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Michael Lingner

Bilder als Naturgeschehen

Erfahrungsformen von Natur X: Josef Schwaiger

Mit diesem Beitrag endet die in Heft 191 begonnene Reihe: «Erfahrungsformen von Natur». Zugleich verabschiede ich mich damit von der 1991 begonnenen Betreuung von «Kunst aktuell» und danke den Autoren für ihre Mitarbeit. Ein Panorama zeitgenössischer Kunst ist in den vier Reihen «Strategien ästhetischen Handelns» (K+ U 152-160), «Konturen des Menschenbildes» (K+ U 161-174), «Konzepte künstlerischer Schriftlichkeit» (K+U 175-189) und «Erfahrungsformen von Natur» vorgestellt worden. Das Konzept, unter jeweils einem durchgängigen Themen- und Problemaspekt über die zeitgenössische Kunstentwicklung kontinuierlich und systematisierend zu orientieren, hat sich mit der inzwischen unregelmäßigen Erscheinungsfolge von «Kunst aktuell» leider als unvereinbar erwiesen.

Hervorbringungen von heutigen Künstlern sind dann als Kunst erfahr- und verstehbar, wenn sie auch als Ausformungen, Untersuchungen oder Kommentare zu einer spezifisch künstlerischen Problematik betrachtet werden. Wenn sie nicht primär unter lebensweltlich interessanten, also beispielsweise politischen, psychologischen oder ökologischen Aspekten angeschaut werden, kann das Kunsthafte an ihnen zum Vorschein kommen. Dass die Kunst sich am besten aus ihrer Selbstbezüglichkeit produzieren und verstehen lässt, bedeutet jedoch keineswegs ihre völlige Hermetik. Wie jedes Verhältnis zu etwas anderem, hängt auch das zeitgenössische Verhältnis der Kunst zur Natur, für das die Arbeit des jungen österreichischen Künstlers Josef Schwaiger (* 1962) ein avanciertes Beispiel ist, hängt somit von ihrem Selbstverhältnis ab, das etwa in der historischen Positionierung eines Werkes bestehen kann. Aus welchem Bezug zur Tradition der Kunst sich bei J. Schwaiger ihr gegenwärtiger Naturbezug entwickelt, wird aus dem folgenden summarischen kunstgeschichtlichen Rückblick deutlich.

Kunst ohne Künstler

Es ist aufschlußreich und stimmt mit den Intentionen der Künstler überein, die Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst als einen Prozeß zunehmender Autonomisierung zu begreifen. Um der Eigengesetzlichkeit des Werkes willen wurden alle außerkünstlerischen, allgemein gesellschaftlichen Einflüsse auf die kunstpraktischen Entscheidungen zunehmend differenzierter reflektiert und vor allem weitestgehend reduziert. Zunächst latent, doch schon bald evident und bewußt ist die Autonomisierung schließlich so weit getrieben worden, daß die Entstehung des Werkes sogar vom Künstler Unabhängigkeit erlangt hat.

Es gibt eine Fülle expliziter Überlegungen von Künstlern der Moderne, in denen sie ihren Anspruch relativieren oder sogar negieren, alleinige und eigentliche Schöpfer des Werkes zu sein. Was gemeint war, wenn etwa vom «Eigenleben der Farbe», von «Funktionalität» oder «Materialgerechtheit» die Rede war, hat Kandinsky auf den Punkt gebracht: «Nicht der Künstler, sondern sein Instrument und sein Material sollen das Bild bestimmen». (Hahl-Koch 1989, S. 419) Noch radikaler ist der Verzicht auf die künstlerische Formung des Werkes, wenn Duchamp mit seinen «ready-mades» die Organisation bzw. Breton die Stimulation des Zufalls durch den «reinen psychischen Automatismus» zu künstlerischen Produktionsprinzipien erheben. Diese surrealistische, ursprünglich in der Literatur entwickelte Methode hat einen adäquaten malerischen Ausdruck allerdings erst in den informellen Bildern der 50er Jahre gefunden.

Während das Informel aus dem Unbewußten das zu schöpfen suchte, entdeckte die Kunst der 60er Jahre die Möglichkeit, künstlerische Gestaltungsentscheidungen der Natürlichkeit von Materialprozessen zu überlassen. Auf dieses Prinzip der Preisgabe künstlerischer Autorschaft, das seinerzeit vor allem den skulpturalen Bereich befruchtete, greift inzwischen die Malerei gern zurück. Ein prominentes Beispiel dafür ist Sigmar Polke, der für die Bilder seiner 1986 geschaffenen Biennale-Installation «Athanor» neben mehr oder minder herkömmlichen malerischen Mitteln auch diverse chemische Stoffe verwendet (s. Szeemann 1984). Anstelle des Künstlers bestimmen nun deren natürliche Reaktionsweisen die Entstehung des Bildes. «Was die Farben als Protagonisten auf der Leinwand fabrizieren, entzieht sich der Kontrolle des Künstlers» (Dickel 1991), so daß das Bild letztlich Ergebnis eines eigendynamischen Prozesses ist. Zu Polkes Installation in Venedig gehört auch eine Wandmalerei, die sich infolge der hygroskopischen Eigenschaften des verwendeten Kobaltchlorids unter dem Einfluß der Luftfeuchtigkeit farblich verändert. Daß natürliche Prozesse nicht nur beim Entstehungsprozeß, sondern auch für die fertigen Bilder bestimmend sind, ist - wenn auch zuvor selten technisch raffinierter ins Werk gesetzt -, im Prinzip keine Erfindung Polkes. Zwar ist seinem Wandbild eigen, daß es etwa im Rhythmus der klimatisch unterschiedlichen Tageszeiten tatsächlich ein anderes Aussehen annehmen kann. Aber daß die Bilder in Abhängigkeit von äußeren Umständen überhaupt ihre Erscheinung wechseln, ist auch schon für die monochrome Malerei eines Yves Klein bestimmend, zu der Polkes Bilder eine quasi kinetische Variante sind.

Selbstorganisation als Naturprinzip

Bei beiden Beispielen vollziehen sich die auf Naturprozessen basierenden und unabhängig von künstlerischen Entscheidungen ablaufenden Bildveränderungen auch ganz ohne Beteiligung des Betrachters. Daß er ausgeschlossen bleibt, diesen bisherigen Entwicklungsstand der Malerei, vermag Josef Schwaiger mit bestimmten Arbeiten zu überwinden, auch wenn sie stilistisch, d.h. mit einem Vorurteil betrachtet, sich zunächst kaum von anderen informell / monochrom inspirierten Bildern zu unterscheiden scheinen. Aber während die bisherige Malerei und auch die Prozeßkunst letztlich noch auf ein fertiges, in sich abgeschlossenes und material fixiertes Ergebnis zielen, ist in den Bildern von J. Schwaiger überhaupt kein endgültiger Werkzustand mehr angelegt.

Durch die Einbeziehung der Rezeption ins künstlerische Kalkül potenzieren sich die zuvor durch das Material objektiv begrenzten, also vorhersehbaren Erscheinungsweisen der Werke ins potentiell Unendliche. Die Rezeption wird zu einem derart gravierenden Faktor, daß die Bilder nicht mehr nur vom Künstler, sondern tendenziell sogar von sich selbst, von ihrem material fixierten Zustand, unabhängig werden. Insbesondere durch die Malweise und die dabei verwendeten metallischen, lichtreflektierenden Farben entsteht der Eindruck, als ob die Bilder sich und ihre Wahrnehmung ständig neu organisieren. Es zeigt sich nicht nur jeweils ein Bild, sondern das einzelne Bild verschwindet unmerklich im kontinuierlichen Übergang zu anderen möglichen Bildern. Dabei erfährt der andauernde Bildwechsel, an dem jede fotografische Reproduktion scheitert, bereits durch minimale Veränderungen der Rezeptionsbedingungen eine rapide Beschleunigung.

Indem sie sich bei der Betrachtung in vielfältiger Weise selbst reproduzieren, bekommen die Bilder eine gleichsam organische Qualität. Von den unablässig entstehenden verschiedenen Werkzuständen, ist kein einzelner besonders oder gar ausschließlich gemeint. Ganz im Gegenteil ist ihre völlige künstlerische Gleichwertigkeit intendiert und provoziert so die Bildung und Reflexion unserer eigenen ästhetischen Vorlieben. Darüber hinaus ist den sich fortwährend selbstorganisierenden Bildern in ihrer Labilität, die keine festen Formen und Qualitätskriterien zuläßt, ein medialer Charakter eigen.

In Schwaigers besten Bildern werden wir des Mediums Licht gewahr, das uns normalerweise hinter den Dingen verborgen bleibt, obwohl sie darin als solche erst wahrnehmbar sind. Aufgrund ihrer medialen und systemischen Verfassung lassen sich die Bilder wie ein Naturgeschehen beobachten, das durch physikalische Parameter letztlich determiniert, aber nicht vorhersagbar ist. Es wird hier eine «malerische Meteorologie» (Gugg 1991) betrieben, bei der Natur - im Sinne des Ideals romantischer Landschaftsmalerei - unmittelbar in die Natur des Bildes eingeht und in eine paradoxe Rolle gerät: «Obwohl die Natur nicht malt, malt sie doch.» (Schwaiger 1989)

Literatur:

H. Dickel: Über Natur und Kunst in Sigmar Polkes «Athanor». Kritische Berichte 4-1991

A. Gugg: Jenseits gesicherten Bodens. In: Ausstellungskatalog J. Schwaiger. Linz 1991

W. Kandinsky zit. nach J. Hahl-Koch: Die erste sowjetische Retrospektive, in: Kunstchronik Heft 8-89, S.419

J. Schwaiger in: Leporello zur Ausstellung «Kapitel 5», Salzburg 1989 H. Szeemann: Halonen am Firmament der Bilder. Ausstellungskatalog Sigmar Polke, Zürich 1984


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