Philipp Otto Runge
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Joh. III. 3. Wahrlich, Wahrlich, ich sage dir: Es sey denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er
das Reich Gottes nicht sehen. Item Matth. XVIII. 3. Es sey denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die
Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen § 1. Wie ein Mensch geboren ist in einem Talente,
und wie ihn solches auf etwas anderes nicht ruhen läßt. (Randbemerkung: Wie ein Mensch nicht geboren
werde, um von selbst und ohne Mühe zur Kunst zu gelangen. Wie er nicht gleich von selbst eigentlich sieht
und wie er sehen erst lerne.) 2. Wie er, wenn er seine Eigenschaft zur Anschauung gebracht hat, dadurch
der Freyheit benommen wird. (Randbemerkung: da er nun weiß, was er sieht, damit aber auch weiß, was er
nicht sieht.) 3. Wie er sucht, die Art eines Andern sich zum Muster zu nehmen, da er seinem Ich entnommen
ist, und wie er dadurch nur unruhiger wird, Wie er sich wissenschaftlich zum Besitz seiner ersten
Productionskraft zurückarbeiten will, und es vollends gar todt in ihm wird. 4. Wie er durch die Betrachtung der
Werke Andrer, die vollkommen sind, erst recht auf die Wissenschaft kommt, und wie er durch die
Wissenschaft die Productionen Andrer in der Natur und in seinen eignen Gedanken wiederfindet. -0der: Wie
er mit Sehnsucht und herzlichem Verlangen die Werke großer Meister betrachtet, und ihm doch däucht, sie
wären ihm verwandt, und er sehr betrübt wird, daß er nichts ist noch hervorbringen kann, und ihn solche
Gestalten nun nicht ruhen lassen, bis er sie endlich in den Menschen (und Erscheinungen), die ihn umgeben,
wiederfindet. 5, Wie er nun freudig und getrost wird, und wieder Muth hat, etwas hervorzubringen, und ihm
die Mühe, die er sich gegeben, wissenschaftlich zur Hervorbringung lebendiger Werke zu kommen, nun zu
statten kommt, und ihm seine vorige Unruhe zu einem lebendigen Brunnen der mannichfaltigsten Wunder
geworden, da ihm innerlich das Auge in der Natur aufgegangen; und wie er in rechter Bescheidenheit seine
Wissenschaft erweitert, da er sieht, wie er nichts wisse, und sich nur freut, auf das Lebendige, was er noch
hervorbringen möchte, und sich selbst in der Arbeit gar vergißt. -
So wie es zweyerley Arten giebt, wie der Sinn für die Kunst uns zu etwas Lebendigem führt, wenn die
Erkenntniß in uns zusammenhangend geworden, so giebt es auch zweyerley Wege, wie er sich überhaupt
zuerst in uns aufschließt: in den Einen nämlich wird durch die Practik der Sinn für das Schauen in
Kunstwerken sowohl als in der Natur erst erweckt; in den Andern hingegen durch Anschauen erst der Trieb
für die Practik erregt, der oft verborgen im Menschen schläft, und durch das, was seiner Ahnung entspricht,
oft mals erst äußerlich entzündet wird. Es würde daher eine Zeichenschule, die auch mit einer Auswahl von
guten Kunstwerken versehen wäre, den Schülern jenen doppelten Weg öffnen können, daß nicht allein, wie
in allen guten Schulen, diejenigen, welche durch die Ausübung selbst erregt werden, hier die rechte
Gelegenheit fänden, sie zu cultiviren, sondern umgekehrt auch der andre Theil, durch das Anschauen von
meisterlichen Werken erregt, die Begierde und Lust zur Practik in sich erweckt fände. Es würden so beiderley
Naturen eher freyen Raum haben, sich zu entfalten, als wo es nur auf Eine Weise möglich gernacht ist; und
dies um so mehr, da wechselseitig Talente sich reizen und bilden müssen.
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