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Hans-Joachim Lenger

Virtualität und Kontrolle

Gespräch über ein Symposion an der HfbK Hamburg

Herr Professor Lenger, Sie veranstalten gemeinsam mit Frau Professorin Ott, mit Professor Tholen vom Institut für Medienwissenschaften der Universität Basel und Professor Brossat von der Universität Paris VIII Saint Denis vom 3. bis zum 8.November an der HfbK ein Symposion, das den Titel „Virtualität und Kontrolle“ trägt. Was hat es mit diesen beiden Begriffen auf sich? Worin besteht die Frage des Symposions?

Der erste der beiden Begriffe weist eher philosophische und künstlerisch-ästhetische, der zweite eher politische und ökonomische Dimensionen auf, wobei diese Unterscheidungen natürlich ihrerseits fragwürdig sind. Um es kurz zu machen: Wir beziehen uns auf den Begriff der „Kontrollgesellschaften“, den der französische Philosoph Gilles Deleuze eingeführt hat, um gegenwärtige Verschiebungen im technischen Arsenal der Macht zu fassen, und versuchen, mit diesem Begriff ein wenig zu experimentieren. Wir veranstalten also kein Symposion über Deleuze, sondern setzen an einer Diagnose an, die er vorgeschlagen hat und die ebenso politische, soziale, kulturelle, künstlerische und medienpolitische Aspekte aufweist.

Wie das Programm zeigt, soll das Symposion nicht nur wissenschaftlichen Charakter tragen.

Wir kooperieren mit dem Hamburger Thalia Theater, in dessen Nachtasyl es am Montag vor der offiziösen Eröffnung eine szenische Lesung geben wird. Ein ganzer Tag ist dem Film und dem Fernsehen gewidmet. Künstler stellen in der HfbK Installationen zur Diskussion, die österreichische Musikerin Gustav gibt ein Konzert in der Hochschule, das Labor für unkontrollierbare Situationen plant eine Aktion in der Innenstadt, und gefeiert wird auch. Denn wir misstrauen Veranstaltungen, bei denen lediglich Texte vom Katheder verlesen werden. Vielmehr scheint uns wünschenswert, die vielen Texturen in Konstellationen zu versetzen, die sich überlagern, interferieren und möglicherweise für Überraschungen sorgen. Das bedeutet ja keineswegs, sich den Problemen nicht analytisch und mit begrifflicher Schärfe zu widmen.

Können Sie das konkreter machen?

Es gibt einen bemerkenswerten Text von Deleuze, der im Übrigen nur knappe neun Druckseiten umfasst, aber eine Fülle von Hinweisen enthält, die noch unausgeschöpft sein dürften.1 Der Text ist 18 Jahre alt, liest sich jedoch, als sei er für die gegenwärtige Situation geschrieben worden. „In der aktuellen Situation“, heißt es da, „ist der Kapitalismus nicht mehr an der Produktion orientiert, die er oft in die Peripherie der Dritten Welt auslagert, selbst in komplexen Produktionsformen wie Textil, Eisenverarbeitung, Öl. Es ist ein Kapitalismus der Überproduktion. Er kauft keine Rohstoffe und verkauft keine Fertigerzeugnisse mehr, sondern er kauft Fertigerzeugnisse oder montiert Einzelteile zusammen. Was er verkaufen will, sind Dienstleistungen, und was er kaufen will, sind Aktien. Dieser Kapitalismus ist nicht mehr für die Produktion da, sondern für das Produkt, das heißt für den Verkauf oder Markt. Daher ist sein wesentliches Merkmal die Streuung, und die Fabrik hat dem Unternehmen Platz gemacht. Familie, Schule, Armee, Fabrik sind keine unterschiedlichen analogen Milieus mehr, die auf einen Eigentümer konvergieren, Staat oder private Macht, sondern sind chiffrierte, deformierbare und transformierbare Figuren ein und desselben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt. Sogar die Kunst hat die geschlossenen Milieus verlassen und tritt in die offenen Kreisläufe der Bank ein. Die Eroberung des Marktes geschieht durch Kontrollergreifung und nicht mehr durch Disziplinierung, eher durch Kursfestsetzung als durch Kostensenkung, eher durch Transformation des Produkts als durch Spezialisierung der Produktion. Die Korruption gewinnt hier neue Macht.“ Wie mir scheint, steckt dies ein Feld von Fragen ab, das auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen neu analysiert werden sollte.

Deformationen, Transformationen

Die gegenwärtige Finanzkrise scheint indes eine ganz andere Botschaft zu übermitteln. Unversehens wird wieder an die Disziplinarmaschine des Staates appelliert, erscheint er als letzte Rettungsinstanz, um die spekulativen Märkte vor dem Absturz zu bewahren. Erleben wir nicht ganz im Gegenteil eine „Renaissance des Staates“?

Gewiss. Aber um welchen „Staat“ handelt es sich da? Fragt man genauer nach, so reduziert sich das ausufernde Geschwätz, mit dem man uns seither behelligt, auf die knappe Mitteilung, dass „wir alle“ dieser Staat seien. Ansonsten findet alles klandestin statt wie sonst nur die Sitzungen des Geheimdienstausschusses. Jeder einzelne wird damit in eine Art doppelter Geiselhaft genommen; mehr noch: jetzt stellt sich heraus, dass unsere Situation die von Geiseln je schon war. Staatsbürger zu sein, das heißt jetzt nichts anderes als Schuldner zu sein. Irgendein deutscher Kaiser kannte vor geraumer Zeit keine Klassen mehr, sondern nur noch Deutsche. Heutzutage kennt man keine Deutschen, Franzosen oder Niederländer mehr, sondern nur noch Schuldner. Und das leitet in eine Anthropologie der Kontrollgesellschaften über, die Deleuze, ganz aus dem Geist der „Shareholder Values“, auch in knappen Worten skizziert: „Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“ Die Zertrümmerung nationalstaatlicher Souveränitäten, die ansonsten kaum zu beklagen wäre, wird dadurch also keineswegs rückgängig gemacht. Eher im Gegenteil. Die gegenwärtige Krise macht vielmehr deutlich, dass die Staatsapparate einer definitiven Usurpation durch die so genannten Finanzmärkte unterliegen. Und das lässt ihre eigene Struktur keineswegs unangetastet. Was Deleuze „Kontrollgesellschaften“ nennt, dürfte sich also noch intensivieren, der Staat als hierarchische Maschinerie einer Disziplinierung noch weiter zurücktreten.

Der „eingeschlossene Mensch“ der Disziplinargesellschaften scheint mir indes keine bloße Reminiszenz zu sein. Die gesellschaftlichen Milieus segmentieren sich zusehends, soziale Schranken verfestigen sich, die Gefängnisse werden ebenso wenig eingeebnet wie die Obdachlosenasyle.

Das ist zweifellos richtig. Gegenwärtig wird ja sogar über den Einsatz der Bundeswehr im Innern neu diskutiert. Die „Milieus der Disziplinierung“, die „Systeme der Einschließung“ lösen sich also nicht einfach auf. Sie werden viel eher überlagert, imprägniert, durchsetzt und transformiert von neuen und verfeinerten Techniken der Macht, die ein ungleich subtileres Regime über das Denken und die Körper, die Sprache und die Affekte errichten, als es die alten Disziplinartechniken je vermocht hätten. Man denke nur an das Regime der Beratungsstellen, der Arbeitsagenturen und psychotherapeutischen Ambulanzen.

So, wie Sie das sagen, legt es die Vorstellung einer Systematik nahe, die alle gesellschaftlichen Bereiche unter sich begreift und durchdringt… Läuft man nicht Gefahr, zum Verschwörungstheoretiker zu werden, sobald man die Analyse derart eng führt? Anders gesagt: könnte eine Diagnose, die von einer Auflösung der „Milieus der Einschließung“ spricht, nicht dazu verführen, sich selbst in allzu homogenen Begriffen einzuschließen?

Gewiss werden solche Entwicklungen von paranoiden Schüben begleitet, die im Übrigen selbst eine nicht zu vernachlässigende Macht ausüben. Deshalb können sie von den Kontrolltechniken ja auch jederzeit vereinnahmt werden. Umso entscheidender ist deshalb die Einsicht, dass diese Kontrollschübe weniger von einem „Zentrum“ ausgehen, das deren Wucherungen ihrerseits kontrollieren würde. Viel eher handelt es sich um eine Vervielfachung, eine Partikularisierung oder Streuung von Techniken, die ein solches „Zentrum“ immer weniger kennen. Längst belehrt uns etwa eine Soziologie der Institutionen darüber, dass die alten, „hierarchischen“ oder „pyramidalen“ Organisationsformen der Industrie, des Militärs oder der Verwaltungen zertrümmert werden. Man ersetzt sie durch bewegliche Netzwerke, die ungleich schneller, geschmeidiger und operativer funktionieren sollen als die starren Disziplinarapparate. Solche Netzwerke gehorchen nicht mehr mechanischen oder architektonischen Modellen, sondern einer Art fluidaler Logik, die nicht zuletzt aus der Informationsverarbeitung stammt. So generiert sich, was Deleuze „chiffrierte, deformierbare und transformierbare Figuren ein und desselben Unternehmens“ nennt. Digitale Netzwerke etwa, die aus militärischen Systemen in die ökonomischen einwandern, zerlegen die alten Strukturen der Fabriksysteme. Sie zerstreuen sie in Segmente und verwandeln sie in Gliederungen global operierender Task Forces, die von den CEOs dann an Terminals nahe der Echtzeit evaluiert, kontrolliert und kommandiert werden. Ubiquität, permanente Verfügbarkeit, Einsatzbereitschaft, Schlagkraft und nicht zuletzt die fanatische Freude, sich unausgesetzten Evaluationen zu unterwerfen, werden dabei zu vorrangigen Tugenden. Diese Botschaft ist bekanntlich ja auch im so genannten Bildungssystem, in den Schulen und Universitäten angekommen.

Lebenswelten

Dies berührt offenbar die „Lebenswelten“, die aus diesen neuen gesellschaftlichen Formationen hervorgehen. Sollten die Kontrolltechniken – „kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet“ – die so genannten Lebenswelten tatsächlich bis in ihre Mikrologien hinein durchdringen, so müsste sich zeigen lassen, wie sich das in der Verfassung der Einzelnen, in den „Horizonten“ dieses Lebens niederschlägt.

Deleuze gibt dazu einige Hinweise. Sie betreffen nicht zuletzt Probleme der Zeitlichkeit, des Augenblicks und der Dauer. In den Kontrollgesellschaften, so schreibt er, wird man nie mit etwas fertig; sie bilden eine Welt der unablässigen Weiterbildung: „Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.“ Die Feier „lebenslangen Lernens“ etabliert eine Dauer, die den diffusen Figuren eines unbegrenzten Aufschubs entspricht. Horizonte, aus denen einst der wie immer trügerische Anschein einer „Biografie“ hervorgehen konnte, zerfallen. Andererseits zieht sich die Dauer dieses unbegrenzten Aufschubs unablässig auf den Augenblick zusammen. Dies macht die Einzelnen zu Schnittstellen von Datenströmen, Impulsen und Imperativen, denen sie in jedem Moment gewachsen sein müssen. Und das nennt man dann, in der Sprache der Bildungsreformer, auch „Kompetenz“ oder „Wissen“. Tatsächlich handelt es sich aber um die Fähigkeit, sich in jedem Augenblick abtasten und von Impulsen und Imperativen durchqueren zu lassen, um den erforderlichen Output auszuwerfen – in einer Art Schema von Reiz und Reaktion. Darin nun, so Deleuze, drückt sich die Macht der Chiffre aus: „Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind ‚dividuell’ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‚Banken’.“ Wie mir scheint, erkennt man die Welt wieder.

All das könnte jedoch die These nahe legen, die Einzelnen seien bloße Opfer solcher Verschiebungen. Zugleich bringen sie aber Figuren eines Konformismus, eines Einverständnisses hervor, das zwischen Lähmung und leidenschaftlicher Bejahung schwankt und an dem jede „Aufklärung“ versagt…

Gewiss. Mit „Ideologiekritik“ kommt man da nicht weiter. Stillschweigend setzt deren „kritischer Gestus“ noch die Idee einer „Verblendung“ voraus, die durch geeignete Decouvrierungstechniken nur abgestreift werden müsse, um den unverstellten Blick auf eine unverstellte „Wirklichkeit“ freizugeben. Unausgesprochen setzt dieser Gestus auf soziale, politische und kulturelle Interessen, die den Unterworfenen nur zu Bewusstsein gebracht werden müssten, um sie in jene „mündigen Subjekte“ zu verwandeln, die sie immer schon gewesen seien. Auch der „Marxismus“ schleppte insofern ein gewaltiges metaphysisches Erbe mit sich herum. Tatsächlich aber verwandeln sich die Einzelnen den Techniken der Kontrolle an, von denen sie besetzt werden, um sie ihrerseits zu besetzen, zu affirmieren und als Triebkräfte neuer und schwindelerregender Freiheiten zu genießen. Spätestens an diesem Punkt werden Kontrolle und Selbstkontrolle auch ununterscheidbar. Das lässt sich bereits am Umgang mit den vielen kleinen Maschinen und Gadgets ablesen, die den Alltag beherrschen, an den Handys, den Digitalkameras, MP3-Playern oder Laptops, mit denen man uns verwöhnt. Was verleiht ihnen diese „fetischistische“ Macht? Sie gewähren viel mehr oder anderes als bloße „Unterhaltung“. Sie erlauben es, sich inmitten einer Zertrümmerung zeitlicher Horizonte gleichwohl auf der Höhe der Zeit zu genießen. Sich in die Netze einzuklinken, sie mit eigenen Fotos oder Videofilmen zu versorgen, sich mit Kopfhörern in eigene Klangräume einzuschließen oder am Computer in Chaträumen aufzutauchen, Daten zu sampeln und zirkulieren zu lassen – all das wird zum Existenzbeweis und Selbstgenuss in Welten, die durch diese numerischen Mächte hervorgebracht und kontrolliert werden. Viel dürfte deshalb davon abhängen, was „Affirmation“ heißt. Nimmt sie Intensitäten an, die unter Vorbehalten auch „künstlerisch“ genannt werden könnten, indem sie die technischen Elemente der Kontrolle aus ihrem Kontext heraussprengen und anders funktionieren zu lassen? Oder bleibt diese „Affirmation“ darauf beschränkt, etwa mit Digitalkameras Fotos zu machen, die immer nur Varianten derselben Voreinstellungen ihrer Hersteller sind?

Man könnte einwenden, dass ein solches Regime über die Affekte bereits aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Auch der Begriff der „Kulturindustrie“ etwa umfasste alle Techniken einer Standardisierung, einer Normierung von Wahrnehmungsweisen und Affekten, von denen Sie sprechen.

Ein gewisses Erbe der so genannten Kritischen Theorie wird man niemals ungestraft zurückweisen dürfen. Neu aber sind nicht zuletzt Techniken einer „Inter-Aktivität“, die dem Denken, den Affekten und Körpern implementiert werden und sie bis in ihre Mikrostrukturen hinein erfassen und durchdringen sollen. Man denke an die nachmittäglichen Talkshows der Fernsehsender, in denen eine entfesselte Meute über Abweichungen herfällt. Ist das noch „Kulturindustrie“ im Sinne Adornos und Horkheimers? Man denke an „Doku-Soaps“, in denen man Sozialfahnder auf der Jagd nach so genannten Sozialschmarotzern begleiten darf, wobei man selbst zum Fahnder werden darf; an Fernsehveranstaltungen, in denen lächelnde Psychotherapeuten in Techniken einführen, die das eigene Elend auf eigenes Wohlverhalten hin normieren; an Casting-Shows, in denen Körperzustände eingedrillt werden, die minutiös adressierbar und abrufbar sein sollen. Überall saugen diese „Formate“, wie man sie ja nicht umsonst nennt, ihr Publikum wie einen Rohstoff in sich auf, um es einem unmittelbaren Verwertungsprozess zu unterwerfen. Unterschiede zwischen „Arbeit“ und „Unterhaltung“ lösen sich auf – die Abrichtung geht unmerklich in die Werbeblöcke über, die an solche Abrichtungen schließlich appellieren. Oder wie Deleuze bemerkt: „Die idiotischsten Spiele im Fernsehen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie die Unternehmenssituation adäquat zum Ausdruck bringen.“

Inmitten

Hat man es insofern nicht viel eher mit medialen Prozessen, weniger mit ökonomischen oder politischen zu tun?

Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Denn was ist ein „Medium“? Oder worin besteht seine „Medialität“? Nicht von ungefähr erlebten Medientheorien, Medienanalysen und Medienwissenschaften vor einigen Jahren einen gewissen Auftrieb. Einerseits reagierten sie auf die Heraufkunft der „Kontrollgesellschaften“ und entsprachen damit dem offensichtlichen Bedürfnis, deren Strukturen in den Epistemologien des Wissensbetriebs zu verankern. Die elende Litanei, den Arbeitern der Zukunft müsse „Medienkompetenz“ verabreicht werden, musste schließlich auch im Ausbildungsbetrieb festgeschrieben werden. Andererseits höhlten avancierte Medienwissenschaften alle Versuche aus, „Medien“ als einen Gegenstand oder als technisches Ensemble zu fassen, das sich kartografieren, positivieren und zum Objekt irgendwelcher „Kompetenzen“ machen ließe. Wo immer ich irgendeinen „Gegenstand“ wie Rundfunkempfänger, Kamera oder Computer als „Medium“ identifiziere, habe ich die Medialität dieses Mediums nämlich bereits verfehlt. Die „Medialität“ bezeichnet nämlich keinen Apparat, sondern markiert ein „Inmitten“. Deshalb lässt es sich auch nicht vergegenständlichen, sondern bestenfalls „aktualisieren“. Medialitäten bestehen im Entzug ihrer selbst; andere würden sagen: sie durchlaufen Fluchtlinien, die es erlauben, neue Waffen zu ergreifen. Sie rufen nämlich viel eher unvorhersehbare Serien von Rissen, Unterbrechungen oder Neuverschaltungen als geschlossene Ordnungen, Terrains und Formationen hervor, wie sie dann als Gegenstandsbereiche definiert werden mögen. Und das unterbricht das Gerede von der „Medienkompetenz“ in sich selbst. So sehr sie zwar nachgefragt oder sogar verlangt wird, so skeptisch wird man bekanntlich schon, sobald sich Hacker oder auch Künstler ihrer annehmen. Dieser Vorbehalt schlug sich dann natürlich auch in der Konfiguration entsprechender Ausbildungsgänge nieder…

Der Status von Medien im Gefüge der „Kontrollgesellschaften“ wäre also nicht eindeutig zu bestimmen? Soll man sie eher der Seite der Kontrollmächte zuschlagen oder eher deren Unterbrechung? So sehr Techniken und Technologien eine gesellschaftliche Ordnung formen oder gar formieren, so sehr vervielfachen sie auch Risse und Zäsuren…?

„Die alten Souveränitätsgesellschaften“, schreibt Deleuze, „gingen mit einfachen Maschinen um: Hebel, Flaschenzüge, Uhren; die jüngsten Disziplinargesellschaften waren mit energetischen Maschinen ausgerüstet, welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage mit sich brachten; die Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden.“ Was man, in freundlichen Euphemismen, als „Dienstleistungsgesellschaft“, „Wissensgesellschaft“, „digitalen“ oder „Turbo-Kapitalismus“ bezeichnet, gehorcht dieser Situation. Dieser Kapitalismus verlagert, wie Deleuze sagt, die materielle Produktion in die Peripherien, er amalgamiert Geld- mit digitalen Informationsströmen, um seine Überproduktion und Überakkumulation in spekulativen Märkten eskalieren zu lassen, die Maximalprofite versprechen. All das wäre ohne die digitalen Technologien undenkbar. Aber sie sind nur Element einer Konstellation, in der sie sich mit anderen Formationen durchdringen und bewegen – ökonomischen, militärischen und politischen.

Man könnte jedoch behaupten, dass technologische Innovationen den Prozess der Moderne und ihrer Ökonomie stets forciert und revolutioniert haben. Was sollte die Vermutung stützen, man habe es hier mit einem tieferen Einschnitt zu tun?

Neu an diesen Systemen ist nicht nur die Geschwindigkeit, mit der sie sich den Raum unterwerfen, um ihn ins Trugbild des „Globalen“ zu verwandeln. Nicht weniger bemerkenswert ist das Regime, das sie über die Zeit errichten. Marx konnte das Geldkapital noch „Anweisung auf zukünftige Arbeit“ nennen. Sein Begriff der Zeit bewegte sich insofern noch in einem Gefüge von Horizonten. Das Regime dagegen, das die Systeme der Kontrolle über die Zeit errichtet haben, lässt die „Gegenwart“ aus einer Zukunft hervorgehen, die insofern bereits hinter ihnen liegt. Denn was war Gegenstand der letzten Spekulation gewesen? Die Nachfrageökonomie, Verbraucherkredite auf Häuser etwa, die ihrerseits mit Hypotheken beliehen werden konnten und deshalb zu neuen Kreditspiralen Anlass gaben… was man ein wenig schelmisch „Kreditklemme“ nennt, ereilt in Kürze ja das Kreditkartengewerbe. Nicht ohne Sarkasmus könnte man also den alten Marx bestätigt sehen, wenn er schrieb, an einem bestimmten Punkt sähen sich die Herren genötigt, ihre Knechte zu ernähren statt von ihnen ernährt zu werden. Aber wenn dies nicht zu der von ihm erwarteten „Revolution“ führt, so auch deshalb, weil der „unendliche Aufschub“, das „Nie-zu-Ende-Kommen“ der Kontrollgesellschaften zu den Signaturen einer Ökonomie gehört, die sich des Unendlichen selbst bemächtigt hat. Alles in allem sind die Systeme in eine Ordnung eingetreten, die aus einer beständigen Kreditierung ihrer selbst hervorgeht. Insofern sind die viel zitierten „Blasen“ auch nicht Ausdruck bloßer „Gier“, einer zu tadelnden Zockermentalität oder anderer unverzeihlicher Charakterschwächen, von denen sogar Führungskräfte und Leistungsträger von Zeit zu Zeit heimgesucht würden. Sie haben systemischen Status.

Zeiten und Räume

Sollte es gelingen, die so genannte Finanzkrise auf die spekulativen Märkte zu begrenzen, die Realökonomie vor einem Kollaps zu schützen, so bestünde jedoch keinerlei Veranlassung zu glauben, es könne nicht weitergehen wie bisher – in bekannten Ordnungen, wenn auch unter veränderten staatlichen Rahmenbedingungen.

Ohne Zweifel. Alle Überlegungen, die über einen „definitiven Zusammenbruch“ des Kapitalismus angestellt wurden, endeten bereits in der Vergangenheit wie das Horneberger Schießen – praktisch wie theoretisch. Nicht zufällig wird das Lamento über ein „Ende des Kapitalismus“ auch bevorzugt von jenen Medien angestimmt, die durch Vorbehalte gegen diesen Kapitalismus bislang kaum aufgefallen sind. Aber wenn alles weitergeht wie bisher, so spricht das ja nicht schon für eine Stabilität der Systeme. Die wissen nicht mal mehr, was „Geld“ überhaupt ist; und dies dürfte mit Medienbegriffen ebenso wie mit dem Übergang von der Disziplinierung zur Kontrolle zusammenhängen. Zumindest legt Deleuze das nahe, nicht ohne Überzeugungskraft, wie ich denke: „Vielleicht kommt im Geld noch am besten der Unterschied der beiden Gesellschaften zum Ausdruck, weil die Disziplin immer im Zusammenhang mit geprägtem Geld stand, zu dem das Gold als Eichmaß gehört, während die Kontrolle auf schwankende Wechselkurse, auf Modulationen verweist, die einen Prozentsatz der verschiedenen Währungen als Eich-Chiffre einführen. Der alte Geldmaulwurf ist das Tier der Einschließungs-Milieus, während das der Kontrollgesellschaften die Schlange ist.“ Der Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods Anfang der 70er Jahre markierte insofern einen tiefen, unhintergehbaren Einschnitt. Mit der symbolischen Ordnung des Goldes wurde hier auch ein Realitätsindex zerstört. Und umso skeptischer dürfte man deshalb sein, was seither die „Realökonomien“ angeht. Deren Rendezvous mit der „spekulativen“ steht ja auch heute nicht noch bevor; es hat längst stattgefunden. Wie gesagt, generierte der amerikanische Kreditkapitalismus diese „Realökonomie“ von Anfang an, trug auf seine Weise etwa dazu bei, dass etwa die Deutschen sich lange als „Exportweltmeister“ fühlen durften. Diese Episode scheint nun vorüber zu sein. Gewiss, die Märkte implodieren, und nun kreditiert’s eben der Staat, der ja aus „uns allen“ bestehen soll – was einen gewitzten Kommentator der Financial Times Deutschland aber kürzlich erst zu der Bemerkung veranlasste: „Wir fahren jetzt nicht mehr mit Vollgas auf eine Wand zu, sondern auf einen Abgrund.“

Also doch eine Zusammenbruchstheorie?

Keineswegs. So schreibt die Wirtschaftspresse, und sie dürfte ihre guten Gründe dafür haben. Denn auch wer sich auf einen Abgrund zurasen sieht, bleibt einer Logik des Linearen verhaftet. Wir dürften es jedoch mit etwas zu tun haben, was diese Linearität selbst unterbricht. Jeder Kredit impliziert einen Vorgriff, genauer noch einen Übergriff auf die Zukunft. Er appelliert nicht nur an sie, er antizipiert sie, er errichtet sich auf ihr, und insofern maßt er sich nicht weniger an, als die Zeit zu usurpieren. Nicht anders der Übergriff auf den Raum. Seit Jahrzehnten erklärt man uns nun, die Erde sei ein „Globus“, die Verweltlichung dieser Erde eine „Globalisierung“, die von Peter Sloterdijk überdies noch mit Blasen und Sphären ausgestattet werden sollte. Der Mythos des Globalen ist zwar kaum intelligenter als der ptolemäische Glaube an die Erde als Scheibe; wohl deshalb hat er auch ähnlich intensive Glaubensbekenntnisse und Ketzerprozesse evoziert. Die permanente Kreditkrise aber unterbricht die Linearität der Zeit ebenso wie die Homogenität eines „globalen“ Raums. Sie lässt, was als „Zukunft“ usurpiert wurde, mitten in der vermeintlichen „Gegenwart“ aufbrechen, um sie implodieren zu lassen und zugleich mit Fliehkräften auszustatten. Die bringen jede Linearität durcheinander, zersprengen sie in Segmente, die in unabsehbare Volten und Sprünge übergehen. Auf solche Segmentierungen versuchen die „Kontrollgesellschaften“ zu antworten. Sie dringen in die Mikrologien ein, da die Apparate des Ganzen nicht mehr hinreichen. Traditionelle Horizonte von Zeit und Raum reißen ein, um sich beständig weiter zu fragmentieren und in Schleifen zu versetzen, die um sich selbst kreisen, in sich springen, sich neu verketten. Und dies verlangt nach Interventionen, von denen die traditionellen Mächte der Disziplinierung überfordert sind. In gewisser Hinsicht könnte sich der universal gewordenen Kredit der Zukunft bemächtigt haben, die er damit aber ebenso auch hinter sich gebracht hätte. Die Konstruktion der Zeit als eines Gefüges von Horizonten zerspringt. Vielleicht ist dies ja der Sinn der diffusen Rede vom posthistoire. Doch damit wird nicht nur eine lineare Logik der Vertagung zerstört. Affekte der Erwartung, der Hoffnung oder gar Finalisierung zerfallen. Sie gehen in Ereignisse und Fluchtlinien über; und auf dies antworten die Systeme, Mechanismen und Maschinerien der Macht. Mit ihrer fluidalen Logik der Netzwerke, der Mikrologisierung, der Flexibilisierung und einer lückenlosen Verfügbarkeit installieren sie ubiquitäre technologische Reiz-Reaktions-Schemata, die in allen „Poren“ der Lebenswelten zugreifen. Nicht, dass dies einmalige Vorgänge wären, die man der gegenwärtigen Krise zu verdanken hätte; und auch nicht, dass diese Krise nicht bald wieder, durch vielfache Verelendungsschübe hindurch, zu einer gewissen „Normalisierung“ zurückfände. Die internationalen Ordnungen werden sich zweifellos durch alle rezessiven Einbrüche hindurch wiederherstellen. Doch sollte uns dies nicht daran hindern, zu entziffern, was Kant „Geschichtszeichen“ nannte. Der „verschuldete Mensch“, von dem Deleuze spricht, verlangt nicht nur nach einer Anthropologie der Kontrollgesellschaften. Er rührt an Probleme des „Virtuellen“ – und damit an einen Topos, der freilich noch problematischer sein dürfte als der der „Kontrolle“.

Virtualitäten

Dieser Begriff ist doch vertraut und hat sich längst etabliert. Er beherrscht die „virtuellen Räume“ der Computernetzwerke nicht anders als die „virtuellen Realitäten“, die sich in ihnen angeblich herstellen. Er beschreibt das „Hybrid-Werden“ subjektiver Identitäten genauso wie die Fähigkeit, beliebige Körperzustände anzunehmen. Was sollte daran problematisch sein?

In all diesen Prägungen blieb der Begriff des Virtuellen Element jener Mächte und Kontrolltechniken, gegen die ihn die Branche der Kreativmanager, der Berater und Chart-Flow-Akrobaten dann ausspielen wollte. Überall wurde er technisch eingefasst, technologisch adressiert und kontrollierbar gemacht. Nicht von ungefähr wurden Datenhandschuh und Datenbrille seine Wahrzeichen, und damit determinierte er noch jene „Matrix“, deren paranoides Set findige Filmemacher dann auf christologische Flaschen ziehen konnten. „Der Mensch der Disziplinierung“, schreibt Deleuze, „war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn. Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst.“ All das korrespondiert nicht zuletzt dem, was auch als Begriff des Virtuellen in Umlauf gebracht worden war. Er verführt selbst zum Surfen. Umso mehr besteht die Notwendigkeit, diesen Begriff aus seinen technoiden Umklammerungen zu befreien und ihm den Rang eines ontologischen Problemtitels zurückzugeben. Diese Aufgabe ist keineswegs einfach; sie verlangt eine eingehende Archäologie der philosophischen und epistemologischen Voraussetzungen, aus denen der Begriff des „Virtuellen“ hervorging, und der Kontexte, in denen er fungierte. Deren Erbe schleppt er mit sich fort noch da, wo er „technisch“ wurde. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sich in einem Sinn wird halten lassen, den Deleuze ihm zu verleihen vorschlug. Samuel Weber hat ihm von Walter Benjamin her widersprochen; Alain Badiou schlägt vor, ihn auf eine Weise zu verschieben, die die ontologische Frage im Denken der Mathematik sich wiederholen lässt; Jacques Derrida verweist darauf, dass es Virtuelles gebe, wo es Schrift gebe. All das bleibt also einigermaßen unübersichtlich und verlangt nach einer philosophischen Analyse, die kaum begonnen hat und zweifellos auch nicht im Mittelpunkt des jetzigen Symposions stehen wird. Der Hinweis auf das „Virtuelle“ in dessen Titel soll lediglich Fluchtpunkte markieren, auf die eine Diskussion zusteuern könnte, die sich nicht mehr im Gefängnis dialektischer Positionen, Negationen und Aufhebungen einzurichten gedenkt. Es ginge darum, das Ereignis, das Unvorhersehbare und Affirmationen zu denken, die vom Geklapper dialektischer Begriffe nicht ohne weiteres einzufangen sind. Deleuze merkt an einer Stelle an, an die Welt zu glauben, das heiße beispielsweise, „Ereignisse hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen, selbst mit kleiner Oberfläche oder reduziertem Volumen.“2

Das klingt sehr abstrakt. Auf der Ebene von Lebenswelten jedenfalls spielt es keine Rolle. Am ehesten erinnert es an künstlerische Fragen.

Zweifellos. Was man im Problemtitel des Virtuellen zu fassen sucht, könnte darin bestehen, dem Gefüge von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit zu entgehen. Bis heute scheint dieses Gefüge selbstverständliche Gültigkeit zu besitzen. Doch nicht zuletzt von den Künsten wie von der Philosophie wurde und wird es einer unablässigen Frage ausgesetzt, die im Übrigen unabweisbar ist. Wie nämlich sollten „neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen sein“, wenn über diese Welt in Relationen von Möglichkeit und Wirklichkeit schon verfügt wäre? Wie also wären Kunst, Philosophie, Aufbegehren oder Revolutionen denkbar, gäbe es im Innern der so genannten Geschichte nicht „Virtualitäten“, die sich ihrer Logik des Möglichen und Wirklichen entziehen – ein „Ungeschichtliches“ gewissermaßen, das sich, höchst unzeitgemäß, immer wieder in Brüchen des Politischen oder in Kreativitäten des Künstlerischen Ausdruck verschüfe? Dass dies die so genannten Lebenswelten nicht berührt, läßt sich im Übrigen bezweifeln. Bereits der Versuch, sich über einen so harmlosen Topos wie die „Arbeit“ Rechenschaft abzulegen, versetzt die gestrenge Systemtheorie Luhmanns in derart tiefe Verlegenheit, dass sie ihn zum „Parasiten“ im Sinne Michel Serres erklären muss, der das Gefüge der Macht mit vielfachen Öffnungen übersäe… Das sind indes keine bloß soziologische Verlegenheiten des Systems. Sie berühren das „Virtuelle“ der Arbeit in sich, sofern es von den Systemen nicht ökonomisiert werden kann.

Zu fehlen scheint jedoch bei all dem ein Horizont, eine Erwartung oder Hoffnung. Vor einigen Jahrzehnten noch verband sie sich, wie trügerisch immer, mit einem ausstehenden Ereignis, das man „Revolution“ nannte und von dem man sich versprach, es könne auf eine Zeit antworten, die aus den Fugen geriet. Ein solches Ereignis scheint im Horizont dieser „Kontrollgesellschaften“ nicht mehr aufzutauchen, hätten sie die Vorstellung eines solchen „Horizonts“ in sich selbst doch fragwürdig gemacht.

Ich will darauf ohne weiteres mit Deleuze antworten. „Angeblich“, so sagte er in einem Gespräch mit Antonio Negri, „haben Revolutionen eine schlechte Zukunft. Aber dabei bringt man zwei Dinge durcheinander: die Zukunft der Revolutionen in der Geschichte und das Revolutionär-Werden der Menschen. Es sind nicht einmal dieselben Leute in beiden Fällen. Die einzige Chance der Menschen liegt in einem Revolutionär-Werden, nur dadurch kann die Schande abgewendet oder auf das Unerträgliche geantwortet werden.“

Anmerkungen

1 Gilles Deleuze: Postscriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993

2 Gilles Deleuze: Kontrolle und Werden, ebd., S.253


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