ask23 > Lingner: Qualitätssteigerung durch Eigenverantwortung

Michael Lingner

Qualitätssteigerung durch Eigenverantwortung

Demokratisierung statt Ökonomisierung des Kunstsystems



Ein Unternehmen (sollte) schon etwas von der Eigenschaft der Sache bei sich führen, worauf es gerichtet ist; denn das ist ein wichtiger und wesentlicher Teil seiner Wirkung. (Montaigne)


Intro

Es ist zu einer ebenso banalen wie oft auch fatalen Tatsache geworden, dass Wirtschaftsunternehmen und -repräsentanten in zunehmender und vielfältiger Weise großen Einfluss auf das Geschehen in der Kunst nehmen. An den negativen Auswirkungen deren drohender totalen Verwirtschaftlichung besteht zwar kein Zweifel und wird immer wieder Kritik geübt. Doch wie überzeugend diese auch sein mag, so folgenlos bleibt sie faktisch. Dass die Wirtschaft sich von jeglicher Argumentation unbeeindruckt zeigt und allenfalls insoweit darauf reagiert, wie es ihr für das noch erfolgreichere Operieren im Kunstbereich nützt, ist freilich nur für etwas naive Gemüter überraschend.

Schließlich kann es jeder wissen und erfahren, dass für das üblich gewordene marktwirtschaftliche Geschäftsgebaren letztlich nichts anderes als die rigorose Durchsetzung der eigenen Interessen, die möglichst rasche Expansion und die aggressive Verdrängung konkurrierender Angebote zum Zweck des maximalen materiellen Erfolges zählt. Was sich individualpsychologisch im Extremfall als Omnipotenz- und/oder Suchtverhalten darstellt, erscheint gesamtgesellschaftlich betrachtet in einem anderen Licht. Titel betriebswirtschaftlicher Fachlektüre wie "Clausewitz für Manager" zeigen, dass die Wirtschaft auch nach ihrem eigenen Selbstverständnis den Regeln einer immerhin zwar entmilitarisierten, aber schlimmstenfalls nicht minder existenzvernichtenden Kriegsführung gehorcht. Insofern ist es nur logisch, wenn sich das System der Wirtschaft nicht auf den möglichst profitablen Absatz seiner Produkte beschränkt, sondern zunehmend offensiv auch die Verbreitung seiner Ideologie betreibt. Nicht länger nur noch nach der Eroberung von Märkten strebend, hat sich Wirtschaft auf diese Weise inzwischen verschiedener Kernbereiche unserer Gesellschaft bemächtigt. Nach der weitgehend gelungenen Übernahme von Politik und Medien, richten sich nun die Begehrlichkeiten auch auf Wissenschaft und Kunst als den gefürchteten und bewunderten Bastionen von Freiheit und Kultur.

Wer nicht auf die eher unwahrscheinliche Weisheit der Wirtschaft und ihren Willen zur Selbstbeschränkung warten will, sollte sich nicht darauf beschränken, deren Expansionismus zu beklagen. Zwar unbequemer, aber glaubwürdiger und aussichtsreicher ist es vielmehr, sich kritisch denjenigen gesellschaftlichen Teilbereichen selbst zuzuwenden, die von weitgehender Ökonomisierung betroffen sind. Bezogen auf das Kunstsystem haben demzufolge alle seine Akteure zuallererst sich selbst zu fragen, wie und warum es geschehen konnte, dass wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen eine derartige Dominanz über künstlerische Wertvorstellungen haben erlangen können und was gegen diese klägliche Kapitulation und die damit einhergehende grassierende Geistlosigkeit zu unternehmen ist.

Insofern nach den vom Kunstsystem selbst zu verantwortenden Ursachen gefragt wird, leiden die nachfolgenden Überlegungen keineswegs unter Wirtschaftsfeindlichkeit. Was gern als überkommene Kapitalismuskritik diffamiert wird, ist im klassischen Sinne keine, da sie sich nicht aus (real)sozialistischen Blütenträumen oder anderen fundamentalistischen Systemveränderungsphantasien nährt. Intendiert ist nicht mehr und nicht weniger, als dass die Akteure in der Kunst, statt weiter um ihrer eigenen gleichsam wildgewordenen Selbsterhaltung willen an betriebswirtschaftliche Offenbarungen zu glauben, sich auf die Regeln und Werte der künstlerischen Logik und Kultur besinnen. Nur unter dieser Voraussetzung könnten alle die Kunst betreffenden wesentlichen Entscheidungen primär nach deren internen Kriterien erfolgen, so dass von spezifisch künstlerischen Produktionen und Institutionen überhaupt noch mit Sinn und Recht zu reden ist. Aus überwiegend wirtschaftlichen Erwägungen dagegen lässt sich zwar manchmal ein gutes Geschäft, aber nie (gute) Kunst machen - ebensowenig übrigens wie solche ausstellen, beurteilen, lehren oder auch nur (an)kaufen.

Jenes an sich erstaunliche Phänomen, dass die Akteure im Kunstsystem sowohl durch aktives wie unterlassenes Handeln dessen Ökonomisierung und damit die Bedrohung künstlerischer Kreativität und Geistigkeit betrieben haben, lässt sich in seiner Komplexität nur exemplarisch in den Blick bekommen. Als zentrale, gleichsam strategische Schnittstelle zwischen wirtschaftlichen und künstlerischen Interessen sind die Vergabeverfahren von Finanzmitteln zur Kunstförderung, ohne die kaum jemand den Übergang vom Kunststudium zur Kunstprofession schafft, ein besonders geeignetes Untersuchungsfeld. Die sich deswegen anbietende Thematisierung der Jury (= Auswahl und Ausschluss)problematik kann zudem von eigenen und andauernden Erfahrungen als Opfer wie als Täter in solchen Selektionsverfahren ausgehen. Darum fällt jede Kritik auch auf den Autor zurück, was sie zwar nicht weniger zutreffend aber hoffentlich besser diskutierbar macht. Aber findet im Hinblick auf ein weitergehendes, sich nicht im bloßen Diskutieren erschöpfendes Handeln die Explikation und Eskalation von Differenzen überhaupt noch einen Raum und ihre Zeit? Funktionieren angesichts des momentan allseits zu beobachtenden Durchschlagens der nackten Machtverhältnisse nicht alle Diskurse auch im Kunst- und Wissenschaftsbetrieb inzwischen genauso nur als Muzak, als jene in Kaufhäusern, Flughäfen und Arztpraxen uns beruhigende Hintergrundmusik, deren Dasein sich in nichts anderem erfüllt, als überhört zu werden?(0)

I Der tabuisierte Diskurs

Bekanntlich werden Kunststipendien oder -preise nicht in Lotterien verlost, sondern zumeist in Auswahlverfahren durch Jurys vergeben. Aber ob es sich um Lotterieziehungen oder Juryentscheidungen handelt - auf allgemeines Interesse stößt in jedem Fall ausschließlich das Ergebnis, während die Art und Weise, wie es dazu kommt, meist ein Geheimnis bleibt und dem Walten höherer Mächte zugeschrieben wird. Was dem Lotteriespiel ganz und gar entspricht, ist indes bei Juryurteilen völlig verfehlt.

Werden die jede Jurierung ausmachenden Entscheidungs- und Selektionsprozesse als solche geleugnet oder bagatellisiert und ihre (Hinter)Gründe verschwiegen, bedeutet das eine fahrlässige Verdrängung oder vorsätzliche Verschleierung der Realitäten. In jedem Fall wird die mit der Beteiligung an solchen Verfahren eigentlich übernommene Verantwortung mehr oder minder ignoriert. Dass sich die Mehrzahl der Juroren, aber auch der Jurierten so verhält, sollte nicht allein mit den bekannten menschlichen Schwächen oder mit einer für das Kunstmetier typischen Mentalität (v)erklärt werden. Vielmehr sind die oft fatalistischen oder zynischen Reaktionen aller Beteiligten ein Ausdruck ihres Unbehagens und als Symptom für die strukturelle Unzulänglichkeit der gemeinhin praktizierten Auswahlverfahren zu werten. Als gern gewählten Ausweg allerdings die Alleinherrschaft begnadeter KuratorInnen zu etablieren, bedeutet nur die Verschleierung der Krise.(1)

Die Selektionsproblematik verschärft sich umso mehr, je rigoroser nach dem Credo der Moderne mit jeglicher Schöpfung so umgegangen wird, als ob es sich um etwas schlechthin (Nach)"Machbares" handele. Was im Hinblick auf die Hervorbringungen der Natur allerdings immer wieder an letzte Grenzen stößt, hat sich in der Kultur für ihre erklärtermaßen künstlichen Kreationen als gängige Praxis durchgesetzt. Jedenfalls ist nach dem heutigen Bewusstseinsstand, dass Kunst sich weder als Absolutum offenbart, noch als Organismus selbst entwickelt, sondern primär kommunikativ konstruiert wird, nicht länger zu leugnen, dass auch und gerade mit Jurys direkt in die kulturelle Evolution eingegriffen wird. Die Frage stellt sich dann umso nachdrücklicher: Wer entscheidet wie und warum über die Verteilung von Existenzchancen? - Eine intensive Auseinandersetzung mit der Selektionsthematik ist deswegen nicht mehr nur im biologisch-medizinischen, sondern ebenso im künstlerischen Kontext dringend erforderlich.(2)

Den bislang weitgehend tabuisierten Diskurs über die Problematik der Verantwortbarkeit von kulturentscheidenden Selektionen endlich zu beginnen, hat eine umso größere Bedeutung, als die Fortsetzbarkeit der Kunst in der (Post)Moderne ohnehin als gefährdet gilt. Über anderswo verfolgte grundsätzliche Überlegungen hinaus ist es aber nicht zuletzt im Hinblick auf die Entwicklung alternativer Auswahlverfahren mindestens so notwendig, die Diskussion durchaus pragmatisch voranzutreiben. Denn inzwischen haben gerade die der Projekt- und/oder Personenförderung dienenden Auswahlverfahren im und für das System der Kunst überaus an Bedeutung gewonnen. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in den erheblich veränderten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen:

Zugunsten der fortgesetzten Maximierung privater, zunehmend leistunqsloser (Kapital-)Einkünfte wird spätestens seit dem Untergang der "realsozialistischen" Diktaturen wirtschafts- und steuerpolitisch auch in Deutschland ganz massiv und geradezu systematisch die Verknappung staatlicher Einnahmen betrieben. Die nicht zuletzt daraus resultierenden aber auch der Großmannssucht der politischen Kaste zu verdankenden Defizite der öffentlichen Hände verführen den Staat zu weiterer Entreicherung durch den andauernden (Aus)Verkauf seiner Vermögenswerte. Infolgedessen sind die staatlichen (Sozial-)Leistungen generell gekürzt worden und sowohl die an bestimmte Aufträge bzw. Projekte gebundenen, wie insbesondere auch die "freien" Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für künstlerisch Tätige haben sich erheblich verringert. Darüber hinaus hat sich deren Marktabhängigkeit und der Konkurrenzdruck, dem sie sich inzwischen global ausgesetzt sehen, eminent erhöht. In dieser immer schwieriger werdenden und -wie sich zeigen wird-keineswegs Kreativität sondern Konformität fördernden Arbeitssituation(3) geht es bei den allermeisten Bewerbungen für Preise oder Stipendien immer weniger darum, Anerkennung zu gewinnen, als vielmehr um die (Weiter-) Finanzierung des sonst nicht möglichen, mehr oder minder ausschließlichen Arbeitens (statt bestenfalls bloßen Lebens)als KünstlerIn. Insofern fallen mit der Vergabe oder Versagung von Förderungen nicht selten ganz existentielle Entscheidungen - über die Zukunft der einzelnen Personen, und allemal über die weitere Genese der Kunst.

II Quantität statt Qualität

Dass die Kunstförderung durch die Verschlechterung der künstlerischen Arbeitsmöglichkeiten wie der allgemeinen Lebensbedingungen an Wichtigkeit gewinnt, während zugleich die immer schon fragwürdigen Auswahlverfahren weiter an Qualität und Legitimität verlieren, ist fatal und kein Zufall. Denn für beide Entwicklungen ist dieselbe liberalistische, zur totalen Verwirtschaftlichung führende Gesellschaftspolitik mit ihren überaus bedenklichen Auswirkungen ursächlich:

Es gehörte zu den Wesensmerkmalen der ausdifferenzierten bürgerlichen Demokratien, dass das ökonomische, letztendlich allein auf die Maximierung der Kapitalerträge gerichtete Handeln überwiegend auf das Wirtschafts-System beschränkt blieb und zudem durch Gesetzgebungen im Sinne einer zwar keineswegs gerechten, aber doch relativ sozialen Marktwirtschaft gewisse Regulationen erfuhr. Inzwischen hat sich die Praktizierung des kapitalistischen Konzepts von ökonomischer Effizienz nicht nur durch zunehmende Deregulierung radikalisiert, sondern überdies auf alle übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche ausgebreitet. Auch im Kunstsystem konnte sich die Ideologie von der Unfehlbarkeit des Marktes weitgehend durchsetzen. Aber statt der versprochenen größeren finanziellen Selbständigkeit ist die Kunst "in eine populistische Abhängigkeit von ihrem zahlenden Publikum, in riskante Kompromisse mit Sponsoren sowie in undurchsichtige Koalitionen mit Geldmaklern.."(4) geraten. Die gesamten -gleich ob von Staat oder Wirtschaft- an die Kunst gerichteten Ansprüche, Interessen und Erwartungen reduzieren sich nun völlig auf ihre quantifizierbare Seite: Bringen sie materiell oder symbolisch einen messbaren (Geld- oder Geltungs)Gewinn ein?

Dem ökonomistisch verkürzten Zweck- und Prestigedenken in seiner Geist- und Wertelosigkeit werden alle qualitativen Aspekte der Kunst untergeordnet oder angepasst, um sie schließlich überhaupt nicht mehr anders als nur noch quantitativ, nämlich durch das, was für "erfolgreich" gehalten wird, zu definieren.(5) Die allseits verbreitete und devote Übernahme von solchen aus der (Volks- bzw. Betriebs)Wirtschaft kommenden Kriterien entzieht -mehr oder weniger unabhängig von den gerade agierenden Personen- ganz zwangsläufig jeglichen fachspezifischen Diskursen den Boden. Entscheidungen auch über künstlerische Stipendien, Projekte und Karrieren fallen dann fast automatisch unter dem sehr beschränkten Gesichtspunkt, wie die Gunst des Geldes sich gewinnen oder erhalten und damit der eigene Status am ehesten sichern oder verbessern lässt.

Auch wenn selbst extremer Opportunismus als ganz und gar gewöhnlich gewordenes Gebaren nicht (mehr) als unmoralisch gelten mag, so ist solches Verhalten doch auf eine desaströse Weise unprofessionell. Denn sofern in Jurys nicht ohnehin einfach votiert und überhaupt vermieden wird, Entscheidungen zu diskutieren, dienen alle Ansätze des Argumentierens zumeist der nachträglichen Rationalisierung des vorab Gewussten und Gewollten, statt einer möglichst sachgerechten wie unabhängigen Entscheidungsfindung und -begründung. Dass es in Auswahlgremien keine lebendige Kultur der intensiven und kontroversen fachlichen Auseinandersetzung gibt, wird auch verhindert durch die zunehmende Installation von recht euphemistisch "Netzwerke" genannten Gefälligkeits- und Abhängikeitsbeziehungen. Ohne die Zugehörigkeit zu mindestens einem der tonangebenden "culture clubs" ist für ExpertInnen die Berufung in entsprechende Gremien von vornherein ebenso aussichtslos, wie es für BewerberInnen ganz und gar hoffnungslos ist, überhaupt in die engere Auswahl gezogen zu werden.

III Reduzierung kultureller Artenvielfalt

Wie gut oder schlecht es allen Betroffenen auch gelingen mag, sich mit den herrschenden Verhältnissen individuell zu arrangieren, so bleibt doch ein gravierendes grundsätzliches Dilemma bestehen: Wenn der Grundsatz für vernünftig gehalten wird, dass "genauso wie... beim Naturschutz... vor allem derjenigen Kunst geholfen werden soll(te), die durch die aktuellen Entwicklungen am meisten gefährdet ist"(6), so werden Sinn und Zweck von Kunstförderung durch die praktizierten Auswahlverfahren geradezu pervertiert. Denn während es besonders angesichts knapper Mittel geboten wäre, die Qualitätsdiskussion über deren Vergabe auf solche Kunstentwürfe zu konzentrieren, "die bedroht sind und ohne eine solche zusätzliche Förderung untergehen würden"(7), ist der feste Vorsatz verbreitet, möglichst das zu finden und zu fördern, was bereits "erfolgreich" ist oder zu werden verspricht.

Doch das entscheidende Kriterium für Erfolg ist unglücklicherweise eben nicht die künstlerische Qualität, sondern das egoistische Interesse, in bestimmte Kunst zu investieren: Entweder, weil es finanziell vermögenden und/oder institutionell ermächtigten Einzelpersonen aussichtsreich erscheint, auf deren künftige große Medien- und Publikumsakzeptanz zu spekulieren, oder weil sich die Spekulationen bereits erfüllt haben, so dass die allgemeine Nachfrage und entsprechend die Preise und Verkäufe steigen. In jedem Fall fließt Geld und es werden auch den KünstlerInnen nicht (gänzlich) entgehende Einnahmen erzielt, so dass nach dem Erfolgskriterium paradoxerweise gerade die Kunst am meisten gefördert wird, die dessen am wenigsten bedarf.(8) Aber ist es denn wirklich erstrebenswert oder gar erforderlich, in der Kunstförderung die Absurditäten der auch sonst betriebenen Verteilungspolitik schlicht zu wiederholen ?

Das unverkennbare Dilemma einer verfehlten Mittelvergabe aufgrund versagender, die Qualitätsfrage ausblendender Auswahlverfahren wird weiter verschärft durch einen ebenso trivialen wie suggestiven Mechanismus: Da nichts erfolgreicher ist als der Erfolg, fungieren die Förderungspräferenzen natürlich als Attraktoren für alle weitere künstlerische Produktion, so dass sich auch dadurch die Drift der Gegenwartskunst, auf ihre vermeintliche oder tatsächliche Publikumswirksamkeit hinzuarbeiten, ständig verstärkt. Wie immer diese Ausrichtung gewertet wird, ob als ersehnte Versöhnung von Kunst und Leben, als befürchteter Untergang im Artotainment oder als eine schlicht zu akzeptierende Gegebenheit, in jedem Fall nimmt die Menge eher exaltierter und medienkompatibler, tendenziell gesellschaftskonformer und konventioneller Kunst mehr und mehr zu, der es primär um die marktgerechte Eigenpositionierung, statt um den künstlerischen Eigenwert geht. Dieser aus der andauernden Bevorzugung resultierende Quantitätszuwachs begünstigt die ohnehin vorliegende (Fehl)Entwicklung weiter, dass eben jener, bei aller Inhomogenität doch in wesentlichen Merkmalen übereinstimmende Typus von oberflächlicher "Kunstbetriebskunst", alle anders gearteten künstlerischen Praktiken verdrängt oder sogar verunmöglicht. Die weltweit zu beobachtende Austauschbarkeit der in den Museen moderner Kunst gezeigten Exponate zeugt bereits von der drastischen Reduzierung kultureller Artenvielfalt.

IV Pseudodemokratisches Alibi

Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird Kunst umso hemmungsloser protegiert, desto marktorientierter und erfolgversprechender sie sich als modern, niveauvoll und vor allem offen erscheinende Plattform für jegliche Produkt- und Personenpräsentation eignet.(9) Dass sich als Gegenwartskunst vor allem solcherart repräsentative Projektionsflächen für saturierte Selbstverwirklichungsphantasien durchsetzen, erzwingt geradezu die Frage nach den Möglichkeiten einer grundsätzlichen Veränderung der überkommenen Jurierungsrituale: Wie wären Auswahlprozesse zu konzipieren, in denen auch eine tatsächlich förderungsbedürftige Kunst sich als förderungswürdig erweisen könnte, so dass beispielsweise auch solche auf den verschiedenen Feldern künstlerischer Grundlagenforschung stattfindenden Experimente eine echte Chance bekämen? Der Glücksfall einer derart offenen, primär qualitätsorientierten Urteilsfindung ist indes bisher bestenfalls die höchst unwahrscheinliche Ausnahme von der Regel jener notorischen Benachteiligung bzw. Unterdrückung substantiell innovativer und alternativer künstlerischer Arbeitsansätze.

Um den skandalösen Umstand der Diskriminierung gerade dieser für die kulturelle Evolution unverzichtbaren "Mutanten" zu rechtfertigen, verweist man gerne auf den im Unterschied zum Kuratorenmodell immerhin demokratischen Charakter der gängigen Jurierungspraxis. Damit wird nicht nur betont, dass jeder Urteilsspruch natürlich auf einem Mehrheitsvotum basiert, sondern zugleich auch das Entscheidungskriterium "Erfolg" als durch und durch demokratisch dargestellt. Denn etwas könne, so wird argumentiert, doch allein aufgrund einer Vielzahl zustimmender (Kauf)Entscheidungen erfolgreich sein. Was zunächst plausibel klingt, übersieht allerdings völlig, dass keine noch so große Vielzahl bereits die Mehrheit bedeutet. Denn als solche kann diese überhaupt erst in Relation zu einer bestimmten Vergleichsgröße gelten. Auch wenn gewisse (Kauf)Entscheidungen häufig(er) getroffen werden, handelt es sich dabei noch lange nicht um demokratische Abstimmungen. Vielmehr erweist sich "Erfolg" sogar dann als ausgesprochen undemokratisch, wenn das ihn ausmachende ausserordentliche Quantum an Aufmerksamkeit und Geld nur von relativ wenigen investiert, aber dennoch für relativ viele trendbestimmend ist.

Die Meinung der Mehrheit durch eine Minderheit zu dominieren, hat ausbildender Kennerschaft entstanden, ist diese diskrete in der Kunst zweifellos Tradition. Einst unter der Ägide sich Qualifikation inzwischen allerdings weitgehend durch die Vorherrschaft faktischer Finanzkraft ersetzt worden. Dass der Besitz monetären Kapitals nur in den wenigsten Fällen mit der Verfügung über irgendein spezielles kulturelles Kapital von nennenswerter Bedeutung, jedoch mit der Anmaßung einhergeht, auch das Kulturgeschehen dominieren zu wollen, führt zur Verstärkung jener undemokratischen, elitären Tradition der Majorisierung. Dem widerspricht keineswegs die aus ökonomischen Interessen zugleich betriebene Popularisierung der Kunst und ihre Annäherung an den Massengeschmack. Aber gerade die bisher erst in Ansätzen sichtbaren negativen Auswirkungen dieser dem breiten, vor allem dem staunenden und zahlenden Publikum geschuldeten Nivellierungstendenz wecken starke Zweifel, ob die Orientierung an Mehrheitsmeinungen im Hinblick auf die künstlerische Qualität denn der Weisheit letzter Schluss ist. Zudem nährt die Beobachtung, dass auch durch mehrheitlich getroffene Juryentscheidungen vorwiegend eine marktkompatible oder völlig indifferente künstlerische Monokultur gefördert wird, allemal die Skepsis, ob im Kunstbereich die Geltung eines Mehrheitsprinzips überhaupt sinnvoll und wünschenswert ist. Insofern es weder zur Steigerung der Qualität noch der Legitimität von Auswahlentscheidungen beizutragen vermag, hat jedenfalls seine bisherige Anwendung eher eine pseudodemokratische Alibifunktion im strukturell eigentlich eher un- oder sogar antidemokratischen Kunstsystem.(10)

Doch trotz aller für die Kunst typischen, aber auch gesamtgesellschaftlich zunehmenden Reserviertheit gegenüber jeglichen weitergehenden Demokratisierungsbestrebungen: Wie sollte das in einer immer komplexeren Welt wachsende und über unsere kulturelle Evolution weitgehend entscheidende, existentielle Problem der Selektion, auf verantwortbare Weise anders als demokratisch zu lösen sein?- Wenn es dazu offenbar keine akzeptable Alternative gibt, aber ein allein auf das Mehrheitsprinzip fixiertes Demokratieverständnis sich in einem hochspezialisierten gesellschaftlichen Teilbereich wie der Kunst als unzureichend erweist, liegt der Vorschlag nahe, den auf je einmalige Wahl- und Mehrheitsentscheidungen (eines zur Einheit stilisierten Staatsvolkes) reduzierten "monistischen" Demokratiebegriff "pluralistisch" zu erweitern. Statt als bloße staatliche Organisationsform, wird Demokratie dann als eine "Lebensform, ein notwendig unabgeschlossener Prozess der Demokratisierung aller Lebensbereiche verstanden, der die Mündigkeit und Selbstbestimmung jedes Einzelnen zum Ziel"(11) hat.

V Die Kunst der Willensbildung

Um mehr Handlungsautonomie für mehr Menschen durch Überwindung des monistisch restringierten, rein formalen Demokratieverständnisses zu erreichen, wird das Volk als eine "Vielheit von Betroffenen" betrachtet, "deren Beteiligung (in verschiedenen Arten der Kooperation: von Anhörung bis Mitwirkung)"(12) zu ermöglichen ist. Dies macht erforderlich, dass statt der einmaligen, einsamen und endgültigen mehrheitlichen Willensentscheidung nun die zuvor in den gesellschaftlichen Gruppen und Subsystemen zu organisierende Willensbildung ins Zentrum der Demokratisierungversuche rückt. Dabei sind alle Anstrengungen primär und konsequent darauf zu richten, dass die Willensbildung selbst in allen Phasen und in jeder Hinsicht sich im erweiterten Verständnis höchst demokratisch vollziehen kann.

Die Freiheit aller (Beteiligten) zu fordern und zu fördern, soll ihr Recht wie ihr Vermögen zur Selbstbestimmung stärken. Erst unter dieser Voraussetzung wird es wahrscheinlicher, dass die in Auswahlverfahren fachlich geforderte Unabhängigkeit und moralisch gebotene Verantwortung auch tatsächlich aufgebracht wird. Doch nicht nur für die Steigerung der Professionalität und Seriosität, sondern insbesondere auch für die Zurechenbarkeit individueller Verantwortung, ohne die jede Selektionsentscheidung eine Farce wäre, ist Selbstbestimmung unabdingbar. "Das Grundgesetz verwendet denn auch die Begriffe Verantwortung und Entscheidungsfreiheit synonym...", während "...sich Politiker und Gesetzgeber angewöhnt haben, von Eigenverantwortung anderer zu reden, und damit nicht selbstbestimmte Freiheit, sondern im Gegenteil die Erfüllung fremdgesetzter Pflichten meinen."(13)

Als gleichsam demokratische Institute der freien, offenen Willensbildung organisiert und praktiziert zu werden, würde nicht nur die Qualität und Legitimität der Auswahlverfahren erhöhen. Auch ihre Akzeptanz und Glaubwürdigkeit nähme erheblich zu, da sie mit jenen die gesamte Moderne prägenden Begriffen von "freier Kunst" und "offenem Werk" strukturell übereinstimmten. Folglich würden die zu beurteilenden künstlerischen Hervorbringungen sich nicht mehr prinzipiell von den Auswahlverfahren unterscheiden und darum auf mehr Gerechtigkeit hoffen dürfen. Dabei kann die Affinität sogar so weit gehen, dass die Konzeption und Realisierung der Versuche zur Demokratisierung von Auswahlverfahren im Idealfall selbst zur künstlerischen Praxis wird. Ihr Vorzug gegenüber vergleichbaren Projekten bestünde sogar darin, dass durch die Schaffung von speziell der Selektion dienenden Kultur-Einrichtungen der vielbeschworene "institutionenkritische" Anspruch endlich eingelöst würde (14), während er bisher kaum mehr als bloße Behauptung blieb: Stets ist Selbstbestimmung, wie bei solchen "partizipatorischen" Possen á la "park fiction", lediglich simuliert und symbolisiert worden.

Was nicht nur in der Gegenüberstellung zweifellos das Attribut "künstlerisch" verdient, kann indes - wie alle Kunst - erst wirklich als gelungen gelten, wenn im Sinne des vorangestellten Mottos von Montaigne genau der Zweck, auf den das (Auswahl)Verfahren zielt, sich gleichsam performativ bereits in dessen Vollzug faktisch verwirklicht. Um dieses Qualitätskriterium zu erfüllen, ist für die Konzeption derart künstlerisch und demokratisch ambitionierter Auswahlverfahren folgende erste und grundsätzliche Konsequenz zu ziehen: Die bezweckte Förderung sollte sich nicht erst als Ergebnis des abgeschlossenen Auswahlverfahrens für verschwindend wenige der BewerberInnen ausschließlich in Form finanzieller Zuwendungen realisieren; vielmehr wäre anzustreben, dass sowohl materiell (etwa durch angemessene Erstattung der aufgewendeten Bewerbungskosten) als auch ideell (etwa durch intensive Diskussion der eingereichten Arbeitsproben) auch im Auswahlprozess selbst für möglichst viele bereits Förderung erfahrbar wird.

Gerade weil das den Rahmen herkömmlicher Vorstellungen über Jurys gänzlich sprengen mag, ist es angesichts deren offensichtlicher Defizite umso mehr geboten, aus den bisherigen Überlegungen einige weitere grundsätzliche Postulate für die Modellierung einer demokratischeren wie sach- und qualitätsorientierteren Willensbildung in Auswahlverfahren abzuleiten:

- Während die Künstlerinnen wie ihre Werke bislang lediglich als Objekte in den Auswahlverfahren präsent sind, sollte ihnen ermöglicht werden, als Subjekte der Beurteilung zu fungieren und mit über die Vergabe der Fördermittel entscheiden zu können.

- Anstelle der alleinigen Entscheidungsgewalt eines aus Gründen der Pragmatik und des Prestiges mehr oder minder zufällig entstandenen Gremiums, sollte eine bestimmte Anzahl von Experten, die sich für das jeweilige Förderziel besonders qualifiziert haben und engagieren wollen, sowohl über die Zuwendungsempfänger ebenfalls mitbestimmen können als vor allem auch eine mäeutische (moderierende und inspirierende) Funktion für die fundierte Auseinandersetzung mit den eingereichten Projekten wahrnehmen.

- Die Fiktion, dass aus der unmittelbaren Anschauung (im Minutentakt) gewonnene und als Privatperson gefällte ästhetische Urteile als Entscheidungsgrundlage ausreichend sind und keiner weiteren intellektuellen Befragung und Begründung bedürfen, sollte angesichts der anerkannten "Kommentarbedürftigkeit und allgemeinen "Konzeptionalisierung" moderner Kunst aufgegeben werden zu Gunsten der längeren Prozedur einer öffentlichen und argumentativen Verhandlung der auszuwählenden künstlerischen Hervorbringungen.

- Dass die BewerberInnen für Kunstpreise und -stipendien momentan über wenig Informationen und keinerlei Rechte verfügen, bedeutet eine selbst von Lotterieteilnehmern niemals akzeptierte Zumutung, die unbedingt durch den transparenten Charakter der Ausschreibungsbedingungen und die paritätische Durchführung der Auswahlverfahren beseitigt werden sollte. Desweiteren wäre eine Supervision des Verlaufs dieser selbstgesteuerten Selektionsprozesse wünschenswert, um das gesamte Vorhaben als künstlerisches Forschungsprojekt weiter auswerten und optimieren zu können.

Die zuvor theoretisch skizzierte "Philosophie" der Demokratisierung von Auswahlverfahren lässt sich freilich nur konkret umsetzen, wenn abhängig von den Förderungszielen und -bedingungen der jeweiligen Auslober ein ganz spezifisches Procedere für die entsprechenden Auswahlverfahren von Fall zu Fall eigens entwickelt wird.(15) Dieses natürlich nicht ganz unaufwendige Unternehmen indes als utopisch im Sinn von unverwirklichbar abzutun, entlarvte sich sofort als Ausrede. Denn die Kunstpreise und -stipendien, die Fördermittel vergeben können, verfügen bereits über die erforderlichen finanziellen Möglichkeiten. Voraussetzung ist lediglich, dass ihre Stifter und/oder Bevollmächtigten andere Prioritäten setzen wollen, wozu die Verwalter öffentlicher Mittel sogar verpflichtet werden müssten. So würde satzungsgemäß ein wichtiger Beitrag geleistet, damit Kunst in unserer verwirtschaftlichten Welt nicht mehr nur noch nominal oder museal vorkommt, sondern als zeitgenössische multikulturelle Praxis ausgeübt und weiterentwickelt werden kann.- Wäre die Verwirklichung einer solchen Form der Kunstförderung nicht wahrlich förderungswürdig ?

Anmerkungen

* Den Begriff der Qualitätssicherung haben als künstlerische Strategie eingeführt Adi Hoesle/Georg Winter: Arbeitsgemeinschaft Retrograde Strategien. Augentrost und Kontamat. In: Borderline: Strategien und Taktiken für Kunst und soziale Prozesse. Wiesbaden 2002. S.135 ff

(0) Zum aktuellen Zusammenhang zwischen Diskurs und Macht siehe jüngst M.Siemons: In einer Unzeit. Unheimliche Begegnung mit der Macht: Was der Krieg bedroht. FAZ 4.1.2003: "Wo die Macht beginnt, hört die Freude am Diskutieren auf. Es genügt, zu wissen, daß eine Macht, von der auf eine gar nicht so ferne Weise die eigene Gesellschaft, mit allem, was einem lieb und teuer ist, abhängt, diesen Krieg will und Abweichungen keineswegs als "Meinungsverschiedenheiten unter Freunden" toleriert, um alle diskursive Abwägungen als akademisches, letztlich also nichtiges Geschwätz abzutun. Als etwas also, das allenfalls in ausdifferenzierten Sondersphären wie Moral, Kirche oder Feuilleton seine Berechtigung hat, nicht aber auf jener Ebene, auf der es um das tatsächliche Handeln geht. Also verzichtet man darauf, naiv zu sein und schweigt lieber.

Die Macht, die mit der neuen Sicherheitsdoktrin Amerikas erscheint, ist keineswegs das schlechthin Andere, das die freiheits- und friedensliebende Diskursgesellschaft nur noch aus vollem Herzen bekämpfen müßte. Sie bildet einen blinden Fleck eben dieser Diskursgesellschaft selbst. Die Macht ist ihr verborgener Kern, den sie erst verstehen und akzeptieren muß, bevor sie zu einer Kritik ihrer Politik gelangen kann.

(1)Einen aufschlussreichen und überaus typischen Einblick in Jurierungsverfahren bietet Max Goldt: Wollen wir nicht wenigstens warten, bis einer zu singen anfängt. Das Senatsrockwettbewerbsjurywochenende 1988. In Max Goldt: Aschenbechergymnastik. Zürich 2000. S. 350 ff

Wie amüsant die humoristische Verarbeitung des Jurierungsdilemmas auch zu lesen ist, so funktioniert das Ganze doch letztendlich nach dem üblichen Schema von TV-Unterhaltungsshows mit Publikumsbeteiligung: Man amüsiert sich auf Kosten der Deppen, die freiwillig bei solch einer Veranstaltung mitmachen.

Weniger amüsant, aber ähnlich aufschlussreich diagnostizieren beispielsweise auch folgende Texte die traurige Verfassung des Jury(un)wesens:

H. Spiegel: Die Jury. Das Schnellgericht tagt. Wie Literaturpreise vergeben werden. FAZ 4.6.1997

H. M. Enzensberger: Preissturz: Tücken der Ehrungen. FAZ 8.6.1999

D. Baer- Bogenschütz: In eigener Sache. Nebenberuf Jurorin. Kunstzeitung Nr.70/2002 . Es wird hingeschaut, allerdings manchmal bloß für Sekunden. Erfahrene Kunstbetrachter unterscheiden blitzschnell zwischen Kunst, Klamauk und Könnerschaft, der der letzte Kick fehlt. Erst dann kommt das Plädoyer. Jetzt- bei der Diskussion mit den Kollegen- zeigt sich, wer sein Handwerk beherrscht und mit rhetorischen Volten dasjenige Pferd zum Ziel führt, auf das er frühzeitig gesetzt hat. Merke: einen Preisrichter näher zu kennen schadet dem Künstler kaum.

K. Askan: Die Radfahrer. 16 Autoren, 7 Juroren und 100 000 Fernsehzuschauer- am 30. Juni wird der Ingeborg- Bachmann- Preis in Klagenfurt vergeben. Die Schriftstellerin Katrin Askan war im vergangenen Jahr bei dem Wettbewerb dabei und beschreibt, was die Kameras nicht zeigen.KulturSPIEGEL 7/2002 Entropie. Klagenfurter Jury vor der Auflösung. FAZ 20.9.2002 (rik)

(2) Was an dem Text von Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark (u.a. ZEIT Nr. 38/1999) eine derart aufgeregte Debatte ausgelöst hat, die aber etwa im Hinblick auf die Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes folgenlos blieb, war die Thematisierung des Selektionsproblems. Wäre nicht der Kulturbereich das geeignete Spielfeld, um Regeln für Selektionsprozesse wahrhaftiger zu diskutieren und exemplarisch zu modellieren?

(3) Wer Konkurrenz um jeden Preis predigt, und sozialdarwinistisch the survival of the fittest propagiert, mag sich an die biologische Binsenweisheit erinnern, dass die an ihre Umwelt am besten angepassten Lebewesen im Konkurrenzkampf zwar die größte Überlebenschance haben. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass gerade solche Menschen besonders kreativ sind, dürfte allerdings äußerst gering sein.

(4) W. Grasskamp: Feigenblätter für die Denkfaulheit der Politiker. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.9.1998

(5) Es ist dann nur konsequent, die Betriebswirtschaftslehre zur Königsdisziplin zu erheben und die gesamten Geschicke nicht mehr nur der Politik, sondern auch von Wissenschaft und Kunst gleich durch die Männer der Wirtschaft als letzten Universalgenies bestimmen zu lassen, indem ihnen die entsprechenden Beratungs,-Aufsichts- und Entscheidungsfunktionen übertragen werden. Das neue Hamburger Hochschulgesetz, das für den Hochschulsenat nur externe Mitglieder entsprechender Provenienz vorsieht, ist hier wegweisend. Der Vorschlag, umgekehrt etwa Kunstprofessoren in den Vorstand oder Aufsichtsrat eines

Unternehmens etwa zur Erhöhung des gern beschworenen kreativen Potentials zu berufen, würde von der Wirtschaft empört als absurd zurückgewiesen.

(6) B. Groys: Das Werk ist Aussage. Die Rettung der Kunst liegt im Diskurs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.8.2002. Groys bezieht sich dabei auf Artikel von E. Beaucamp zur Förderpolitik der Bundeskulturstiftung in der FAZ vom 22. und 23.7.2002

(7) B.Groys, a.a.O.

(8) Selbst in der doch eher linientreuen Kunstzeitung ist von Karlheinz Schmid unter dem Titel: Siegerlaune. Kunstpreise: Wer ehrt wen?, zu lesen: "Denn die, die ausgezeichnet werden, haben es eigentlich nicht mehr nötig. Sie spendieren also ihren Namen um kulturellen Glanz auf den Preisgeber zu lenken. Die anderen Künstler, die verzweifelt nach dem Mäzen suchen, werden dagegen sowieso nicht unterstützt, allenfalls mit etwas Geld aus der Portokasse bei Laune gehalten." (a.a.O.S.1)

(9) Ein Prototyp dafür ist etwa die Installation von Svetlana Heger, die bezeichnenderweise bei der Ausstellung art&economy, Deichtorhallen Hamburg 2002 zu sehen war. Vgl. den Ausstellungskatalog.

(10) Besteht im gespannten Verhältnis zum Demokratischen vielleicht eine heimliche Affinität zwischen Kunst und Wirtschaft? Ohnehin ist zu fragen, ob die neuerdings entdeckte Wahlverwandtschaft zwischen Kunst und Wirtschaft nicht eher die negativen Eigenschaften ihre Protagonisten betrifft: Etwa Egozentrik, Eitelkeit, Größenwahn, Irrationalität, Machtverliebtheit, Selbststilisierung, - Und: Welcher Arbeitgeber träumte nicht von einem derart flexibilisierten Verhältnis zu seinen Arbeitnehmern, wie es die GaleristInnen zu den meisten ihrer KünstlerInnen schon längst pflegen: Nicht nur eines der absoluten Vertragsfreiheit, sondern der Vertrags-(= Recht)losigkeit.

(11) H.Häuser: Mehr Demokratie wagen. In: Neue Richtervereinigung 71. Rundbrief vom Mai 2002, S. 49

(12) H.Häuser, a.a.O.

(13) Udo Di Fabio: Ein großes Wort. Verantwortung als Verfassungsprinzip. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.5.02. (Der Autor ist Richter am Bundesverfassungsgericht)

(14) Einen generell vergleichbaren Arbeitsansatz sehe ich verfolgt in den Aktivitäten der Kokerei Zollverein. Vgl. etwa M. Babias, F. Waldvogel: arbeitet, essen, angst. Essen 2001, aber vor allem auch von den selben Herausgebern: Campus 2002. Essen 2002.

(15) Im Hinblick auf das Projekt "das gelbe fass - timelag" der Gruppe "PLATEAU RADIOARTIVE" (Adi Hoesle, Michael Lingner, Wolfgang Ullrich), wo sich die Selektionsproblematik in ausserordentlicher Brisanz stellt, hat der Autor bereits ein mehrstufiges konkretes Auswahlverfahren konzipiert, (s.a. www.dasgelbefass-timelag.de)

Für die anregende und kritische Durchsicht der ersten Textfassung sei gedankt: Claudia Domröse, Hamburg/ Klaus Heid, Karlsruhe/ Adi Hoesle, Babenhausen/ Beate Katz, Darmstadt/ Sven Temper, Berlin/ Jan Timme, Hamburg


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