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Michael Lingner

Philosophische Zugänge zur bildenden Kunst nach 1945

Gründe für die gegenläufige Entwicklung von Kunst und Philosophie in der Gegenwart

Bevor ich mich auf die Sache selbst einlasse, möchte ich zunächst erläutern, wie ich das gegebene Thema «Philosophische Zugänge zur bildenden Kunst nach 1945» aufgefasst habe. Daraus ergibt sich dann zugleich eine Übersicht des Inhaltes und der Gliederung meines Referates: Kunst und Philosophie haben eine grosse Vergangenheit gemeinsam, aber auch eine äusserst gefährdete Gegenwart, die durch Geltungsverlust und eine tiefe Krise ihres Selbstverständnisses gekennzeichnet ist. Nicht zuletzt deshalb stellt sich ihr Verhältnis als ganz und gar nicht geklärt und problemlos dar. Aus diesem Grund behandle ich das Thema des philosophischen Zugangs zur Kunst in dem Sinne, dass ich über die - wie ich meine - problematischen Bedingungen spreche, unter denen philosophische Zugangsweisen zur Kunst heute generell stehen; d. h. konkreter, dass ich zweierlei zu zeigen versuchen werde:

I. Wodurch der Philosophie aufgrund ihrer eigenen Voraussetzungen der Zugang zur bildenden Kunst erschwert ist.

II. Inwiefern andererseits die bildende Kunst der Philosophie den Zugang zu sich erschwert, was ich dann auch an konkreten Beispielen aus der bildenden Kunst zeigen werde. Die Betrachtung der Philosophie aus der Perspektive der Kunst und umgekehrt die Betrachtung der bildenden Kunst aus philosophischer Perspektive soll meine Grundthese belegen, dass aufgrund der problematischen Voraussetzungen seitens der Philosophie und seitens der Kunst letztlich ein Scheitern der Philosophie vor der modernen Kunst zu konstatieren ist. Weil diese Diagnose zwar schonungslos aber nicht hoffnungslos sein muss, werde ich in einem dritten Teil anzudeuten versuchen, wie das Dilemma des Scheiterns der Philosophie vor der modernen Kunst aufzulösen sein könnte. Ich setze also nicht das Faktum gelungener philosophischer Zugänge zur bildenden Kunst voraus, sondern gehe auf das Thema grundsätzlich kritisch und methodisch ein, indem ich die Bedingungen seitens der Philosophie und seitens der Kunst zeige, unter denen die Philosophie prinzipiell bei jedem Versuch steht, Zugang zur modernen Kunst zu finden bzw. - nach meiner Grundthese - eben gerade nicht finden zu können, also zu scheitern. Im Andeuten möglicher Auswege aus diesem Scheitern hat das, was ich sagen will, neben dem methodischen aber durchaus auch programmatischen Charakter. Und wollte man meine folgenden Ausführungen noch darüber hinausgehend charakterisieren wollen, etwa hinsichtlich ihrer Funktion im Lehrbetrieb der Hochschule, so könnte man sie bestimmen als inhaltlich denkbar knappste Einführung in ein Seminar mit dem Titel «Philosophische Zugänge zur bildenden Kunst nach 1945».

Diese Einführung hat neben der grösstmöglichen Kürze eine weitere inhaltliche Eigenart, die eine Konzession an die spezielle Situation hier ist: Anders, als wenn dies tatsächlich eine Einleitung für ein entsprechendes Seminar wäre, habe ich mich darum bemüht, meiner subjektiven Sicht des Themas grösseres Gewicht zu geben, damit deutlicher wird, was und wie ich denke. Deswegen entsprechen die inhaltlichen Aus- und Abgrenzungen, die ich im folgenden vornehme, und die Auswahl der Argumentationsstränge, die ich verfolge, in weitaus grösserem Masse den Überlegungen, die meinen eigenen bisherigen künstlerisch-praktischen und theoretischen Arbeiten zugrundeliegen, als dies normalerweise der Fall wäre. Freilich gehen meine Überlegungen, besonders die aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen, teilweise auch über das hinaus, was die philosophische Ästhetik bereits geleistet hat, und erst recht natürlich darüber hinaus, was ich durch meine eigene Arbeit einzulösen vermochte.

1.

Wenn ich mich nun im ersten Teil der Philosophie zuwende und untersuche, inwiefern sie durch ihre immanente Entwicklung sich selbst den Zugang zur modernen Kunst erschwert, dann ist es dabei - ebenso wie nachher bei der bildenden Kunst -selbstverständlich, dass ich zumindest teilweise über das Jahr 1945 hinaus die Geschichte dieser Entwicklung zurückverfolgen muss, damit die Problerne der Gegenwart verständlich werden:

Erst recht spät, nämlich seit dem 2. Drittel des 18. Jahrhunderts, hat sich die Philosophie in einer eigens dafür ausgebildeten Teildisziplin, nämlich der philosophischen Ästhetik, mit der Kunst beschäftigt. Der Begründung der philosophischen Ästhetik durch BAUMGARTENS «Aesthetica» von 1750 liegt das Motiv rationalistischer Philosophie zugrunde, auch für die Sinnlichkeit als dem «niedrigeren» Erkenntnisvermögen eine - wenn auch geringere - Erkenntnisfähigkeit nachzuweisen, um sie überhaupt in den Bereich der Erkenntnis zu integrieren und sie damit letztlich der Leitung des Verstandes unterwerfen zu können. Da nun die Kunst als der ausgezeichnete Ort gilt, wo sich das Erkenntnisvermögen der Sinnlichkeit erweisen kann, wird auch sie als Bereich des Vollkommenen und der Schönheit zum Gegenstand der Ästhetik. Von daher leitet sich die Zweiteilung der Ästhetik ab, dass sie sowohl Theorie der sinnlichen Erkenntnis als auch Theorie bzw. Philosophie der schönen Kunst sein soll; wobei in der klassischen Ästhetik der Anspruch erhoben wird, dass beide: Theorie der Sinnlichkeit und Kunstphilosophie aus einem gemeinsamen Prinzip begründet werden sollen.

Die Ästhetik als philosophische Teildisziplin entsteht somit nicht aus Fragen, die sich der Philosophie von der Kunst her stellen, also nicht aus einem gelungenen Zugang der Philosophie zur Kunst, sondern von Anbeginn dominiert in der Ästhetik die Philosophie über die Kunst: Einmal durch ihr auf Erkenntnis gerichtetes, rationalistisches Eigeninteresse, das sich der Kunst als Demonstrationsobjekt bedient; zum andern dadurch, dass sich die Ästhetik über die Rhetorik ganz direkt aus der Tradition der Poetiken (der klassischen Dichtungslehren) entwickelt, in denen Regeln für die «richtige» Herstellung eines Kunstwerkes und somit sogar Normen für die Kunst theoretisch aufgestellt werden; und schliesslich - um wenigstens noch ein weiteres wichtiges Argument zu nennen - ist für die Dominanz der Philosophie in dieser frühen Phase philosophischer Ästhetik auch verantwortlich, dass das Kunstschöne lediglich als ein Sonderfall des Naturschönen eingeführt worden ist.

In seiner 1790 erschienenen «Kritik der Urteilskraft» behauptet KANT ganz ausdrücklich die Modellhaftigkeit des Naturschönen für das Kunstschöne und leitet damit nur 40 Jahre nach BAUMGARTENS «Aesthetica» die Zeit der grossen, klassisch gewordenen Ästhetiken ein, zu denen auch SCHELLINGS «Philosophie der Kunst» und HEGELS «Vorlesungen über die Ästhetik» gehören. Allen drei Ästhetiken ist gemeinsam, dass ihnen je ein fertig ausgearbeitetes philosophisches System zugrundeliegt, in welchem sie sozusagen den Schlussstein bilden. Dies bedeutet, dass die Entstehung dieser Ästhetiken eigentlich vorwiegend philosophisch motiviert ist, und dass sie durch ihre Stellung und Funktion in dem jeweiligen erkenntnistheoretischen System weitgehend vorstrukturiert sind. Zum Beleg dafür wird gern auf KANT verwiesen, von dem man weiss, dass er, der Königsberg nie verlassen hatte, nur überaus geringe Kunstkenntnisse besass. SCHELLING und HEGEL waren zwar durchaus in der Kunst bewanderter, aber auch ihre Kenntnisse gingen ganz sicher nicht über die eines normalen Kunstgelehrten jener Zeit hinaus, so dass von daher auch ihre überragenden Leistungen in der philosophischen Ästhetik nicht erklärlich sind. Die Erkenntnisleistungen KANTS, SCHELLINGS und HEGELS erklären sich vielmehr dadurch, dass sie die logische Konsequenz einer jeweils neu entwickelten erkenntnistheoretischen Position darstellen. Solcher «Gleichschritt» mit der Erkenntnistheorie und die damit verbundene enzyklopädische Integration der Ästhetik in einen philosophisch-systematischen Gesamtentwurf hat diesen Ästhetiken ihre bis heute dauernde paradigmatische Geltung verliehen. - Festzuhalten bleibt, dass sie aus ihrer «System-Stärke» heraus in einer ganz besonderen Weise über die Kunst dominieren; nämlich in der bisher wohl historischen Einzigartigkeit, dass sich die Kunst - wenn man etwa an KANTS ausserordentliche Einflüsse auf SCHILLER und an die Reaktionen der Frühromantiker auf SCHELLING denkt - die ästhetischen Theorien anverwandelt und sich ihnen sogar nachbildet.

Für das Ende dieser grossen spekulativen philosophischen Ästhetiken sind zwei Faktoren wesentlich: 1. Das Ende der Möglichkeit geschlossener erkenntnistheoretischer Systeme, wodurch die Ästhetik ihren «Motor» und ihre Lenkung verliert; 2. die damit verbundene Entwicklung, dass neben der spekulativen philosophischen Ästhetik sich eine empirische «Ästhetik von unten» bildet, wofür FECHNERS «Vorschule der Ästhetik» von 1876 als frühes Beispiel gilt. Seitdem haben sich immer stärker die empirischen Wissenschaften wie die Psychologie und die Soziologie der ästhetischen Forschung angenommen. Aufgrund dieser Entwicklung und verursacht durch die Spezialisierung der Philosophie selbst, ist das einheitliche Phänomen «Kunst» in viele Teilkomponenten zerlegt worden. Man wendet sich nicht mehr der Kunst, sondern den Einzelkünsten zu und unterscheidet innerhalb dieser Einzelkünste noch einmal verschiedene Aspekte, wie etwa deren Produktion und Rezeption, deren Konstituiertsein und deren Kommunikationsfähigkeit oder deren mediale Beschaffenheit. Weitgehend unabhängig von der Philosophie gibt es ein Spektrum von Einzelwissenschaften, die sich aus ihrer Perspektive heraus mit Einzelphänomenen des Ästhetischen beschäftigen. Dadurch sind die verschiedenen Versuche philosophischer Ästhetik zu Kunsttheorien unter anderen Kunsttheorien geworden, die alle mehr oder minder zusammenhanglos nebeneinander bestehen. Gleichwohl lassen sich die eigentlich philosophischen von allen anderen Kunsttheorien unterscheiden und ich möchte aus der Fülle gegenwärtiger kunsttheoretischer Ansätze wie etwa den gestaltpsychologischen und den psychoanalytischen, den informationstheoretischen und den semiotischen, den soziologischen und anthropologischen, den kommunikations- und den medientheoretischen - drei genuin philosophische Theorierichtungen hervorheben, die sich ausdrücklich in der Tradition philosophischer Ästhetik sehen und zugleich die Hauptströmungen der Gegenwart darstellen: Da ist 1. die phänomenologisch-hermeneutische Ästhetik, deren bekannteste Vertreter wohl GADAMER und INGARDEN sind; 2. die oder ideologiekritische, von mir kurz kritische Ästhetik genannte Richtung, für die ADORNOS Name steht und 3. die bedeutungstheoretische, in der angelsächsischen Sprachphilosophie fundierte Ästhetik.

Zur kurzen und prägnanten Charakterisierung dieses dritten Theorietypus, auf den ich nur kurz eingehen möchte, sei eine von R. MUSIL - natürlich nicht für diesen Zweck geschriebene - Bemerkung zitiert: «Die wissenschaftliche Ästhetik sucht nach dem Universalziegel, aus dem sich das Gebäude der Ästhetik errichten liesse. Für uns» - und diese Charakterisierung könnte der sprachanalytische Ästhetiker vollauf akzeptieren - «ist aber Kunst das, was wir unter diesem Namen vorfinden». Ganz in diesem Sinn geht die sprachanalytische Ästhetik davon aus, dass in jedem Reden über Kunst bereits theoretisch relevante Einstellungen und Bestimmungen zum Ausdruck kommen, so dass aus deren genauerer Analyse eine Theorie des Ästhetischen aufgebaut werden kann. Voraussetzung dafür ist freilich die Annahme, dass dem Sprechen über Kunst tatsächlich eine ästhetische Erfahrung zugrundeliegt, denn sonst wäre es ja lediglich erfahrungsloses, leeres Gerede, in dem sich nichts Substantielles über das Ästhetische kundtun könnte. Da ich allerdings diese Annahme der Sprachphilosophie nicht teile, dass die Fähigkeit zur sprachlichen Äusserung über Kunst immer schon das Vorhandensein einer wirklichen Erfahrung des Ästhetischen verbürgt, will ich die sprachanalytisch fundierte Ästhetik hier unberücksichtigt lassen und muss den Vorwurf, dies nur unzureichend begründet zu haben, notfalls in Kauf nehmen.

Im folgenden beziehe ich mich also ausschliesslich auf die beiden wohl bedeutendsten und produktivsten Strömungen philosophischer Ästhetik der Gegenwart: die phänomenologisch-hermeneutische und die kritische Ästhetik, die beide an die grosse Tradition philosophischer Ästhetik unmittelbar anzuknüpfen versuchen. Trotz grosser Unterschiede, ja sogar gravierender Gegensätzlichkeiten beider Richtungen, gibt es hinsichtlich des uns hier interessierenden Sachverhaltes die merkwürdige Übereinstimmung, dass beide ihren Zugang zur Kunst mit ein- und demselben immanent-philosophischen Problem überformen. Ganz kurz zusammengefasst entsteht dieses Problem bei der phänomenologisch-hermeneutischen und bei der ideologiekritischen Philosophie dadurch, dass sie aus je unterschiedlichem Grund und in Übereinstimmung mit unserem Zeitgeist ein Misstrauen gegen die Reflexion hegen. Da es der Hermeneutik darauf ankommt, - ich beziehe mich bei diesen Überlegungen auf HEIDEGGER - dass das philosophische Reflektieren seinen eigenen Grund begreift, muss sie eine andere Zugangsweise zu diesem Grund suchen als die der Reflexion; denn wenn dieser Grund reflektierend erfassbar wäre, könnte er nicht der Grund der Reflexion sein. Aus diesem logischen Dilemma soll die Kunst hinausführen, indem sie «als ins Werk gesetzte Wahrheit» (Heidegger) genau jene grund-sätzliche Wahrheit anschaulich vor Augen bringen können soll, die sich der Reflexion entzieht.

Dieselbe Funktion, nämlich Ort der Wahrheit zu sein, weist auch ADORNO dem Kunstwerk zu. Er freilich misstraut der Reflexion, weil seine Überlegungen zur «Dialektik der Aufklärung» gezeigt haben, dass sogar die aufklärerischst gemeinte Ideologiekritik selbst ideologiegefährdet ist. Durch aufklärerische, rationale Reflexion ist deshalb der durch den ideologischen Schleier gebildete «Verblendungszusammenhang» (Adorno) nicht zu zerreissen. Die Kunst allein soll - so ADORNOS Denkfigur - weil sie selbst Schein ist, den täuschenden, ideologischen Schein zerstören können.

Diese, vor allem konkreten Zugang zur Kunst, aus philosophieimmanenten Überlegungen gestellte Wahrheitsfrage bildet die Perspektive, in der dann die Kunst der philosophischen Ästhetik überhaupt erst in den Blick gerät. Wenn auch für die Kunst solche Hochachtung durch die Philosophie schmeichelhaft sein mag, so darf doch dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Hochachtung gegenüber der Kunst nicht einer Erkenntnis ihrer wirklichen Qualitäten entstammt, sondern der Einsicht der Philosophie in ihre eigene Ausweglosigkeit. Denn phänomenologisch-hermeneutische und ideologiekritische Philosophie können gar nicht umhin zu versuchen, die Kunst zur Lösung ihrer eigenen philosophischen Probleme benutzen zu wollen, statt kraft ästhetischer Theorie die Probleme zu lösen, die sich aus der Kunst selbst stellen.

Will ästhetische Theorie nicht die immanent philosophischen Probleme ausblenden, wie es etwa die literaturwissenschaftlich orientierte Rezeptionsästhetik der «Konstanzer Schule» (JAUSS, ISER) mit Erfolg tut, oder will sie nicht einfach Ästhetik als «verdeckte Philosophiegeschichte» (Bubner) betreiben, worauf man sich mit der mehr oder minder schulmässigen Interpretation der ästhetischen Klassiker an den philosophischen Seminaren gern beschränkt, dann muss sie aus der oben zugespitzt formulierten Ausgangslage die scheinbar paradoxe Konsequenz ziehen, sich um der Philosophie willen von ihr abwenden zu müssen: Denn gerade um die nicht durch Reflexion gewonnene Wahrheit der Kunst anschauen zu können, muss philosophische Ästhetik die konkreten Kunstwerke als Orte der Wahrheit aufsuchen und ihre Wahrheit zu erfassen versuchen. Das setzt freilich voraus, dass die philosophische Ästhetik überhaupt zu den Werken der Kunst und gerade auch denen der modernen Kunst adäquaten Zugang findet. Obwohl dies als Notwendigkeit inzwischen in der Philosophie durchaus allgemein anerkannt wird, fehlt es aber nach wie vor an entsprechenden und erst recht an gelungenen Versuchen dazu. Aus diesem Grund drängt sich die Frage auf - wenn man nicht das Unvermögen der Philosophen voraussetzt - ob dafür allein die von mir dargelegte Fixierung der Philosophie auf ihre immanenten Probleme und die daraus folgende Majorisierung der Kunst durch Philosophie verantwortlich ist, oder ob nicht die Kunst ihrerseits - und damit komme ich zum zweiten Teil - der Philosophie den Zugang zu sich erschwert oder gar verunmöglicht.

II.

Im Hinblick auf diese Frage ist zunächst festzustellen, dass zentrale Kategorien der grossen Ästhetiken, die wegen ihrer systematischen Fundierung immer noch paradigmatische Geltung haben, von der tatsächlichen historischen Entwicklung der Kunst überholt worden sind. Es darf nicht unterschätzt werden, wie schwer es zum Beispiel der philosophischen Ästhetik gefallen ist, die Tatsache der «Nicht-mehr-schönen Künste» zu akzeptieren und sich mit ihrer Begrifflichkeit darauf einzustellen. Noch folgenreicher als das Veralten bestimmter Kategorien ist freilich für die Möglichkeit philosophischer Ästhetik ein - fast programmatisch zu nennender - Grundzug der modernen Kunst, die Rezeption bzw. den Rezipienten ins künstlerische Kalkül miteinzubeziehen. Diese Tendenz der modernen Kunst, die zwar nicht alle, aber doch wesentliche künstlerische Strömungen der Moderne umfasst, will ich zunächst an Beispielen belegen, die sich im wesentlichen auf einen der historischen Ausgangspunkte und auf einen gegenwärtigen Endpunkt jener Tendenz beschränken, um dann die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Möglichkeiten des philosophischen Zugangs zur Kunst zu verdeutlichen. Wenn auch - wie ich es in Aufsätzen über P. O. RUNGE gezeigt habe - bereits in der Kunst der Romantik die Rezeption ein von TIECK mit Bedenken bemerktes «Übergewicht ... über die hervorbringende Kraft des Künstlers» gewinnt, so wird dieses Übergewicht doch mehr theoretisch propagiert, als kunstpraktisch verwirklicht. Erst die Malerei des Impressionismus und besonders diejenige CEZANNES findet ohne direkte Korrespondenz mit den romantischen Ideen die formalen Mittel, um das Primat der Rezeption in der Kunst auch tatsächlich bildnerisch adäquat durchzusetzen.

Die impressionistische Malweise entwickelt sich aus der Idee, den reinen Netzhauteindruck - ohne Einfluss des schematisierenden Verstandes - auf den Malgrund zu übertragen. Die dabei erforderliche höchst artifizielle Haltung, welche auf intuitive Weise jede Wahrnehmung allein auf ihre objektiven, optischen Bedingungen zu reduzieren sucht, bedient sich dazu im Prinzip des heute wohlbekannten Verfahrens, den jeweiligen Farbton eines Gegenstandes in seine Grundfarben bzw. Komplementärkontraste sozusagen aufzurastern, damit dann im Auge, gemäss der 1876 von HELMHOLTZ entwickelten Dreifarbentheorie des Sehens, eine optische Farbmischung entstehen kann. In dem Masse aber, wie der Farbton eines Gegenstandes immer weniger aus den Schattierungen einer einzigen Farbe besteht, sondern sich aus vielen verschiedenen farbigen Punkten zusammensetzt, um jede Nuance des reflektierten Lichts wiederzugeben, verliert sich die Gegenständlichkeit des Gegenstandes in seiner Eigenschaft, blosses Medium der Reflektion des Lichts zu sein. Was bleibt, so sagt es GOMBRICH, «ist der flimmernde Widerschein des Gegenständlichen im farbigen Licht der Atmosphäre».

Infolgedessen geht mit der von den Impressionisten angestrebten optischen Objektivität des künstlerischen Wahrnehmungsund Gestaltungsaktes eine Subjektivierung des Rezeptionsaktes einher. Denn das, was die künstlerische Darstellung durch farbliche Auflösung an Gegenständlichkeit verloren hat, bleibt ihr in der Rezeption subjektiv dennoch erhalten, indem der Rezipient die Gegenständlichkeit in ihren blossen Widerschein ergänzend hineinprojiziert. Dabei ist jedoch die impressionistische Unbestimmtheit der dargestellten Gegenstände immer noch so bestimmend, dass dem Rezipienten der partielle Verlust der Gegenständlichkeit sowie seine diesen Verlust ausgleichende Projektionstätigkeit meist gar nicht bewusst wird. Auch CEZANNE arbeitet im impressionistischen Sinn mit Unbestimmtheitsstellen. Darüber hinaus gibt es aber bei ihm das Phänomen, dass er besonders in seinen Aquarellen bzw. späten Ölbildern an etlichen Stellen das unbearbeitete, leere Papier bzw. die Leinwand stehen lässt. Solche absoluten Leerstellen tragen selbst - im Unterschied zu den impressionistischen Unbestimmtheitsstellen - überhaupt nichts mehr zur identifizierenden Bestimmung der abgebildeten Gegenstände bei. Sie bieten keinerlei materiale und somit objektive «Vorgaben» mehr für die Projektionen des Rezipienten, so dass sich der Bestimmungsgrund für die auf diese Leerstellen bezogenen Projektionen überwiegend in die Subjektivität des Rezipienten verlagert. Darum geht die im Impressionismus noch objektiv gelenkte bei CEZANNE in eine subjektiv freie Projektion über. Tendenziell ist demnach bereits bei CEZANNE der von ihm als Bild materialisierte Gegenstand und das durch subjektive Projektionen konstituierte Bild des Rezipienten nicht mehr identisch - das Werk des Künstlers entspricht nicht länger dem «Werk» des Rezipienten.

Diese Nicht-Identität zwischen dem produzierten und dem rezipierten Werk, die bei CEZANNE gleichsam aufblitzt, aber durch die äusserste Anstrengung der kompositionellen Einbettung der Leerstellen sich noch nicht vollends durchsetzt, ist eine wesentliche Ursache für die Auflösung der klassischen Werkeinheit. Hervorzuheben ist, dass diese Nicht-Identität sich von einer immer schon bestehenden, «natürlichen» Nicht-Identität, welche etwa in der Natur der Wahrnehmung oder in persönlich oder gesellschaftlich bedingtem Unvermögen liegt, dadurch grundsätzlich unterscheidet, dass sie in der materialen Organisation der künstlerischen Objekte ausdrücklich angelegt ist. Die zunehmende Subjektivierung der Kunstrezeption und die damit verbundene weitergehende Auflösung der klassischen Werkeinheit kann hier nicht chronologisch durch das 20. Jahrhundert hindurch verfolgt werden. Doch besonders erwähnenswert in unserem Zusammenhang scheinen mir die künstlerischen Bestrebungen am Anfang der 60er Jahre zu sein, in denen die Leerstellen gleichsam zum Programm erhoben worden sind. Ich meine die monochrome Malerei Y. KLEINS und P. MANZONIS sowie die Intentionen der Künstlergruppe ZERO. Unter besonderer Beachtung des Eigenwertes von Farben und Materialien wird hier auf jede konkret- oder abstrakt-gegenständliche Kontextuierung der Leerstellen verzichtet, so dass das Bild selbst zur Leerstelle wird und die Rezeption überhaupt keine darüber hinausgehenden objektiven Bestimmungen mehr erfährt. Die subjektiven Projektionen des Rezipienten können daher im Bild keinen Halt mehr finden und weisen ihn ständig auf sich selbst zurück. Dadurch geht die Projektionstätigkeit des Rezipienten über in eine Reflexionstätigkeit. Indem jedoch Reflexion, die ja im Unterschied zur Unmittelbarkeit der Anschauung Nicht-Identität geradezu erzwingt, ins Werk eindringt, wird die Werkeinheit weiter aufgelöst. Aber den «qualitativen Sprung» zur vollkommenen Auflösung, also zur Entzweiung der klassischen Werkeinheit, finden wir hier gleichwohl noch nicht. Er wird erst etwa 10 Jahre später in den Arbeiten des «1. Werksatzes» von F. E. WALTHER beispielhaft vollzogen. Es handelt sich bei diesen Arbeiten um vom Rezipienten benutzbare «Objekte», die instrumentellen Charakter in dem Sinne besitzen, dass ihnen nicht selber schon ästhetisches Material anhaftet, sondern ihre Materialität funktional, auf Benutzbarkeit hin organisiert ist. Die Benutzung soll dem Rezipienten eine gedankliche Konstitution des Ästhetischen ermöglichen, welches sich im Idealfall zu einem überaus komplexen, gestalthaften, also auch werkhaften, Bewusstseinsgegenstand verdichten kann. Dieses Werk des Bewusstseins - wenn es denn gelingt - ist ein ausschliesslich mental und damit immateriell existierender Vorstellungskomplex ohne jeden dinglichen Bestandteil. Denn die benutzbaren «Objekte» haben lediglich den Status von Werk-Zeugen, sind also Zeug für das Werk und, wie jedes andere Werkzeug auch, nicht selber im Werkstück anwesend - sie verzehren sich gleichsam im Werden des Werkes.

Wir haben es also hier mit dem künstlerisch wie theoretisch äusserst interessanten Phänomen zu tun, dass die aus «dinglichem Unterbau» und «ästhetischem Oberbau» (Heidegger) bestehende und kraft künstlerischer Formung unauflösliche Einheit des klassischen Werkes endgültig zerfallen ist: in einen vom Künstler hervorgebrachten dinglichen Teil, der Instrumentalcharakter hat, und in einen vom Rezipienten gedanklich zu konstituierenden ästhetischen Teil, dem Werkhaftigkeit eignet.

Das Fazit meiner Überlegungen kann nun in kurzen und kategorischen Sätzen gezogen werden: Es muss lauten, dass sich Kunst und Philosophie in einer absolut konträren Gegenbewegung befinden. Während wesentliche Strömungen gegenwärtiger Ästhetik aus philosophie-immanenten Gründen darauf angewiesen sind, über das Kunstwerk als den gesuchten Ort reflexionsunabhängiger Wahrheit Zugang zur Kunst zu finden, betreiben wichtige Tendenzen in der modernen Kunst systematisch die Auflösung und Entzweiung des Werkes und entziehen damit der philosophischen Ästhetik ihren Gegenstand. Für wie bedeutsam man diese Kunsttendenzen auch immer halten mag, unbestreitbar bleibt, dass deren künstlerische Hervorbringungen von ihren Rezipienten auch Reflexion verlangen und deshalb so lange von der Philosophie verkannt werden müssen, wie diese darauf beharrt, in den Kunstwerken der Wahrheit ausschliesslich sinnlich anschaubar begegnen zu wollen.

Auf die Frage, was denn der ästhetischen Forschung zu tun übrigbleibt, ausser solche grundsätzlichen methodischen Überlegungen, wie ich sie hier angestellt habe, noch weiter und gründlicher voranzutreiben, kann in der geforderten Kürze nur mit einem einzigen hoffnungsvollen Hinweis geantwortet werden: Die Gegenläufigkeit der in die Sphäre der Reflexion eindringenden Kunst und der das Reich der Anschauung ersehnenden Philosophie ist nicht nur als unvereinbarer Gegensatz interpretierbar, sondern beinhaltet gleichermassen die Möglichkeit einer gegenseitigen Annäherung. Wenn die Philosophie nicht länger auf ihre bisherige Erwartung an die Kunst fixiert bliebe und die Kunst sich in ihrem Hang zur Reflexion nicht weiterhin von der Philosophie isolierte, dann könnte der Vorstoss beider ins angestammte Gebiet der anderen Disziplin zu einem Punkt gelangen, wo Kunst und Philosophie zusammenfallen - und zwar als Ästhetik.

«Kann Theorie ästhetisch werden?» (Bubner) - um diesen Gedanken ADORNOS, der das «Prinzip Hoffnung» in seiner «Ästhetischen Theorie» darstellt, verwirklichen zu können, «muss die Kunst die Reflexion sich einverleiben und so weit treiben, dass sie nicht länger als ein ihr Äusserliches, Fremdes über ihr schwebt; das heisst heute Ästhetik» (Adorno). Wenn also die philosophischen Zugänge zur Kunst versperrt sind, bleiben als mögliche und bisher unerprobte Lösungen des Problems immer noch die künstlerischen Zugänge zur Philosophie. Sie zu suchen und eine Gestalt von Ästhetik zu finden, die weder der alten Ästhetik der Philosophie noch der bisherigen Ästhetik der Kunst gleicht, dafür ist eine Kunsthochschule der prädestinierte Ort.

Anmerkung

An der Akademie der Bildenden Künste München hat im Frühjahr 1983 ein Hearing zum Thema «Philosophie und bildende Kunst» stattgefunden. Zu einem 30-minütigen Vortrag über das vorgegebene Thema «Philosophische Zugänge zur bildenden Kunst nach 1945» waren insgesamt zehn Referenten (u.a. W. Grasskamp, Köln / B. Lypp, Berlin / J. Zimmermann, Hamburg) eingeladen. Der abgedruckte Text ist das Referat des Dozenten für Kunsttheorie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg.


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