Adolf Hölzel
24. September 1914. Dem Weib ist


24. September 1914. Dem Weib ist der Geschmack angeboren. Nicht blos, sondern die ganze Erziehung geht von Jugend auf darauf hinaus. Man sehe nur die kleinen Mädchen an wie sie oft herausgeputzt werden. Geschmack will anerzogen und geübt werden. Jene Nationen[,] die in dieser Hinsicht einen grösseren Werth darauf legen und den Geschmack mehr üben[,] auch die Mittel dafür consequenter ausnützen, werden naturgemäss den anderen überlegen sein; auch in der ständigen Neuerfindung der Mittel. Und was muss in der Mode Alles zusammenhelfen! Hier sehen wir am besten[,] wie sich die angeborene Empfindung allein in keiner Weise messen kann mit einem Endresultat, das sich zusammensetzt aus der angeborenen Geschmacksempfindung und einer Summe weiterer Geschmacksübungen[,] bei denen die ganze Welt des Geschmackes zusammenwirkt und die notwendigen Vergleiche herausfordert. In dieser Hinsicht ist die ganze Welt Richter und rückhaltslos wird der Nation der Preis [,] die hinsichtlich der besten und originellsten Resultate an der Spitze steht. Die Frage[,] ob dieses Alles dann für das menschliche Leben das Wichtigste ist, sei hier ausgeschaltet. Es ist das nur daraufhin erwähnt; weil ja für die Schaffung eines Kunstwerkes ein auserlesener Geschmack Grundbedingung ist. Ist aber schon bei sehr gewöhnlichen und unidealen Dingen Geschmacksbildung eine Notwendigkeit, um wie viel mehr bei den höchsten idealen Gütern[,] in denen Geschmack und eine verfeinerte Empfindung eine so wesentliche Rolle spielen. Es sei auch noch der Hinweis daraufhin gestattet, dass das ungebildete Mädchen vom Lande auch in der Regel nicht im Stande ist, trotz der edelsten Stoffe und Zutaten, wie man sie ja jetzt allenthalben zu kaufen bekommt, sich geschmackvoll im Sinne einer städtischen Forderung anzuziehen, zu kleiden. Schon aus diesem erhellt, wie wichtig für bestimmte Güter eine ideale Geschmacksbildung ist. Wie notwendig, dass auf diese schon von Jugend auf die grösste Aufmerksamkeit verwendet, der möglichst kürzeste und richtigste Weg sie zu erlangen, eingeschlagen wird. Geschieht dieses an unseren Bildungsanstalten in genügend ausgiebiger Weise? Insbesondere aber an unseren höheren künstlerischen Bildungs-Anstalten genügender Art? Auf diese Frage können wir ruhig "Nein" sagen. Es wird also nachzudenken sein, in welcher Weise hier nachzuhelfen, zu reorganisiren wäre. Denn, wenn trotz ausgezeichneter künstlerischer Lehrkräfte, die Resultate keine genügenden sind, muss es am System liegen. Da kommen wir sehr bald auf den springenden Punkt; dass von Jugend auf keine genügenden Geschmacksübungen hinsichtlich der künstlerischen Mittel[,] insbesondere in Deutschland vorhanden ist. Ich brauche hier gar nicht auf unseren grossen Krieg und die dafür notwendige und so ausgezeichnete Ausbildung hinzuweisen; obwohl er das ausgezeichnetste Beispiel dafür abgiebt. Aber da wir zunächst nicht verlangen können, dass in den Volks-und Mittelschulen künstlerische Übungen vorgenommen werden, so werden Vorbildungsschulen an den betreffenden Lehranstalten zu schaffen sein.
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