Adolf Hölzel
Unsere Vergesslichkeit ist eine enorme,


Unsere Vergesslichkeit ist eine enorme, namentlich indem wir älter werden und unsere Gedanken nicht mehr so sehr auf Neues oder Anderes concentriren können. Überhaupt muss man sich im Alter ganz besonders vor den allgemeinen Oberflächlichkeiten hüten. Schon die Art[,] wie wir Bilder und Zeitschriften ansehen[,] gehört mit zu beiläufigsten und oberflächlichsten Studium. Erst wenn wir uns wieder [.?.] sollen oder wenn Jemand eingehender über eines oder das andere dieser Bilder und Zeichnungen spricht[,] merkt man, wie wenig genau man hingesehen hat. Dabei ist es bei Controversen interessant[,] mit welcher Energie manches in den Kunstwerken nicht oder fa1sch Gesehene verteidigt. Man glaubt übrigens gar nicht[,] welche Summe von künstlerischer Halbbildung dabei zum Vorscheine kommt und die Dehnbarkeit des Wortes ist u. erscheint nie crasser[,] als wenn Menschen über Dinge[,] die sie nicht genau wissen sprechen und diese zu verteidigen haben. Hier bekommt man oft ein Grausen vor dem Unsinn[,] der von solchen gesprochen und auch geschrieben wird, denen Gott mit dem Amt auch Verstand geben sollte. Es ist geradezu fürchterlich[,] wie wenige Menschen für ihr Amt wirklich passen. Dann aber kommt noch dazu, dass wenn die notwendigen Schlagworte geprägt und ausgegeben sind[,] diese[,] unbekümmert um alles andere[,] ausgespielt u. verteidigt werden. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich ein derartiges Schlagwort oder Bon mot u. alle Welt hat Anhaltspunkte für die alltägliche Conversation und den Tratsch. Ganz gleich ob das betreffende Schlagwort auch wirklich berechtigt ist. Bei solchen immer wiederkehrenden Gelegenheiten muss ich immer an das Staunen des Helden in Tolstoi's Anna Karenina denken. Dabei ist gerade die Stelle[,] wo er immer darauf hinweisen will[,] dass von falschen Prämissen ausgegangen wird als er im Ministerium vorspricht, meisterhaft. Wo dann in der Folge von hochtrabenden Dingen gesprochen wird, während er im Gespräch immer wieder darauf hinweisen möchte, dass dies mit dem Eigentlichen gar Nichts mehr zu tun hat; während die andern beiden im Eifer des Gesprächs keine Zeit und Gedanken haben darauf einzugehen, sich auf das Eigentliche zu besinnen. So ist es auch im täglichen Gespräch eine Kunst das Wesentliche festzuhalten, bei allen Dingen das Wesentliche zu erfassen. Am besten wird dies umgangen in den verschiedenartigsten Commissionssitzungen, wo in einer bestimmten Zeit in der Regel ohne besondere Vorbereitung oder eingehenderes Studium die wichtigsten Dinge im Sinne von ausgegebenen Schlagworten absolvirt werden.
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