeiten nähern sich im Wesentlichen konzeptuell, ideen- oder bildgeschichtlich Runges Werk an, wobei Verzeitlichung und Naturerfahrung im Mittelpunkt stehen. Einige Arbeiten greifen Motive auf, wie etwa die Farbkugel, die in mehreren Installationen aber auch in den Fotoarbeiten des ehemaligen HFBK-Professors Kilian Breier aus den 1960er Jahren auftaucht. Die Illlustrationen zu Ludwig Tiecks »Die sieben Weiber des Blaubart« von Marco P. Schäfer sind in diesem Zusammenhang eine Hommage an Runges Scherenschnitte. Und sowohl Beate Gütschows Fotoarbeit »LS#3« von 1995 als auch Nana Petzets Unter suchung des Elb-Biotops »Peutegrund« scheinen im Ausstellungskontext für das besondere Verhältnis Runges zur Landschaft zu stehen. Auch sie verhandeln das Thema der Landschaft als Konstrukt in einem zeitgenössischen Kontext.

Jan Timme hat mit seiner Installation eine Versuchsanordnung konzipiert, in der im Zusammenhangn mit Runges Werk wichtige Begriffe modellhaft verbildlicht, aber auch hinterfragt werden. Drei kreisrunde Spiegel stehen auf unterschiedlich hohen Stativen in einem Abstand von etwa drei Metern in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks angeordnet, so dass sie sich selbst in endloser Perspektive spiegeln. BetrachterInnen, die sich in das Arrangement begeben, können sich selbst über die Schulter sehen. Sie erfahren sich selbst als konstituierende Kraft und können »ihre eigene Subjektivität ebenso wie die räumlichen, institutionellen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reflektieren«, so Timme. Während der Endlos-Effekt sich auch mit zwei Spiegeln bereits erzeugen lassen könnte, wird der Ausstellungsraum durch die dreifache Anordnung entsprechend der Positionierung der Betrachter in wechselnde Perspektiven einbezogen. Die zwiespältige Rolle der Betrachter als Produzenten und als Rezipienten ist es, auf die Timme abzielt. So sind die Betrachter nicht nur im Bild präsent, wie bei einer gewöhnlichen Spiegelung, sondern betrachten sich selbst von hinten, blicken also in ihre eigene Blickrichtung und sind in ihre eigene Perspektive eingespannt. Es ist nach Timme eine »Erweiterung der Übertragung, die stattfindet, wenn man z .B. vor einem Bild von Caspar David Friedrich steht und die Blickrichtung der in Rückenansicht und in eine Landschaft eingebunden dargestellten Figur teilt«.

Jürgen Albrecht hat in einer Nische des Ausstellungsraums eine seiner Guckkasten-Architekturen angelegt. Der Blick schweift durch illusionistische Raumfluchten, verliert sich darin und stößt immer wieder auf Wände, hinter denen es nicht weitergeht. Das Labyrinthische dieser Konstruktion wird gesteigert durch die durchmischte Beleuchtung mit Kunstlicht und vermeintlichem Tageslicht. Dieses entpuppt sich als flackernde Filmaufnahme des Außenraums des Kunsthauses bei Tag.

Michael Lingner beteiligt sich auch als Künstler an der Schau und überrascht mit einer Installation, die zum Teil käuflich ist. »DieMahlzeiten« thematisiert Polaritäten wie Sinnlichkeit und Verstand, Wuchern und Konstruktion, Minimalismus und Kitsch. Zu dem Ensemble gehört das Multiple »Romantik-Rhizom«. Es ist ein 18-teiliges, aus sechs Gedecken bestehendes Geschirrservice in einem speziell dafür entworfenen Tragegestell. Auf den Tellern sind ornamental angeordnete Texte, die Bezüge zu Themen wie »Geschmack« und »Romantik« herstellen, deren Leitmotiv sich mit jedem Essens-Gang verändert und die als spielerische Anregung für interessante Tischgespräche zu verstehen sind. Natürlich könnte man die Käuflichkeit auch als eine bewusste antiromantische Maßnahme betrachten, vor allem aber erschließt sich die Bedeutung der Arbeit über den Gebrauch, daher auch die Möglichkeit, sie in der Ausstellung zu erwerben. Runge selbst hätte damit kein Problem gehabt. Er entwarf zeitlebens Dinge für den täglichen Gebrauch: Ofenschirme, Spielkarten, und selbst sein Hauptwerk, der Zyklus »Die Zeiten« war als Zimmerschmuck gedacht.

Ausstellung Runge Heute: Konstruierte Empfindung - Beobachtbare Zeit

Vom 05.02.bis 22. 05. 2011 Kunsthaus Hamburg

Jürgen Albrecht, Thomas Baldischwyler, Kilian Breier, Beate Gütschow, Volker Lang, Jochen Lempert, Michael Lingner, Marco P. Schäfer, Sven Temper, Jan Timme, Maria Tobiassen, Franz Erhard Walther. Gast: Nana Petzet.


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