ask23 > Walther: Michael Lingner fragt: Gibt es eine Differenz zwischen "innerem" und "äußerem" Handeln, oder ästhetischer Kontemplation und Aktion?

Franz Erhard Walther

Michael Lingner fragt: Gibt es eine Differenz zwischen "innerem" und "äußerem" Handeln, oder ästhetischer Kontemplation und Aktion?

Welche Bedeutung hat diese Unterscheidung für den Kunstentwurf Walthers und möglicherweise für die Perspektiven künftiger Kunstentwicklung?

Meine Kunst ist aus dem Gefühl erwachsen, dass ich innerhalb der klassischen Genres und mit den überlieferten Materialien nicht das machen kann, was ich mir vorstelle. Die Gattungen und die dort vorgefundenen Materialien erschienen mir begrenzt und es drängte sich die Vorstellung auf, dass damit schon alles gesagt ist, was in der Kunst formuliert werden kann. Am Anfang eine zwar vage, aber trotzdem enorm wirksame Imagination.

Mein Zeichentalent und der Sinn für Farben hatten in mir sehr früh den Wunsch aufkommen lassen, Künstler zu werden und dann vom Anfang des Studiums an verhindert, etwa im Zeichnen-Können ein Ziel der Kunst zu sehen. Es war ein Mittel und machte den Kopf für andere Dinge frei.

Woher die Vorstellung kam, den Betrachter an der Werkbildung zu beteiligen, kann ich nur vermuten. Jedenfalls war sie rudimentär schon vor dem Beginn meines Kunststudiums da. Es sind Blätter aus den Jahren 1955-57 erhalten, die an die Vorstellung des Betrachters appellieren: ausradierte Zeichnungen, bei denen nur Spuren belassen sind. Es sollten bei der Betrachtung die Gegenstände in der Vorstellung neu errichtet werden. Kopfumrisse, in die der Betrachter eine imaginierte Physiognomie, Rahmenzeichnungen, in die er seine Bildvorstellungen hineinprojizieren sollte. Und es gibt ältere Karikaturen, bei denen Jahre später Teile mit dem Federmesser herausgeschnitten wurden mit der Absicht, den Betrachter zu veranlassen, die Leerstellen imaginativ zu ergänzen. Gleichzeitig versuchte ich mich an teilweise großformatigen, formal vereinfachten Symbolbildern, denen der Betrachter Bedeutung verleihen sollte.

Ich begann Anfang 1957 ein Studium an der Werkkunstschule Offenbach, die ich aus Unkenntnis für eine Kunstakademie hielt. Das spielte jedoch für meine Entwicklung keine Rolle. Ich fand dort brauchbare Techniken vor. Es konnte etwa die gleichförmige, doch formlose Schraffur auf den Rückseiten der umzupausenden Schriftentwürfe so gesehen werden, dass der Betrachter sie in der Vorstellung zu einer Gestalt weiterführt.

Die farbig eingestrichenen Papierbögen, die für Formausschnitte zur Plakat- und Bucheinbandgestaltung vorgesehen waren, konnte man auch als Projektionsflächen sehen. Ein darauf gesetztes, vereinzeltes und damit monumentalisiertes Wort konnte den Anspruch erheben, ein Instrument zur Hervorbringung ganzer Vorstellungsreihen zu werden.

Ich war beschäftigt, jedoch ohne eine Aussicht, mit diesen Dingen künstlerisch Erfolg zu haben. Doch mich faszinierte die Idee, die Arbeiten nicht mehr als kontemplativ zu erlebende Dinge zu sehen, sondern sie aus einer Handlung heraus zu denken. Statt der Haltung des Verharrens eine Haltung der Tat!

Mir war bald klar, dass ich hier, etwa mit dem Medium des Bildes, keine Lösung finden würde. Eine Verlagerung in die Plastik war ebenfalls kein Weg, da ich hier lediglich von einer zweidimensionalen Kunst in die dreidimensionale gewechselt wäre. Den als überlebt empfundenen traditionellen Werkbegriff, der das Werk im geformten Objekt sieht, hätte ich dabei nicht zu bewegen vermocht. - Meine Vorstellung, ein Werk aus einer - auch physischen - Handlung heraus zu denken und nicht in einer kontemplativen Haltung zu sehen, bestimmte gegen Ende der 50er Jahre mein künstlerisches Denken. Und so reagierte ich auch auf die Zeugnisse der Kunstgeschichte, hin bis zu den vermeintlich neuesten Formulierungen. Dabei unterschied ich sehr wohl zwischen den Werken und den dahinter stehenden oder vermuteten Theorien. Mit diesem Gepäck wechselte ich von der Werkkunstschule Offenbach an die Hochschule für Bildende Künste Frankfurt. Dort entledigte ich mich bald der aufgezwungenen Studienschritte und betrieb meine Forschungen in Richtung Materialprozess, Rahmenzeichnung, Leere Fläche, Formlosigkeit - alles mit dem Ziel, den Betrachter in die Situation zu bringen, in einer »Inneren Handlung« das Werk zu entwickeln. Doch bald wurde ich wegen dieser als eines »Kunststudiums nicht gemäß« bezeichneten Unternehmungen von der Hochschule gewiesen und ich wechselte an die Kunstakademie Düsseldorf, da ich mir bei dem dort lehrenden informellen Maler K.O. Götz Toleranz gegenüber meinen Untersuchungen versprach. Wie sich zeigte, hatte ich mich darin nicht getäuscht. Götz liess mich in Ruhe arbeiten, doch hatte ich Spannungen mit einigen Mitstudenten und hier gerade mit jenen, die ich am meisten schätzte. Trotzdem konnte ich in Düsseldorf das in Offenbach und Frankfurt Begonnene produktiv weiterführen. Götz bat mich, die informellen Rahmenzeichnungen noch einmal aufzugreifen. Das versuchte ich in größeren Formaten, doch erwies sich das als künstlerisch aussichtslos. Die Arbeiten enthielten zu viel an Merkmalen konventioneller Malerei und genau das wollte ich ja vermeiden. Mein Ziel war: raus aus den tradierten Genres, sowie ohne die überlieferten Mittel und Materialien zu arbeiten. Nur so bestand eine Aussicht, das Werk aus den historischen Bindungen zu lösen, was mir notwendig erschien, wenn ich es nicht rezeptiv-kontemplativ, sondern als Handlungsfeld haben wollte.

Ich vereinfachte die Rahmenzeichnungen und propagierte, dass die leere Fläche in der Vorstellung zu füllen sei. Da ich oft beidseitig zeichnete, erschien mir das Papierblatt als flacher Körper. Der Gedanke war naheliegend, diesem Volumen zu geben. Ich klebte Papiere an den Rändern zusammen, beliess auch in der Mitte Lufteinschlüsse oder füllte diese mit angemessenen Materialien. Das künstlerisch unbelastete Material Luft, die Beidseitigkeit, die Materialprozesse, die Abwesenheit herkömmlicher Gestaltung, die Abbildlosigkeit, die formgleichen Wiederholungen, weder Zeichnung noch Bild noch Plastik, doch das dabei durchaus Zeichnerische, Bildhafte und Plastische meiner Experimente faszinierte mich. Die Arbeiten begannen im realen Raum zu agieren, sie hatten sich definitiv vom Illusionsraum des Bildes gelöst und dabei körperliche Eigenschaften angenommen. Damit verloren sie auch einen festen Ort für ihre Präsentation. Sie konnten auf einer Wand als Reihe hängen, aber auch auf dem Boden als Block liegen. Sie konnten dort als Reihe oder Block hängen oder liegen, und so auch in gestapelter Form verbleiben. Für ihren Werkstatus war das unerheblich. Denn der Aufbau gehörte genauso zu ihrem Werkcharakter wie die Lagerform.

Die Lagerform als Werkform wurde zum Appell an die Vorstellung, auch dort das Werk aufzurichten. Der Schritt, nun auch die Hantierung der Teile als Werkhandlung zu sehen, war naheliegend. Auf dem Boden oder einem Tisch liegend, an die Wand gelehnt oder auf einem Bord stehend konnten die Arbeiten auch konventionell als Plastiken gesehen werden. Doch änderte sich für mich ihr Status dramatisch, wenn man sie in der Hand hielt. Sie nahmen dann einen instrumentellen Charakter an. Die die Stücke in der Hand haltende Person wurde in gewisser Weise zum Sockel und Rahmen. Wo war nun das Werk? Im Spannungsfeld von Ganzheit und Fragment, oder Werkstück, Lagerung, Handlung, Werkidee, Erlebnis, Erfahrung?

Hier hatte ich Entscheidungen zu fällen. Da ich nicht alles gleichzeitig haben konnte, vernachlässigte ich etwa den Materialprozess zugunsten von Handlungsprozessen, auch weil mich der Gedanke faszinierte, damit den eigenen Körper, Zeit, Raum, Ort, Sprache, Geschichte und Erinnerung zu einem Material machen zu können, mit dem das Werk modelliert, geformt wird. — Welche Aussichten bot dieses Materialverständnis gegenüber den überlieferten Werkstoffen!

Doch entgegen der mir in der Folge von wohlmeinenden Künstlerfreunden nahegelegten Sicht, die physische Handlung als große Errungenschaft der inneren Handlung als überlegen gegenüber zu stellen, habe ich auf beiden Handlungsformen als Bestandteil meines Werkbegriffes bestanden.

Der physischen Handlung entspricht auch immer eine innere Handlung. Ohne diese wäre eine Körperhandlung leer. Offen blieb die Frage, ob eine innere Handlung, die nicht nur kontemplativ ist, unbedingt auch einer Körperhandlung bedarf.

Da es hierzu keine eindeutige Antwort gab, thematisierte ich auch das in meinem 1. Werksatz. Dort gibt es Werkstücke, die deutlich eine Körperhandlung in Zeit und Raum verlangen, aber auch solche, die im körperlichen Verharren die Handlung soweit minimieren, dass primär die Form der Körperhaltung/ Körperposition Werkcharakter hat. Das Gewicht liegt hier deutlich auf einer Inneren Handlung. Eine kontemplative, betrachtende Werkerfahrung jedoch kann das nicht sein, da ein Werk im traditionellen Sinne ja nicht existiert, sondern in der Vorstellung erst hervorgebracht werden muss.

Gäbe es eine Antwort auf die hier liegenden Werkfragen, ich hätte kein Motiv gehabt, die Definition eines Werkes aus der Handlung in immer anderen Werkstücken anzugehen. So habe ich weitergearbeitet und dabei mehr Fragen gestellt als Antworten gesucht oder gefunden.

Eines wurde mir bei den frühesten Werkhandlungen, ob innere oder äußere, bald klar: Naiv nur auf »Erlebnis«, »Erfahrung« als Werkgrundlage zu setzen, führt nicht weit. Hinzukommen müssen Formvorstellungen, Raumprojektion, die Idee von »Innen« und »Außen«, Zeit als Modellierstoff, plastische Definitionen, Handlungskonzept. Diese Erkenntnis hatte zur Folge, dass ich darauf sann, all dies in Zeichnungen festzuhalten. Abbildhaft-beschreibend würden sie nur in Ausnahmefällen sein können. Ich nannte diese Zeichnungen zunächst »Diagramme«. Doch da all das, was hier seinen Niederschlag fand, war mit dem Begriff nur teilweise umrissen. Da ich in den beidseitig bearbeiteten/bezeichneten Blättern auch »Werk« formuliert sah, verwendete ich fortan dafür ebenso den Begriff »Werkzeichnungen«. In diesen wohl um 5.000 Blättern, da beidseitig bearbeitet 10.000 Zeichnungen, die zwischen 1963 und 1975 entstanden, sind meine Werkvorstellungen, sofern sie fassbar waren, enthalten. Papierformate habe ich nicht gewählt, vielmehr mich für das europäische und amerikanische Standardformat entschieden, auch, damit die gesamte Werkgruppe als ein Tagebuch gesehen werden kann. Das Vertrauen in die traditionelle Form der Zeichnung als Mittel zur Veranschaulichung der Werkvorstellungen musste nach meinem experimentell zeichnerischen Arbeiten zu Beginn der sechziger Jahre wieder wachsen. Dabei wurde Sprache ein unverzichtbares Mittel. Sprache konnte Formen und Formen Sprache hervorbringen.

Die traditionelle Form der Zeichnung: Doch ist hier der von Überlieferungen unterschiedene Werkbegriff meines Erachtens klar zu sehen. Zumal wenn man die Zeichnungen mit den Werkstücken des 1. Werksatzes und den damit formulierten Handlungen zusammendenkt. - Inneres Handeln und äußeres körperliches Handeln sind in meiner Kunst nicht gleich, sie bilden aber auch keinen Gegensatz. Ich habe beide Pole in all den Jahrzehnten immer als etwas Verschränktes erlebt. Das Innere Handeln war für mich nicht kontemplativ, betrachtend, sondern gebunden an reale Handlungen in Zeit und Raum und also ein tätiges Moment. Hier gab es immer die Situation, Entscheidungen fällen zu müssen, allein weil die Werksituation immer eine real körperliche war. Das konnte nicht in einem beliebigen Nebeneinander von Vorstellungen bleiben. Zu betrachten gibt es ja nicht viel und es gibt kaum feste Gegenstände. Eine Werkgestalt würde man so nicht erreichen können. - Erst die Handlung, ob eine Innere oder Äußere, erzeugt ja so etwas wie einen Gegenstand, wenn auch keinen stofflichen. Es fallen hier auch Handeln und Erleben zusammen.

Diese Vorstellungen, so denke ich, hat erst der 1. Werksatz in die Welt der Kunst gebracht. Jedenfalls befasste diese sich bis zu dem Zeitpunkt mit anderen Fragen. Die Sache war in den 60er Jahren neu und unvertraut, wenn es auch Vorläufer gab. Werke als etwas Prozessuales zu sehen, war nicht ungewöhnlich, sondern: die Thematisierung von Handlungsprozessen und diese als Werke zu sehen. - Das in den 70er Jahren jedoch bruchlos fortzuführen, erschien mir aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Weder war die zeitlich-räumliche Expansion, noch die Reduktion ein Weg, und — Variationen der Werkstücke wollte ich nicht machen.

Ende der 70er Jahre setzte sich die Vorstellung durch, in den Werkstücken bildhaft zu werden. Ich wollte mir wieder ein geformtes Gegenüber schaffen. Die Handlung als Werkgrundlage wurde nun zum Werkbestandteil. Ich hielt das für eine Übergangssituation, doch sie hat sich zu meiner Verblüffung lange gehalten. Trotz dem teilweise Bildhaftwerden und dem Verzicht auf expansive körperliche Handlungen wird >Der Andere Werkbegriff < ja nicht beschädigt. Denn weiterhin muss das Werk in einer Handlung aufgerichtet werden. Ob dies nun primär körperlich oder eher projektiv geschieht, ist bei den Arbeiten der 80er und 90er Jahre nicht entscheidend.

Lager als Werkform. Handlung als Werkform. Noch immer bin ich von diesem Spannungsfeld fasziniert. Es bleibt die Frage: wozu das Ganze. Es ist ja kein Selbstzweck. Für mich: mit meinem Werkbegriff und den Werkstücken kann ich mir die Geschichte des Menschen und sein Handeln erklären, und kann mir auch erklären, wie wir in der Gegenwart ankommen können.

Über die Zukunft meines Werkbegriffs und dessen Wirkung und mögliche Bedeutung zu spekulieren, steht mir jedoch nicht zu.


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