Überlegungen zur Lehrtätigkeit

Die inhaltlichen Schwerpunkte meiner Lehrtätigkeit ergeben sich aus den zeit- und interesseabhängigen Themen- und Problemstellungen der eigenen theoretischen und künstlerischen Arbeit. Darüber hinaus unterliegen sie aber auch sich verändernden studentischen Bedürfnissen und institutionellen Anforderungen. Umso mehr gilt es hier mit einigen grundsätzlichen Überlegungen das Selbstverständnis und die Funktion meiner Lehrtätigkeit darzustellen:

Die Hinwendung zur Kunsttheorie und -wissenschaft, wie sie nach Kunststudium und Ausstellungstätigkeit* im Verlauf der 80er Jahre für meine Arbeit bestimmend wird, hat sich ursprünglich aus den sich aus der eigenen Kunstpraxis ergebenden Fragen entwickelt.

Aus der von mir generell beibehaltenen Perspektive künstlerischer Praxis erscheint die Möglichkeit der Fortsetzbarkeit von Kunst stets ungewiss. Im Unterschied zu den universitär angebotenen Kunstwissenschaften, für welche "Kunst" einfach als etwas positiv Gegebenes existiert, ist infolgedessen jedes Werk und seine Produktion vielmehr als eine allererst wahrzunehmende Option auf Kunst zu begreifen. Mit diesem Problembewusstsein künstlerische Praxis und ihre Ergebnisse auch zu vermitteln, bleibt nicht ohne Folgen für die Grundhaltung zu allen kunstwissenschaftlichen und -pädagogischen Aufgabestellungen.

Aus dieser Haltung praktiziere und lehre ich Kunstwissenschaft nicht als eine auf sich selbst bezogene akademische Disziplin, sondern mit der Intention, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in einer für künstlerische Praxis produktiven Weise zu thematisieren und zu reflektieren. Da eine so verstandene Kunstwissenschaft zwischen beiden Bereichen operiert, ist die Interdisziplinärität eines derartigen Studienangebotes gleichsam genuin gegeben.

Da ein so verstandenes kunstwissenschaftliches Arbeiten zudem ohne die Einbeziehung der Kunstgeschichte und der philosophischen Ästhetik nicht auskommt, ist es generell auch transdisziplinär angelegt: Indem von den konkreten Werken ausgegangen und sich an ihnen abgearbeitet wird, geht die Kunstwissenschaft einerseits wie die Kunstgeschichte vor. Doch in dem Versuch, über stilgeschichtliche Einordnungen und zeitbezogene Interpretationen hinauszugehen und die den Werken zugrundeliegenden künstlerischen Probleme und vor allem Ideen zu erschließen, ähnelt sie der Philosophie als Ästhetik. Werden desweiteren noch die künstlerischen Konzeptionen und Entscheidungen in ihrem gesellschaftlichen Kontext betrachtet, kommt es auch zur Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Aspekte. Dass meine Lehre der multidisziplinären Orientierung bedarf hat zahlreiche fachbereichs- und hochschulübergreifende Kooperationen und Projekte ebenso erleichtert wie erforderlich gemacht.

Statt sich akademisch auf das Theoretisieren über Kunst zu beschränken, wird prinzipiell versucht, Theoriebildung für die Kunst oder sogar als Kunst zu betreiben und anzuregen. Dabei obliegt es gerade der an einer Kunsthochschule angesiedelten Kunstwissenschaft besonders, sich auf die zeitgenössischen Phänomenen und Problemen der künstlerischen und gestalterischen Praxis selbst einzulassen, um für diese eine produktive Funktion entfalten zu können. Ein sich wechselseitig belebendes Theorie-Praxis-Verhältnis ermöglicht es auch, nach den Grundlagen, d.h. nach dem Verallgemeiner- und Vermittelbaren am Künstlerischen und Gestalterischen zu fragen. Statt dieses im Sinne eines Kanons vorzugebender Lehrinhalte zu definieren, ist es aus einer andauernden Analyse und Rekonstruktion des Entwicklungsstandes der Kunst immer erneut zu erforschen und anzuwenden, wobei die Verfassung aller am Lernprozess Beteiligter sowie die jeweiligen situativen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen sind.

Je mehr diesem kunstbezogenen Typus des Theoretisierens die Annäherung an die Kunstpraxis gelingt, desto deutlicher stellt sich ein originär künstlerisches Problem, das gerade angesichts der allseits konstatierten Krise wissenschaftlicher Diskursivität erhebliche Bedeutung hat: Wie sind theoretische Denk- und Darstellungsformen transdiskursiver Art möglich? Gleichwohl sollten auch derart ästhetisch inspirierte Theorieformen den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht einfach aufgegeben. Statt allerdings die speziellen wissenschaftlichen Forschungsinteressen und -Methoden bloß zu übernehmen, ist an ihrer kunstgerechten Transformation zu arbeiten.

Michael Lingner




Siehe u.a.: Lingner, Michael: Für eine neue Kultur des künstlerischen Studiums. Studienreformbericht der HfbK an die Behörde für Kunst und Wissenschaft. Hamburg 1998

 

 

*Vgl. z.B.:
- Kataloge der Jahresausstellungen des Deutschen Künstlerbundes: Mainz 1974, Dortmund 1975, Frankfurt 1977
- documenta VI. Kassel 1977. Katalog: Bd.3 Metamorphosen des Buches. S.325 f
- Kunstverein Hamburg: Forscher, Eremit, Sozialarbeiter. Zum veränderten Selbstverständnis von Künstlern. Hamburg 1979.
Katalog:S.60ff
- Neuer Berliner Kunstverein: Bildhauertechniken - Konzeptuelle Plastik. Berlin 1981. Katalog S.166 f
- Kunsthalle Nürnberg: 2. Internationale Jugendtriennale der Zeichnung + Meister der Zeichnung, Nürnberg 1982. Katalog S.28 f
- Griffelkunst-Vereinigung e.V.: MASSWERKE. Fassungen 1-3. Grafik-Edition Hamburg 1983

 

 

Siehe auch:
> aktuelle Lehrtätigkeit
> frühere Lehrtätigkeiten (1980-2009)
> Publikationen von Michael Lingner (Archivsystem)