ask23 > Feyerabend: Wider den Methodenzwang

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Paul Feyerabend

Wider den Methodenzwang

Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie

* Einige Bemerkungen zum Gebrauch des Ausdrucks »Anarchismus« finden sich in Anmerkung 12 zur Einleitung sowie im Text zu den Anmerkungen 16 ff. in Kapitel 16.

Analytisches Inhaltsverzeichnis d.i. Skizze des Hauptgedankengangs

Vorwort zur deutschen Ausgabe 11

Einleitung

Die Wissenschaft ist wesentlich ein anarchistisches Unternehmen: der theoretische Anarchismus ist menschenfreundlicher und eher geeignet, zum Fortschritt anzuregen, als »Gesetz-und-Ordnungs«-Konzeptionen. 28

1

Das wird sowohl durch eine Untersuchung historischer Episoden als auch eine abstrakte Analyse des Verhältnisses von Denken und Handeln gezeigt. Der einzige Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert, lautet: Anything goes (Mach, was du willst). 35

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Zum Beispiel kann man Hypothesen verwenden, die gut bestätigten Theorien und/oder experimentellen Ergebnissen widersprechen. Man kann die Wissenschaft voranbringen, indem man kontrainduktiv vorgeht. 47

3

Die Konsistenzbedingung, nach der neue Hypothesen mit anerkannten Theorien übereinstimmen sollen, ist unvernünftig, weil sie die ältere und nicht die bessere Theorie am Leben hält. Hypothesen, die gut bestätigten Theorien widersprechen, liefern uns Daten, die auf keine andere Weise zu erhalten sind. Theorienvielfalt ist für die Wissenschaft fruchtbar, Einförmigkeit dagegen lähmt ihre kritische Kraft. Die Einförmigkeit gefährdet auch die freie Entwicklung des Individuums. 53

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Kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte. Die gesamte Geistesgeschichte wird in die Wissenschaft einbezogen und zur Verbesserung jeder einzelnen Theorie verwendet. Auch politische Einflüsse werden nicht abgelehnt. Sie können notwendig sein, um den wissenschaftlichen Chauvinismus zu überwinden, der sich der Einführung von Alternativen zum Status quo widersetzt. Den Alternativen muß es erlaubt sein, sich zu vollständigen Subkulturen auszubilden, die nicht mehr auf Wissenschaft und Rationalismus beruhen. Das Induktionsproblem aber stellt sich als ein Scheinproblem heraus. 69

5

Keine Theorie stimmt jemals mit allen Tatsachen auf ihrem Gebiet überein, doch liegt der Fehler nicht immer bei der Theorie. Tatsachen werden durch ältere Ideologien konstituiert, und ein Widerstreit von Tatsachen und Theorien kann ein Zeichen des Fortschritts sein. Er ist auch ein erster Schritt bei unserem Versuch, die Grundsätze aufzudecken, die in den üblichen Beobachtungsbegriffen stecken. 91

6

Als Beispiel für einen solchen Versuch betrachte ich das Turmargument, mit dem die Aristoteliker die Erdbewegung widerlegten. Es enthält natürliche Interpretationen - Vorstellungen, die so eng mit Beobachtungen verbunden sind, daß es besonderer Anstrengung bedarf, ihr Vorhandensein zu erkennen und ihren Inhalt zu bestimmen. Galilei ermittelt die natürlichen Interpretationen, die mit Kopernikus unvereinbar sind, und ersetzt sie durch andere. 108

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Die neuen natürlichen Interpretationen bilden eine neue und höchst abstrakte Beobachtungssprache. Sie werden eingeführt und versteckt, so daß man die vollzogene Veränderung nicht bemerkt (Methode der anamnesis). Sie enthalten den Gedanken der Relativität aller Bewegung und das Gesetz der Trägheit der Kreisbewegung. 123

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Anfängliche Schwierigkeiten, die die Veränderung aufwirft, werden durch ad-hoc-Hypothesen entschärft, die also gelegentlich eine positive Funktion haben können; sie verschaffen neuen Theorien eine Atempause, und sie deuten die Richtung der zukünftigen Forschung an. 138

9

Außer natürlichen Interpretationen verändert Galilei auch Wahrnehmungen, die Kopernikus in Gefahr zu bringen scheinen. Er gibt das Vorhandensein solcher Wahrnehmungen zu, lobt Kopernikus dafür, daß er sie nicht beachtet hat, und behauptet, er habe sie mit Hilfe des Fernrohrs entfernt. Doch er gibt keine theoretischen Gründe dafür an, daß man sich vom Fernrohr ein wahrheitsgetreues Bild des Himmels versprechen könne. 145

Anhang 1 157

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Auch die ersten Erfahrungen mit dem Fernrohr liefern keine solchen Gründe. Die ersten Himmelsbeobachtungen mit dem Fernrohr sind undeutlich, unbestimmt, widersprüchlich und widerstreiten dem, was jedermann mit unbewaffnetem Auge sehen kann. Und die einzige Theorie, die teleskopische Illusionen von sachgerechten Eindrücken hätte unterscheiden können, war durch einfache Prüfungen widerlegt. 161

Anhang 2 184

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Andererseits gibt es Fernrohrbeobachtungen, die eindeutig für Kopernikus sprechen. Galilei führt sie als unabhängige Daten für Kopernikus an; in Wirklichkeit ist es so, daß eine widerlegte Auffassung - die Ko-pernikanische - eine gewisse Ähnlichkeit mit Erscheinungen hat, die sich aus einer anderen widerlegten Auffassung ergeben - nämlich daß Fernrohrbilder getreue Abbildungen des Himmels seien. Galilei behält wegen seines Stils und seiner geschickten Überredungsmethoden die Oberhand, weil er auf Italienisch und nicht nur auf Lateinisch schreibt, und weil er sich an Leute wendet, die gefühlsmäßig gegen die alten Ideen und die mit ihnen verbundenen Maßstäbe der Gelehrsamkeit eingenommen sind. 196

12

Derartige »irrationale« Stützungsmethoden sind notwendig wegen der »ungleichmäßigen Entwicklung« (Marx, Lenin) der verschiedenen Teile der Wissenschaft. Der Kopernikanismus und andere wesentliche Bestandteile der neueren Wissenschaft blieben nur deshalb am Leben, weil in ihrer Geschichte die Vernunft oft überspielt wurde. 200

13

Galileis Methode funktioniert auch auf anderen Gebieten. Man kann sie beispielsweise zur Ausschaltung der vorhandenen Argumente gegeh den Materialismus verwenden und so das philosophische Leib-Seele-Problem beerdigen (die entsprechenden wissenschaftlichen Probleme bleiben dagegen unberührt). 228

Die bisher erzielten Ergebnisse legen es nahe, die Unterscheidung zwischen einem Entdeckungs- und einem Begründungszusammenhang aufzugeben, ebenso die damit zusammenhängende zwischen theoretischen und Beobachtungsbegriffen. Die Unterscheidungen spielen in der wissenschaftlichen Praxis keine Rolle. Der Versuch, auf ihnen zu bestehen, würde katastrophale Folgen haben. 230

Schließlich zeigt die Erörterung in den Kapiteln 6-13, daß Poppers Fassung von Mills Pluralismus nicht mit der wissenschaftlichen Praxis übereinstimmt und die Wissenschaft, wie wir sie kennen, zerstören würde. Geht man von dieser aus, so kann die Vernunft nicht allumfassend sein und die Unvernunft nicht ausgeschlossen werden. Diese Eigenschaft der Wissenschaft erfordert eine anarchistische Erkenntnistheorie. Die Einsicht, daß die Wissenschaft nicht sakrosankt ist und der Streit zwischen Wissenschaft und Mythos unentschieden ausgegangen ist, ist eine weitere Stütze des Anarchismus. 239

16

Auch der scharfsinnige Versuch von Lakatos, eine Methodologie aufzustellen, die (a) keine Anweisungen gibt und doch (b) unseren wissensvermehrenden Tätigkeiten Einschränkungen auferlegt, ist von dieser Folgerung nicht ausgenommen. Denn die Philosophie von Lakatos erscheint nur deshalb als liberal, weil sie ein verkleideter Anarchismus ist. Und ihre Maßstäbe, die von der modernen Wissenschaft hergeleitet sind, können nicht als neutrale Schiedsrichter in dem Streit zwischen der modernen Wissenschaft und der Aristotelischen Wissenschaft, dem Mythos, der Magie, der Religion usw. gelten. 252

Anhang 3 302

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Außerdem sind diese Grundsätze, die einen Vergleich von Gehaltsklassen einschließen, nicht immer anwendbar. Die Gehaltsklassen gewisser Theorien sind unvergleichbar in dem Sinne, daß keine der üblichen logischen Beziehungen (Einschließung, Ausschließung, Überschneidung) zwischen ihnen gilt. Das ist der Fall, wenn man Mythen und Wissenschaft vergleicht. Es ist auch in den fortgeschrittensten, allgemeinsten und daher mythologischsten Teilen der Wissenschaft selbst der Fall. 310

Anhang 4 388

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Die Wissenschaft steht also dem Mythos viel näher, als eine wissenschaftliche Philosophie zugeben möchte. Sie ist eine der vielen Formen des Denkens, die der Mensch entwickelt hat, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech und fällt auf; grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die sich schon für eine bestimmte Ideologie entschieden haben, oder die die Wissenschaft akzeptiert haben, ohne jemals ihre Vorzüge und ihre Schwächen geprüft zu haben. Und da die Annahme und Ablehnung von Ideologien dem einzelnen überlassen bleiben sollte, so folgt, daß die Trennung von Staat und Kirche durch die Trennung von Staat und Wissenschaft, der jüngsten, aggressivsten und dogmatischsten religiösen Institution, zu ergänzen ist. Eine solche Trennung könnte unsere einzige Chance sein, eine Menschlichkeit zu erreichen, zu der wir fähig sind, die wir aber noch nie vollständig verwirklicht haben. 392

Sachregister 417

Namenregister 437



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