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Heinz Paetzold

Kunst als soziale Plastik

Strategien ästhetischen Handelns VIII: Joseph Beuys

In den kunstphilosophischen Diskursen unserer Tage spielt der Begriff der Konzeption eine wichtige Rolle (Paetzold in: Koppe 1991). Philosophen der verschiedensten Herkunft und Orientierung sowie Künstler von unterschiedlichster Richtung haben damit gearbeitet. Die Konzeption ist das, was all unserem Verstehen von Kunst Profil verleiht, ohne es vollständig zu determinieren. Andererseits geht in die Kunst selbst seit der klassischen Moderne eine konzeptionelle Reflexion, seitens der Künstler ein, was den kulturellen Sinn des Kunstschaffens, was grundlegende ästhetische Strategien, was die Werkformen und was das Verhältnis eines Werkentwurfes zur Geschichte der Kunst betrifft.

Im Lichte dieser theoretischen Vorgabe soll im folgenden das eruiert werden, was man die Konzeption von Joseph Beuys nennen könnte. Es handelt sich natürlich nur um einige, allerdings markante Aspekte des Oeuvres von Beuys (vgl. Paetzold 1990). In vielen Gesprächen und Vorträgen hat Beuys seine bildnerische Arbeit unter den Begriff der sozialen Plastik gebracht (vgl. etwa Harlan, Rappmann. Schata 1984). Was hat es damit auf sich?

Schon der frühe Beuys der fünfziger und der sechziger Jahre war in seinen Zeichnungen und Aquarellen dem dynamischen Bildungsprozeß der Natur auf der Spur. Er wollte den formenden Energien der Natur zum Ausdruck verhelfen. Die Natur sollte nicht nur in ihren verfertigten Gestalten, sondern gerade in ihrem plastischen Vermögen vor Augen kommen. Während neuzeitliche Künstler wie Leonardo da Vinci und Goethe oder moderne Künstler wie Paul Klee gewissermaßen noch in aller Unschuld der natura naturens, also der schaffenden Natur, zugewandt waren, ist die Haltung von Beuys durch einen sozialkritischen Impuls getragen. Ihm geht es darum. Bilder der Natur zu entwerfen, welche deren anderes Gesicht zeigen, d.h. das Andere gegenüber einer bloß auf das Meßbare, das Wägbare und das Zählbare reduzierten Ansicht. Während Goethe schon in Opposition stand zum Hauptstrom der mechanischen Auffassung der Natur, die in den neuzeitlichen Naturwissenschaften stilisiert und kodifiziert wurde, so dekliniert Beuys diese Opposition weiter durch, indem er seinen Kunstentwurf als einen sozialen Kampf gegen den naturwissenschaftlichen Szientismus projektiert. Die Naturwissenschaft verlängert sich nämlich in die Technik hinein und gewinnt dadurch eine vielfach ruinöse soziale und politische Macht.

Es wäre nun aber zweifellos zu kurz gegriffen, wollte man Beuys ausschließlich als einen Naturkünstler interpretieren. Plastische Kräfte walten nicht nur in der äußeren Natur, sondern auch in den Dingen unseres täglichen Lebens. Sie freizulegen in all ihren symbolischen Konnotationen, in ihren auch mythischen Substrukturen kann Aufgabe der Kunst sein. Den Dingen selbst wohnen Charaktere der metamophorischen Verwandlungen sowie der physiognomischen Gestalt inne. Sie sind keine bloßen Gegenstände, die sich einem distanzierten Subjekt darbieten, sondern sind gestalthafte Niederschläge, die aus einem untergründigen Kräftespiel resultieren. Beuys geht es freilich nicht lediglich um individuelle Gewahrwerdungen, sondern um soziale, um kollektive Bildgestalten. Eine Installation wie das «Rudel» von 1968, die 1979 im Guggenheim Museum in New York wiederholt wurde (Adriani, Konnertz. Thomas 1981, Tisdall 1979), will unser technisch determiniertes Bewußtsein verflüssigen, indem es mit alten mythischen Bildphantasien konfrontiert wird.

Die von Beuys mannigfach gebrauchten Materialien, wie Filz und Fett, eignen sich vorzüglich, plastische Werdeprozesse symbolisch zu veranschaulichen. Fett ist ein Wärmespeicher und Energieträger, der selbst unendlich formbar ist. Wir haben ihm gegenüber eine ambivalente affektive Haltung: Ekel und untergründige Faszination mischen sich. Es wäre aber wiederum verkürzt, Beuys lediglich als einen Materialkünstler zu sehen. Der Gebrauch von bestimmten Materialien unterliegt dem ideativen Ziel, universale plastische Gestaltungsprozesse paradigmatisch zu veranschaulichen. Die Provokation der Beuysschen Kunstkonzeption tritt erst dann ganz in den Blick, wenn man sich klarmacht, daß die Intuition des Plastischen sich nicht allein auf die äußere Natur und auf die Dinge des Alltags erstreckt, sondern auch auf die soziale Lebenswelt der Menschen. Der Akzent liegt auf dem Sozialen. Implizit ist das Soziale natürlich schon bei allem artistischen Schaffen im Spiel. Die Kunst greift so oder so ein in unser kollektives Bildbewußtsein.

Im Falle von Beuys kommt ein explizit sozialer Aktivismus hinzu. Als ein Erbe von Dada und Fluxus arbeitet Beuys häufig mit der Form der performativen Aktion. Die gewandelte Stellung des Menschen der äußeren Natur gegenüber soll sich auch in einem neuen sozialen Verhalten niederschlagen. Die Kunst bearbeitet auch die von den Menschen geschaffene, die «zweite Natur», wie seit Hegel und Marx die Gesellschaft genannt wird. Der Sinn von einer Aktion, wie «I like America and America likes Me», die 1974 in New York stattfand, und bei der Beuys drei Tage mit einem Kojoten in der Galerie René Block zusammen in einem Käfig verbrachte, besteht darin, in verdinglichte soziale Bewußtseinsstrukturen real verändernd einzugreifen. Der Kojote symbolisiert die imperial überwältigte äußere Natur des amerikanischen Kontinents und die imperial besiegte Kultur der Indianer. Indem Beuys vorführt, daß es möglich ist, daß Mensch und Tier friedlich miteinander leben, kommt es dazu, daß die Utopie einer Versöhnung von Menschenwelt und Tierwelt, von Natur und Kultur aufscheint (Adriarti, Konnertz, Thomas 1981).

Dada und Fluxus griffen letztlich zu kurz, sofern sie lediglich ein verhärtetes Bewußtsein kritisch destruierten und zersetzten. Da wir heute faktisch keinen affirmativen Halt mehr in den kulturellen Institutionen finden, sondern diese uns eher zum Problem geworden sind, muß in künstlerischen Aktionen neben der Kritik zugleich auch die Utopie des Anderssein aufscheinen.

Die Konzeption von Kunst als einer sozialen Plastik basiert auf der Einsicht, daß die bestehenden kulturellen Institutionen nicht umzufunktionieren sind, wie Brecht das noch wollte. Es müssen vielmehr auch neue Institutionen geschaffen werden. Beuys wollte diesem Postulat gerecht werden durch die Anregung zur Schaffung der FIU (Free International University) ab 1971. Aufgabe der FIU sollte es sein, soziale Projekte zu erarbeiten, wodurch die Gesellschaft im ganzen reformiert würde. Das Zusammenspiel von Wirtschaft und Kunst sollte auf eine neue basisdemokratische und ökologisch verantwortete Grundlage gestellt werden. Die leitende Annahme ist dabei, daß die menschliche Natur selbst nicht feststeht, sondern unendlich wandelbar ist. Mit dem Konzept der EVI von 1979, d.h. der Einheit in der Vielfalt, waren Beuys in der Formierungphase der Partei der Grünen auch tatsächlich politische Erfolge beschieden, nachdem ein früherer Vorstoß (1967) zur Gründung einer Studentenpartei als einer Meta-Partei verpufft war. Am Ende seines Lebens war Beuys zwar nicht resigniert, aber doch deutlich in Distanz getreten zur Partei der Grünen, die 1982 seinen Wunsch auf ein Bundestagsmandat abgewiesen hatte.

Die Wurzeln der Konzeption der sozialen Plastik liegen weder in der romantischen Konzeption des Gesamtkunstwerks noch in der klassischen Avantgardethematik. Von der Romantik differiert die Konzeption der sozialen Plastik vermöge ihres politischen Impulses. Von der klassischen Avantgarde hebt sich die soziale Plastik ab, weil das Vertrauen in ein revolutionäres Proletariat sich empirisch als obsolet erwiesen hat. Die Idee einer sozialen Plastik gründet vorab neben künstlerischen Qualitäten und Innovationen in der sozialen und politischen Glaubwürdigkeit des Individuums Joseph Beuys. Lockere politische Anschlüsse ergeben sich zu reformistischen sozialen Bewegungen, den ökologischen und pazifistischen vor allem. Bildnerische Aktivität, soziales Engagement sowie politische Aktion müssen nahtlos ineinander greifen.

Zweifellos ist es den Nachfolgern und ehemaligen Schülern von Beuys geglückt, das Projekt der 7000 Eichen in Kassel, das 1987 erfolgreich abgeschlossen wurde (Beuys; Blume; Rappmann 1987), zu verlängern und mit der Aufhebung der deutsch-deutschen Grenze zu verknüpfen. Das Kasseler Projekt sah die Pflanzung von 7000 Eichen allein in der Stadt Kassel vor und nutzte die documenta als Institution. Das «Baumkreuz» (Dahn 1991) ist eine Skulptur, die sich aus kreuzförmig gepflanzten 140 Eschen und Linden zusammensetzt sowie einem Stück des früheren «Eisernen Vorhanges» am ehemaligen Grenzübergang Ifta/Rittershausen. Das «Baumkreuz» wurde am 17.11.1990 realisiert und soll der Auftakt sein für die Pflanzung einer Allee zwischen Kassel und Erfurt. An die deutsche Spaltung erinnernd, soll das Baumkreuz, an dem Künstler wie Johannes Stüttgen. Johann Heinrichs, Walter Dahn. Felix Droese, Enno Schmidt, M. Elena Granda Alonso, aber auch Juristen wie Jürgen Binder, der Landschaftplaner Norbert Scholz, der Mitarbeiter der FIU Kassel Dieter Neubert sowie der Pfarrer Ralf-Uwe Beck mitgewirkt haben, zugleich der Auftakt eines ökologischen und ökonomischen Neuanfanges der Region sein.

Zum Schluß stellt sich freilich die Frage, ob die Konzeption der Kunst als einer sozialen Plastik letztlich nicht doch auf die Person Joseph Beuys' zugeschnitten war. Wenigstens verkörperte er als Individuum, was bei seinen Nachfolgern wieder in die Facetten der Belebung des Mythischen (Anselm Kiefer), des politischen Künstlertums (Jörg Immendorff). des Feministischen (Ulrike Rosenbach), des ideativen Organisators (Johannes Stüttgen), des Kunsterneuerers (Felix Droese. Blinky Palermo) auseinander getreten ist. Das muß nicht unbedingt als ein Zeichen des Scheitern gelesen werden. Steht doch die Moderne unter dem Gebot der bereichsspezifischen Ausdifferenzierung der sozialen Lebenswelt. Die Integration verschiedener sozialer Bereiche kann immer nur ein prekäres und seltenes Ereignis sein.

Literatur

Adriani,C.; Konnertz. W.: Thomas, K.: Joseph Beuys. Leben und Werk. Köln 1981.

Beuys, J.; Blume.B.: Rappmann, R.: Zwei Gespräche über Bäume. Argenthal 1987.

Dahn, W. (Hrsg.): Baumkreuz. Köln 1991.

Harlan, V.; Rappmann, R.: Schata, P.: Soziale Plastik. Materialien zu Jopseph Beuys. Achberg 1984.

Paetzold, J. H.: Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptionellen Kunst der Gegenwart. Stuttgart 1990.

Paetzold. H.: Die beiden Paradigmen der Begründung philosophischer Ästhetik. Kunstkonzeption und Urbanität. In: Koppe. F.(Hrsg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Frankfurt/M. 1991.

Tisdall, C: Joseph Beuys. New York 1979.


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